Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Dreißigstes Kapitel

Der Gegensatz zwischen dem Erntetreiben des Gutshofs und dem, was mich zu Hause erwartete, war diesmal besonders groß. Carl brachte zum erstenmal Sommerferien in Salzbrunn zu und hatte davon noch eine Frist von zwei Wochen. Auch er, sowie meine Eltern und Geschwister, ja eigentlich alle, die mich umgaben, gehörten zu denen, die mir ihr Schicksal vorlebten. Ja, gerade er hat während einer langen Lebenszeit in dieser Hinsicht meine Aufmerksamkeit fast am meisten gefesselt.

Schon seine Krankheit beanspruchte meine Teilnahme. Nun war er mir nach Breslau vorangegangen und, wie ich erkennen mußte, als ein anderer zurückgekehrt. Der Abstand zwischen ihm und mir war größer geworden. Ich liebte noch immer abgenützte Kleider, mit denen ich mich in Ställen, Kutscherstuben, in Regen und Wind herumtreiben, in Gräben liegen und auf Bäume klettern konnte. Er hatte sich dem großstädtischen Leben angepaßt, trug Kragen und Schlips sowie wohlgebürstete Anzüge: er konnte mit jedem Kurgast wetteifern.

So hatte er denn auch mit dem Sohn eines Bremer Handelsherrn, einem vierzehnjährigen jungen Menschen, Paul Mestern, Freundschaft geschlossen. Und diese beiden, Carl und Paul, wurden fast immer mit einem schönen, ebenfalls bremensischen Kinde von zwölf Jahren, namens Anna Hausmann, zusammen gesehen. Auch für mich war Annas Erscheinung märchenhaft. Fast ein Jahrzehnt hat ihr bloßes Bild, das unser Familienalbum schmückt, eine verwirrende Macht über mich ausgeübt. Aber das immer entzückend gekleidete Geschöpf mit dem offenen, bis über den Gürtel wallenden goldenen Haar machte mich gleichsam in Ehrfurcht verstummen, wo ich seiner ansichtig wurde, und was mich leidenschaftlich anzog, ließ mich in Wahrheit scheu zurückweichen. Diesem Engel gegenüber empfand ich mich selbst als häßlichen, schmutzigen Paria und war gewiß, daß ich von ihm nur mit Abscheu betrachtet wurde.

Ich führe den erbärmlichen Zustand meines Gemütes auf die bekannte Spaltung meines Wesens zurück. Ich steckte wohl tiefer als je im Proletariertum, an das ich mich nochmals krampfhaft geklammert hatte. War es, weil ich in ihm den Bereich meiner freien, seligen Kindheit sah, den ich nun bald mit einem mir unbekannten vertauschen sollte? Und betonte ich etwa aus bitterem Trotz meinen Gassen- und Gossenjargon? Ganz gewiß ist etwas daran. Aber ob ich nun auch alles etwa Kommende von mir wies, alles Geleckte, Gedrillte, Gutbürgerliche zu verachten mir den Anschein gab, ward ich doch allbereits auch von ihm angezogen und betrachtete den darin gänzlich aufgenommenen Carl mit Neid. Mich durchwühlte damals, möchte ich glauben, zum ersten Male das echtblütige proletarische Ressentiment, das mich erniedrigte und in quälende Wut gegen das Bürgertum versetzte, von dem es mir schien, es stoße mich aus, indem ich vergaß, daß ich ihm angehörte.

 

Paul Mestern und mein Bruder Carl hatten mit der kleinen Anna Hausmann einen stilgerechten Flirt. Der Übermut, mit dem sie beide um die bezaubernde Kleine warben, machte unter den Kurgästen heiteres Aufsehen. Ich erinnere mich des Befremdens und des Staunens, das mich beschlich, als die beiden Freunde, Anna Arm in Arm zwischen sich, ungeniert heiter und ohne Eifersucht den Kronenberg zur Terrasse emporschritten.

Dort aber, auf der Terrasse, stand ein glänzendes Publikum. Sommerlich gekleidete hübsche Frauen mit farbigen Schirmchen, die sich um einen exotischen Herrn im Tropenhelm gruppierten. Man hatte viele kleine gesattelte Esel vor die Terrasse geführt, und die Herrschaften gingen daran, sie zu besteigen. Geplant war ein übermütiger Ritt wie üblich nach Wilhelmshöh oder der Schweizerei. Dies alles schob man nun für Minuten auf, als Anna zwischen den beiden hübschen Jungens erschien, um diesen und Anna lustig zu gratulieren.

»Sie fangen früh an«, hatte der Herr mit dem Tropenhelm zu den Damen gesagt, »sie fangen gut an und werden es weit bringen.«

Nicht nur die Erscheinung Anna Hausmanns, sondern auch dieser Weltreisende mit dem Emin-Pascha-Bart nährte mein Minderwertigkeitsgefühl. Aber was ich von ihm wußte und in ihn hineinsah, ohne daß er auch nur ein Wort mit mir gesprochen hätte, beschäftigte meine Phantasie und erweiterte meine Vorstellungswelt.

