Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Wie nach einem metallenen Kruzifix, das auf den Grund des Meeres gesunken ist, hätte ich aussichtslose Tauchversuche unternehmen müssen, um die religiösen Zustände von Lederose wiederzufinden. Alle diese krankhaften Ängste und Selbstquälereien waren mir unzugänglich geworden. Stufe für Stufe war ich aus einer Welt ohne Kunst die Leiter der Schönheit emporgeklommen, bis mir das Glück in Gestalt Marys die Hand reichte und mir mit dem Zauberstabe der Liebe die Mauern meines Kerkers öffnete. Da war ich nun, mein Bruder mit mir in der gleichen Lage. Sieghaft standen wir hoch im Glanz. Aber war es nicht überaus seltsam, wenn wir, fast betäubt von schönen Erfüllungen, unsere Freunde und nicht unsere Bräute hierherwünschten?

Wir waren eben noch nicht so weit herangereift, daß uns der Jugendbund, von dem wir tragend getragen wurden, entlassen konnte. So war meine Liebe zu Mary elementar, die zu Hugo Schmidt, Alfred Ploetz, meinem Bruder Carl, Ferdinand Simon und Max Müller war ebenfalls von einer elementaren, zusammenhaltenden Kraft.

Ich schrieb an Max Müller, er könne hier billig leben, er möge herkommen.

Mein Freundesruf blieb unerhört – ich erkannte daraus, wie kühl sein Herz im Norden, verglichen mit dem unseren auf Capri, pulsieren mußte.

 

Wir waren noch nicht acht Tage in unserem Hotel, als wir bereits spürten, daß wir von unseren Landsleuten heimlich befehdet wurden. Wir waren naiv genug, nicht zu wissen, warum. Wir schlossen uns wenig an, da wir uns selbst genug waren, was bei der familiären Einheit des nur von Deutschen besetzten Hotels unerlaubt und verletzend gebucht wurde.

Das gab den Ausschlag indessen nicht.

Wir mögen in unvorsichtiger Weise unsere Ansichten über Reformbedürftigkeit der Gesellschaft und anderes mehr geäußert haben, wodurch wir mißliebig werden mußten.

In diesen Kreisen war die Siegesstimmung seit 1871 noch nicht einen Augenblick abgeflaut. Das ganze Jahr feierten sie Sedanfest. Sie betrachteten es als bedauerlichen Umstand, daß Kaisers Geburtstag nicht alle Tage sein konnte. Überall markierten sie Siegernation und wurden damit nicht nur den gesitteten Menschen anderer Völker, sondern auch denen im eigenen Lande peinlich. Die Grobheit, das präpotente Wesen, die Ungezogenheit und Unerzogenheit des Deutschen, der ins Ausland kam, war damals für viele ein Ärgernis: sie hat manchen Schaden gestiftet.

Bei Pagano blieben die Deutschen unter sich. Ihre Nationalfreude, ihre Überheblichkeit, ihr ewiges Hurra-hurra-Geschrei wirkten deshalb nach außen weniger aufreizend. Wenn Carl und ich dieses Treiben auch nicht mitmachten, störte es uns im Grunde nicht. Aber es war nicht gerade das, wie man den früheren Seiten dieses Buches entnehmen wird, was zu suchen wir auszogen.

Toleranz für eigene, dem Parvenügeiste nicht entsprechende Meinungen kannte man in diesem Kreise nicht. Und daß Carl und ich, schon durch unser Nationalkostüm separatistischer Neigungen verdächtig, recht seltsame Ansichten zu vertreten uns nicht scheuten, hatte man in Erfahrung gebracht.

Ein Maler, deren es auf Capri immer unendlich viele gibt, hatte unsere Gesellschaft gesucht, sich uns auf Ausflügen angeschlossen. Bei diesen Gelegenheiten waren Carl und ich aufgetaut und hatten wieder einmal, töricht genug, unsere vollen Herzen nicht gewahrt. Heute bin ich fest überzeugt, man hatte diesen Menschen als Spion abgeordnet. Jedenfalls wurde der Inhalt unserer Gespräche von ihm jedesmal mit humoristisch bissigen Glossen der Hotelgesellschalt bekannt gemacht. Natürlich erhielt sie ein durch Mißverständnisse noch mehr verwirrtes Sammelsurium aufgetischt, aus dem aber doch, wie sie meinte, zu ersehen war, daß wir gefährliche Ansichten hegten.

Als wir am 22. März, Kaisers Geburtstag, das Festessen nicht mitmachten, wurden wir definitiv in die Acht getan.

Am folgenden Tage wurden bei der Table d'hôte je zwei Plätze rechts und links von uns frei gelassen.

