Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Einundfünfzigstes Kapitel

Die Sorgauer Pfingsttage brachten mir unter anderem Fördersamen auch die Erneuerung meiner ornithologischen Neigungen. Eines Tages fand ich auf der Post ein Paket, dessen Inhalt mich in einen kleinen Glückstaumel versetzte. Es enthielt ein mit schönen Illustrationen versehenes Buch, dessen Titel »Deutschlands Tierleben von Professor Gustav Jäger« lautete. Bruder Carl hatte es von seinem Taschengeld gekauft und mir zum Präsent gemacht.

An Hand dieses Werkes konnte ich mich nun auf eine gründlichere Weise als in Lohnig mit der reichen Vogelwelt dieser Gegend bekannt machen. Lederose, in einer Bodenvertiefung gelegen, mit seinem träge fließenden Wassergraben, war ziemlich feucht und hatte einen schönen Baumbestand. Das ganze Dorf auch außerhalb des herrschaftlichen Parkes war parkartig. Der Wasserlauf war von Erlen und Weiden verbuscht, und des Abends schloß man die Fenster, weil die Nachtigallen, die in den Büschen nisteten, Nacht für Nacht ihren Sängerstreit austrugen. Man sah den Pirol, den Wiedehopf, verschiedene Spechtarten, und was alles noch sonst. Das Dorf allein lohnte in dieser Beziehung das Studium.

Carl, der mich mit dem Buche erfreuen und fördern wollte, konnte unmöglich wissen, in welchem hohen Maße er es wirklich tat. In meinen Augen war dieses Buch ein Pfand, aus besseren Welten herabgefallen. Ich trieb mit ihm förmliche Abgötterei. Es war mein letzter Gedanke beim Einschlafen und mein erster, wenn ich, wie immer, morgens um drei aus dem Bette sprang. Schon lange bewohnte ich das Zimmer in der Frontspitze, das durch eine ausgestopfte Rebhuhnfamilie in einem Glaskasten einigermaßen wohnlich gemacht wurde. Wie auf einem Altar lag das Buch allein auf dem Tisch. Seiner dachte ich bei der Feldarbeit und freute mich jeder Minute, die ich dem Dienste abgewann, in der ich es zur Hand nehmen konnte.

Ich fragte mich, warum dieses Buch eine so wundervolle Wirkung haben und meine im großen ganzen so rat- und hilflose Einsamkeit aufhellen und beleben konnte. Der kernige, kluge, gesunde Mensch, der es verfaßt hatte und gleichsam leibhaftig als Führer neben mich trat, war die Ursache. Er wies meine Sinne auf die Natur. Er schien zu sagen: Niemand ist einsam, niemand verlassen, der wirklich sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen kann, denn überall eröffnet sich einem solchen Menschen ebendie Natur mit ihren Wundern, ihren Geheimnissen. Kein Schritt auf der Straße, kein Schritt in Haus, Hof, Feld und Wald ist dann langweilig, weil nach und nach überall das Stumme eine Sprache gewinnt. Es entsteht eine Art Kameradschaftlichkeit mit allem, was kreucht und fleucht, und je genauer und reicher das Wissen von den Gepflogenheiten des einzelnen Mitgeschöpfes wird, um so lebhafter wird auch die Teilnahme, die sich in Freude, in Liebe verwandeln kann.

Ich erwähne von allen neuen Bekannten, die mir das Buch brachte, nur das weitverzweigte Geschlecht der Mäuse mit seinen zahllosen Abarten, das ja mit dem Landwirt in ewigem Kampfe liegt, und ich kam dahin, daß ich am Ende meiner Erkenntnisse den kleinen, zähen und gefährlichen Gegner nicht mehr verabscheuen konnte, sondern ihm meine ritterliche Achtung zuteil werden ließ.

Leider konnte auch dieser Einfluß gegen den Dämon in meinem Innern auf die Dauer nicht standhalten. Verworrenes kreiste in meinem Kopf, der nun einmal an der Wachstumsperiode, in der ich stand, teilnehmen mußte. Der gleiche Trieb, der den Körper mit brennenden Süchten nach dem andern Geschlecht beherrschte, füllte das Hirn bis zum Springen mit Problemen an, die der Verstand bewältigen sollte.

Bin ich nicht eigentlich damals der Verzweiflung nahe gewesen?

Gewiß ist, daß die Zukunft teils undurchsichtig vor mir, teils wie eine Last auf mir lag. Ich wußte nicht, wie ich sie klären, wußte nicht, wie ich sie tragen sollte. Dazu wirkten äußerliche Umstände mit. So hatte ich zu Militär und Militärdienst damals keinerlei Neigung. Drei lange militärische Dienstjahre als sogenannter Gemeiner standen mir bevor, wenn ich mir nicht die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst erwarb. Es mußte durch ein Examen geschehen, für das ich noch nicht die geringsten Anstalten getroffen hatte. Aber wenn auch nun diese äußere Drohung wie eine Gewitterwolke am Horizonte stand, half ich mir einesteils mit Wegblicken und überantwortete mich im ganzen der jederzeit naturgemäßen Vogelstraußpolitik. Vielleicht würde ein Wunder geschehen, Gott würde helfen. Schließlich versank diese düstere Sorge in eine tiefere Finsternis, die so voller unmittelbarer Gefahren war, daß die ferneren nicht in Betracht kamen.