Noch in ganz anderer Weise als den jungen Baron von Liebig umwitterte ihn die Aura der Weltweiten. Man hörte ihn etwa im Vorübergehen vom Fujijama, dem Feuerberg Japans, reden oder von den weißen Elefanten Indiens oder von der neu eröffneten Pazifikbahn, auf der man eine Woche lang Tag und Nacht von New York bis San Franzisko fuhr, auch wohl mitten durch brennende Wälder. Oder er malte lachend seiner Umgebung die Annehmlichkeit eines Taifuns, eines Wirbelsturmes, aus, den er im Stillen Ozean miterlebt hatte. Gelegentlich sprach er vom Suezkanal, dessen Erbauer, Lesseps, er persönlich kannte und mit dem er, wenn er die Wahrheit sprach, als einer der ersten vor wenigen Jahren gemeinsam von Port Said bis Suez gefahren war.

Nicht auf direktem Wege konnte ich an all diesen Ereignissen teilnehmen. Da der Erzähler, der übrigens Drucker hieß, wochenlang ganz Ober-Salzbrunn in Atem hielt, wurden einem seine Erlebnisse und Abenteuer von allen Seiten nahegebracht, auch in vielerlei Übertreibungen. Mein Vater, der sich einigermaßen in den Bremer Globetrotter verliebt hatte, zog sogar seine Reiserouten mit uns auf der Karte nach. Ich müßte lange erzählen, wenn ich auch nur einen Teil der neuen Begriffe und Vorstellungen mitteilen wollte, die ich mir damals zu eigen machte. Solche wie Harakiri und Opiumhöllen waren darunter, auch Hinrichtungen mit dem Schwert, die zu Hongkong auf einem kleinen, entlegenen Stadtplatz vom Scharfrichter jederzeit gegen klingende Münze arrangiert wurden.

 

Vielleicht waren die Jahre, die ich allein noch im Elternhause zubrachte, nicht allzu gut angewandt. Es war in mir etwas Abwartendes, das sich nicht selten mit dem Gefühl einer Stockung verband. Meine Schulkenntnisse wurden in dieser Zeit nicht vermehrt, und so hätte ich ebensogut in die Sexta der Realschule eintreten können wie zwei Jahre später. Meine Wildheit wurde in diesen Jahren mehr als sonst durch Perioden stillen Sinnens und Betrachtens abgelöst. Die Lateinstunden wurden fortgesetzt, außerdem erbat ich mir die Erlaubnis, im Schulzimmer, das nur halb gefüllt war, wenn Brendel die Kleinsten unterrichtete, meiner Privatlektüre obliegen zu dürfen. Ich verfiel darauf während der Sommerzeit, weil der Gasthofbetrieb mir zum Lesen und Grübeln kein Plätzchen einräumte.

Es müssen mir damals allerlei märchenhafte Rittergeschichten in die Hände gefallen sein, in deren Vorstellungswelt ich unterging. Zauberer, junge Königssöhne, Prinzessinnen auf milchweißen Rossen, ein Magnetberg, ein Glasberg mit einem verzauberten, von Gold, Silber und Juwelen starrenden Schloß sind darin vorgekommen. Ich weiß noch heut von einem Garten, in dem die köstlichen musikalischen Wunder der Natur gesammelt wurden, darunter ein Trompetenbaum und ein Harfenbaum, die dem König, der sie besaß, begleitet von Kehlen himmlischer Vögel, auf überirdische Weise Musik machten.

Es lag zum erstenmal etwas von Weltflucht in den Stunden, die ich im Schutze des Schulzimmers lesend zubrachte, unbeteiligt an Lehrer Brendels Kleinkinderunterricht. Ich bedauerte, wenn ich die Schule verlassen und erträumte Himmel mit der immerhin lärmenden Wahrheit eines Ober-Salzbrunner Sommernachmittags vertauschen mußte.

Was eigentlich die Flegeljahre sind, weiß ich nicht, auch nicht, inwieweit ich in Flegeljahre hineingeriet. Jedenfalls war ich in der Zeit, als von den Geschwistern niemand als ich zu Hause war, mehr als früher unkontrolliert und mir selbst überlassen. Die Erinnerung an etwas Unbefriedigend-Zielloses ist mir aus jenen Tagen zurückgeblieben. Es war eine Leere da, die halb bewußt wieder und wieder empfunden wurde. Ich sei nicht schwer zu behandeln gewesen, hat mir meine Mutter gesagt; vielleicht kannte sie nicht meine wahre Natur, nicht meine disharmonischen Zustände, weil sie sich ihr gegenüber nicht auswirkten. Ein Geltungsbedürfnis, verbunden mit lebhafter Phantasie, muß mir damals Streiche gespielt haben. Ich ergab mich der Aufschneiderei.

Von seinem Großvater, Weber und gelegentlich Hirschberger Stadtmusikant, war eine brave Tiroler Geige an meinen Vater gekommen. Bei einem winterlichen Einbruch durch die Glastüren des Großen Saals, wo sie im messingbeschlagenen Kasten auf dem Flügel gestanden hatte, war sie, wie schon erzählt, gestohlen worden. Ich machte sie Alfred Linke, Rudolf Beier und andern Bürgersöhnen gegenüber zum Stradivarius, angeregt durch jenes Instrument, das Doktor Oliviero gekauft hatte.