Es war um jene Zeit schon sehr heiß, und ich pflegte die Tür auf die Dachterrasse in den Mondnächten offenzulassen. Einmal fuhr ich jäh aus dem Schlaf. Ein Erdbeben, wie ich glaubte, war eingetreten. Es waren indessen nur einige Deutsche mit Nagelschuhen, die auf dem Dach einen rasenden Lärm machten: nur eine Episode aus dem Haberfeldtreiben, das gegen uns im Gange war.

 

Professor Brückner aus Dorpat, der in diesen Tagen in Begleitung seiner Tochter eintraf, hielt sich an die schwebende Achterklärung nicht. Vater und Tochter nahmen ihre Tischplätze mit einer gewissen Betonung links und rechts neben uns. Ich hatte Malja, die Tochter, zur Seite.

Malja und ich verstanden uns ebenso wie der Professor und Carl. Die beiden Herren kamen ins philosophische Fahrwasser, da Brückner Ordinarius für Philosophie in Dorpat war und Carl für das fachphilosophische Wesen viel übrig hatte.

Mit Malja und mir war es ein ander Ding, wir brachten einander Neigung entgegen.

Die junge Professorstochter war durch Schönheit nicht auffällig, aber ich hatte einen so lebendigen und gebildeten Geist bei einer Frau noch nicht kennengelernt. Ich erzählte ihr manches aus den Kämpfen meiner Vergangenheit, wie sie Zufallsaufblitzen mir ins Gedächtnis brachte, sprach von meiner Knabenzeit und von der Zeit, wo ich unter den Zwang der höheren Schule geriet und was ich an Lebenskraft, Lebensfreude und Lebensmut dabei eingebüßt hatte. Ich führte sie den Befreiungsweg bis zum gegenwärtigen Augenblick, ohne aber die äußeren Glücksumstände zu berühren. Ich redete naiv genug, aber auch schwärmerisch genug von unserem in Amerika zu gründenden neuen Staatswesen, was ihr nicht das geringste Befremden erregte.

Im angenehmsten und doch sachlichen Plauderton hielt sie mir vielmehr ein kleines Privatissimum über die Geschichte ähnlicher Bestrebungen, über die sie weit besser als ich Bescheid wußte. Die Namen Lykurg, Solon, Platon schwirrten zu den feindlichen Tischgenossen hinüber. Sie verbreitete sich über das griechische Kolonisationswesen und den mittelländischen Städtekranz Großgriechenlands, stützte mein Selbstvertrauen, indem sie entwickelte, daß die größten Geister aller Zeiten bis zu Goethe hinauf sich mit Plänen zur Gesellschaftsreform beschäftigt hätten, teils indem sie an neuzugründende Gemeinwesen dachten, teils indem sie die Zustände in den schon vorhandenen kritisierten und Verbesserungsvorschläge machten.

Sie nannte Thomas Morus und seine »Utopia«, Fourier und sein »Phalanstère«, schließlich Michael Bakunin und die neueren Sozialisten. Warum man sich über dergleichen aufregte, begriff sie nicht, da doch ohne ein immerwährendes Wirken solcher Ideen ein Menschheitsfortschritt unmöglich sei. Schon das Christentum mit seinem »Kindlein, liebet euch untereinander!« und seiner Bergpredigt lasse sie nicht zur Ruhe kommen.

Wenn sie mich nicht nur unterstützte, sondern auch belehrte, war Malja keineswegs blaustrümpfig: sie assistierte mir eigentlich nur. Die freundliche Zartheit, mit der sie es tat und Lücken meiner Bildung verschleierte, machte sie weiblich und anziehend und auf eine ungewöhnliche Art und Weise liebenswert. Ich gab ihr zu hören, welche Folgen die Mitteilung unseres amerikanischen Planes an einen Unberufenen gehabt hatte.

Kurz, ich konnte mein Herz einmal gründlich ausschütten. Das geschah mehrere Tage lang nicht nur bei Mahlzeiten, sondern auch auf Spaziergängen. Die geduldige und geistig nie ermüdende Malja wurde nach und nach auch in meine Pläne als Dichter und bildender Künstler eingeweiht. Auch diese waren zum Teil bereits in unserer Utopie zusammengeschlossen. Ihre Präsidentschaft blieb Alfred Ploetz zugedacht. Carl war der Minister für Wissenschaft, ich aber der Minister für Kunst, der die Arbeiten der Bauhütten unter sich hatte.

Ich hörte nicht auf, meine kostenlosen Illusionen vor Maljas staunenden Ohren auszubreiten.