Ich war ein Sünder, der Sünden beging. Von dieser Meinung konnte mein Gewissen nicht ablassen. Der Wunsch, der Wille, das Streben, ihrer Herr zu werden, erwies sich immer wieder als trügerisch. Das vernichtete mich vor mir selbst und vor Gott. Es ließ mich an mir selbst verzweifeln. Wo ich mich aber davon losmachen wollte, geriet ich nur immer tiefer ins Sündengestrüpp. Warum half mir nicht Gott, wo er doch sah, wie sehr ich litt! Also war er nicht gut, oder war er nur nicht allmächtig? So zweifeln hieß aber wiederum sündigen! Man mußte glauben! Konnte man aber den Glauben nicht finden, so mußte man wiederum Gott darum bitten. Da war wieder die Frage, ob er ihn geben wollte, konnte oder nicht.

Warum sollte er ihn nicht geben wollen, da er doch wollte, daß man ihn hat? Und da man doch andererseits wissen soll, der Mensch habe nichts, aber auch gar nichts aus sich selbst, er kann und vermag nichts aus eigener Macht, war es nicht seltsam, wenn selbst die Frömmsten der Frommen gegen die Anfechtungen des Unglaubens täglich zu ringen hatten? Selbst Tante Julie lebte in dieser Beziehung in einem dauernden inneren Kampf. Vielleicht war Onkel Schubert der einzige Mensch, der nie an den hauptsächlichsten christlichen Lehren zweifelte. Die übrigen schlugen sich stündlich mit dem Satan herum. Warum sage ich diese Worte: »Herr, führe uns nicht in Versuchung!« zu Gott? Wenn er das tut, so kann man nicht anders als meinen, er unternehme zuweilen etwas, was sonst nur des Teufels Sache ist. Und jemand in Versuchung zu führen, von einem selbst abzufallen, der einem aus ehrlichem Herzen treu bleiben will, ist das nicht, menschlich genommen, Bosheit und Tücke? Selbst der Frömmste, der täglich zugegebenermaßen um seinen Glauben an Jesum Christum und also um seine Seligkeit kämpfen muß, lebt also einen Teil seiner Zeit in Gottlosigkeit. Er ist zeitweise Atheist. Gott will es so, er würde sich sonst ihm nicht verbergen. Warum aber, fragt man, will er das? Soll man aber auf ein Wissen von Gott hoffen, wo selbst der Glaube erbeten werden muß und jederzeit hinfällig ist? Sind wir also vielleicht verdammt und suchen uns auf verzweifelte Weise durch Selbstbetrug zu trösten?

Ich weiß nicht, gingen solche Gedanken aus meinem Trübsinn hervor oder mein Trübsinn aus solchen Gedanken?

Mein Trübsinn breitete sich jedenfalls allmählich über alles und alles aus. Ihn als Weltschmerz zu bezeichnen würde so viel heißen, wie ihn durch ein Modewort herabsetzen. Überall sah ich Leiden und Tod. Mich traf das Gefühl, das ich ja schon als Kind zuweilen gehabt habe, als wäre ich ausgesetzt und allein. Jener Traum meiner Kindheit, der mir die ungeheure Größe des Weltkörpers zeigte, an dem ich unrettbar hing, bekam wiederum Gewalt über mich. Ich untersuchte mit eigensinniger Wahrheitswut, ob ich wirklich so verlassen und einsam war, und stellte fest, ich war es auf eine so furchtbare Art, wie ich es nie vermutet hatte. Denn Kommunikationen zwischen Menschen gab es wohl, sie konnten einander sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken; vom innersten Wesen des einen zum andern führte das aber nicht. Es waren Signale, Symbole, Zeichen. Und auch die Sprache machte davon keine Ausnahme.

Gewiß, mein Zustand war Hypochondrie. Das machte ihn aber nicht leichter zu tragen. Ein häßlicher Umstand brachte es mit sich, daß meine wachen Träume von Verlassenheit, Gruft und Tod eines Tages sogar nach Verwesung dufteten. Ungefähr eine Woche lief ich, durch diese Erscheinung beängstigt, herum, ohne darüber schlüssig zu werden, ob Aas in der Nähe oder nur meine schwarze Einbildungskraft bis zu einer so täuschenden Vorspiegelung gediehen war. Schließlich kam der Geruch von Fido, dem Hund. Bald merkte ich, wie er immer einen und denselben Weg ins Feld machte. Ich folgte ihm nach und fand: der Kadaver eines an Kolik eingegangenen und vergrabenen Gaules hatte Mittel und Wege gefunden, mit seinem Aase die Luft zu vergiften.

Dies war wesentlich meine Lederoser Zeit. Nach der Ernte, Ende August, stand es fest, ich würde zu Michaeli dem Orte Lederose ade sagen. Der Gedanke von irgend etwas Gescheitertem lag in der Luft. Er fand in einem sehr bestimmten Ereignis eine Bestätigung.

Eines Tages stiegen Onkel und Tante beim Morgengrauen in die Gutskutsche, um einen weiten Weg über Land zurückzulegen. Am späten Nachmittag kehrten sie heim und brachten ein verlaustes, kränklich blickendes, siebenjähriges kleines Mädchen mit. Sie hatten es, das Kind eines verwitweten Maurers, der dem Trunk ergeben war, seinem Vater abgekauft und, als es mit ihnen im Haus erschien, bereits adoptiert. Es war ein wildes und gutes Ding, das sich, dem allertiefsten Elend entrissen, in seiner Umgebung überaus wohlfühlte, aber seine Pflegeeltern nicht Vater und Mutter, sondern nur Onkel und Tante nennen durfte. Ich begriff, daß es mich ersetzen sollte.

 


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