Diesen Geigendiebstahl im Sinne des Mythos auszustatten, gehörte vielleicht in das Gebiet erlaubter Phantasie, nicht aber, wenn ich später behauptete, daß meine eigene Geige als echter Stradivarius anzusprechen sei. Einmal wurde ich fast offiziell von einem Kreise meiner Gespielen deshalb zur Rede gestellt, und ich glaube, mich, in die Enge getrieben, nicht sehr gut verteidigt zu haben. Den Lügner mied man hernach einige Zeit.

Halte ich aus den beiden ersten Jahren meines zweiten Jahrzehnts etwa noch eine Nachlese, so kämen bei aller Krisenhaftigkeit mancherlei lehrreiche Hinweise und Erweiterungen des Gesichtsfeldes in Betracht, die vom Kreise des Doktors Straehler ausgingen. Es waren, glaube ich, diese ersten Jahre, in denen er mit einer Gruppe von Patienten den Winter in San Remo zubrachte, ein Unternehmen, an dem meine eigene Familie durch Briefe und Berichte beteiligt wurde. Der ewige Frühling, die Palmen und Blumen der Riviera, wovon ich damals zuerst erfuhr, mögen wohl jene unüberwindliche Sehnsucht geweckt haben, die mich seitdem nicht mehr verlassen hat.

Im Kometen, dem Straehlerschen Hause, stand man übrigens damals mit einem Fuß in Amerika. Ein Verwandter der Tante Straehler war nach jahrzehntelangem vergeblichem Ringen enttäuscht aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt und irgendwie im Kometen untergekommen. Seine Schilderungen des amerikanischen Lebens, die auch zu mir drangen, waren von belehrender Bitterkeit.

Wenn ich nun noch einer Bühne Erwähnung tue, die man winters im Kleinen Saal zusammengezimmert hatte, und daß ich mir auf ihr allerlei in der Stille zu schaffen machte mit Mimik, Bewegung und Deklamation, Vorhangaufziehen, Vorhangherablassen, so ist wohl das Bild meines zwecklosen Treibens vollständig.

 

Während der letzten Wochen vor Ostern wurde diesem Zustand der Garaus gemacht. Mit dem bestandenen Abitur war Bruder Georg nach Hause gekommen. Er betrug sich wie ein Mensch, der einen langen, mühsamen Aufstieg von Stufe zu Stufe mit einer immer schwerer werdenden Last auf dem Buckel endlich, endlich hinter sich hat. Der Gipfel des Berges war erreicht und zugleich auch die Last vom Rücken geworfen. Ich begriff seinen Zustand ganz und durchaus und im Vergleich damit auf tief verbitternde, tief entmutigende Art den völlig entgegengesetzten meinen. Dem heiter Erlösten, ans schwer errungene Ziel Gelangten stand ich als einer gegenüber, der um die unterste Stufe der unendlich langen, unendlich steilen Treppe rang.

Die ins Auge fallende Gegensätzlichkeit unsrer Lage brachte mich der Verzweiflung nahe und entpreßte mir wieder und wieder Tränen. Und als nun, da die Aufnahme in die Breslauer Lehranstalt mit einem Examen verbunden war, die verlangten Kenntnisse Hals über Kopf noch im letzten Augenblick in mich hineingepumpt werden sollten, was man dem Mulus Georg übertrug, trieb man mich in eine Verfassung hinein, an die ich nur mit Schaudern zurückdenke.

Gegen diesen Übergangszustand gehalten, war es eine Erlösung, als ich mich bald darauf an der Seite meines Vaters in Breslau befand. Wie schon das erste Mal auf der gleichen Reise und ebenso in Warmbrunn und Teplitz entpuppte sich auch diesmal der Freund aus einer Respektsperson. Die ruhige und vertrauliche Art, mit der er über die kommenden Dinge sprach, linderte die Verwirrung, in der ich war, und das Neue, das sich überall meinen Sinnen bot, tat das Seine, um mich zu beruhigen.

 

Der Tag des Examens kam heran. Mein Vater begleitete mich bis ans Portal der Realschule, durch das ich dann, von ihm allein gelassen, mit einem Strome andrer Knaben in das drohende Innere drang. Aber obgleich ich während der Bahnfahrt innig gewünscht hatte, mein Vater möge mich wieder mit heimnehmen, zitterte ich nunmehr bereits davor, die Aufnahmeprüfung nicht zu bestehen. Diese Wandlung war unbemerkt eingetreten, als mich, gehoben durch das Gewimmel der Knabenschar, die dem gleichen Ziele zustrebte, eine Empfindung meiner Wichtigkeit durchdrang und ein Stolz, der sich in Schmach des Minderwertigen, des Ausgestoßenen verwandeln mußte, wenn ich aus dem Schulhaus und aus der Kameradschaft dieser Knaben verwiesen würde. Nein, mit einem solchen Makel behaftet, waren die verlassenen Paradiese Salzbrunns keine mehr.

 


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