Das Dichten in Marmor war ein innerer Zwang, der mich zuerst an jenem Tage ergriffen hatte, als der Gedanke, Plastiker zu werden, von meinem Vater gebilligt worden war. Und so sah ich denn auf dem imaginären Boden unserer fernen Kolonie eigentlich allen Nutzbauten voran ein Tempelgebäude aus Marmor errichtet, darin sich, ähnlich wie in Raffaels »Schule von Athen«, die Heroen aller Zeiten als Marmorbilder vereinigt fanden, nicht etwa in Nischen aufgestellt oder da und dort unorganisch auf Sockeln, sondern die großen Denker, Dichter, Maler und Bildhauer sollten in dem Heroon aus Marmor, das ich aufrichten wollte, gleichsam wohnen und sich bewegen.

Vor dem hohen Bogenfenster stand etwa ein grüblerisch versunkener Michelangelo. Raffael Santi, der Schöpfer der Sixtinischen Madonna meines Vaterhauses, stieg, nach dem Hähnelschen Vorbild gedacht, in göttlicher Jugendschöne, Marmor, die Marmorstufen herunter. Es waren Exzesse im Stil Canovas, eines Meisters, den ich damals nicht einmal dem Namen nach kannte. Aber selbst diese Schaumschlägereien konnten die Teilnahme Maljas nicht abschwächen.

Vielleicht war es gut, daß Professor Brückner trotz Maljas und meiner Bitten zu einer Verlängerung seines Aufenthaltes auf Capri nicht bewogen werden konnte. Er zeigte dabei einen beinahe unangenehmen Eigensinn.

Wäre Malja länger geblieben, sei es auch nur eine Woche lang, hätte sich ein letztes Verständnis zwischen uns kaum vermeiden lassen. Ich hätte dann zum mindesten eine schwere Gewissenslast Mary gegenüber zu tragen gehabt, auch wenn wir die Kraft besessen hätten, den schlimmsten Konflikt zu vermeiden.

 

Bevor wir Capri verließen, war ich leider so töricht, den Fremdenbuchunfug mitzumachen und in den bei Pagano aufgelegten Band eine lange Ballade einzuzeichnen. Sie kann unmöglich auch nur erträglich gewesen sein. Am nächsten Tage waren denn auch ziemlich derbe Spottverse daruntergesetzt, die einem damals berühmten deutsch-römischen Bildhauer zugeschrieben wurden. Er war erst jüngst mit zwei schönen Töchtern bei Pagano aufgetaucht. Meine Verse wurden barock genannt, und statt mit dem Plektrum hätte ich meine Laute mit einem knorrigen Stocke bearbeitet.

Übrigens hatte man Carl und mich in unseren Normalröcken, mit nach innen gewölbter Brust und geknickten Beinen hintereinander herschreitend, auf das allerkläglichste in einer Karikatur dargestellt, was uns ungeheuer empörte.

Daß auch ich damals ziemlich ungehobelt sein konnte, beweist die Antwort, die ich auf einer Seite des gleichen Fremdenbuches meinem unbekannten satirischen Glossator gab. Da ich sie leider noch im Gedächtnis habe, mag sie hier stehen – der Wahrheit die Ehre! –, so unsympathisch sie sich ausnehmen mag:

Du sagst, ich erscheine dir, Uhu, barock.
Auch schlüg' ich die Laute mit knorrigem Stock.
So laß dir dagegen, Nachtpfeiferlein, sagen:
Gehörtest du nicht zu unschädlichen Fröschen,
so würde mein Knorrstock zum Teufel dich dreschen,
zum mindesten aber dein Schandmaul zerschlagen!

Zu meiner Ehre sei gesagt, daß ich mich dieser Antwort sowie meiner Ballade bald danach schämte und die Blätter, worauf beides zu lesen war, aus dem Fremdenbuch herausgeschnitten habe.

 

Was Capri trotz dieser und anderer Verdrießlichkeiten uns war, empfanden wir erst ganz, als wir uns nach Wochen, schweren Herzens, selbst aus diesem Paradies verstoßen hatten.

Und doch waren wir nur in das wundervolle Sorrent übergesetzt.

Aber selbst hier spürte man überall den Einbruch einer fremden, einer feindlichen Welt, die so wenig wie das Meer über die Insel Macht hatte. Wirkliches Heimweh nach Capri überwältigte uns, und wir dachten daran, sogleich wieder umzukehren und alle noch verfügbare Zeit dem unvergleichlichen Orte zu schenken, wo wir, wie nirgend, unsere eigene Jugend gefühlt und in Schönheit genossen hatten.

Alles indessen hat seine Zeit, und so gehorchten wir einer anderen Stimme, die uns vor dem Gedanken, einmal Gewesenes erneuern zu wollen, abmahnte. Diese Stimme wollte auch wissen, daß uns ein solcher Versuch nur enttäuschen würde.

 


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