Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Drittes Kapitel

Der Gebäudekomplex des Gasthofs zur Preußischen Krone war im Laufe der Zeiten durch Anbauten entstanden. Schwer zu sagen, welcher seiner Teile mir zuerst zu Bewußtsein gekommen ist. Ich hatte wohl erst ein allgemeines Gefühl seiner Unergründlichkeit. Insoweit blieb er mir lange unheimlich. Ich denke auch hier an die Winterzeit. Da war zunächst unser Winterquartier im ersten Stock. Es waren die Säle: der sogenannte Große Saal und der sogenannte Kleine Saal und endlich der sogenannte Blaue Saal, der in Wahrheit der kleinste war. Da war ferner das Erdgeschoß: ein Schnittwarenladen lag darin, eine verpachtete, dem Straßenbetrieb offene Bierstube, die Wohnung des Fuhrwerksbesitzers Krause und die Kronenquelle, von der schon gesprochen wurde. Das Haupthaus, der Kleine Saal, die Stallungen bildeten und umfaßten dreiseitig einen Hof, dessen vierte Seite nach der Straße offen war. Der Kleine Saal aber wurde von granitenen Pfeilern, sogenannten »Säulen«, getragen. Den unter ihm verfügbaren Wirtschaftsraum bezeichnete man schlechthin als Unterm Saal. Über unserm Winterquartier lag ein zweiter Stock, wo wir Kinder, sommers vom Fremdenbetrieb zurückgedrängt, in kleinen Schlafräumen unser vergessenes Dasein fristeten. Schließlich war das Bodengeschoß mit den Dachkammern ein besonderes Mysterium.

Unter diesen war eine, die sogenannte Siebenkammer, die für uns Kinder einen unheimlich-heimlichen Reiz besaß, obgleich sie in Wahrheit nichts anderes als die sattsam bekannte Rumpelkammer sein wollte. Wir hätten uns schwerlich im Dunkeln hineingetraut. Sonst aber übertraf ihre Anziehungskraft bei weitem die Furcht, die uns im Gedanken an sie anwandelte. Auch war diese Furcht selber anziehend, gleich jenem Gruseln, das der Handwerksbursche im Märchen durchaus lernen wollte.

Altes zerbrochenes oder weggeworfenes Spielzeug von Generationen war darin in unentwirrbarer, verstaubter Menge aufgehäuft: Gummibälle, Puppen, Hausrat von Puppenstuben, Hampelmänner, Pferde und Frachtwagen, Teile von Schäfereien und Menagerien, Schaukelpferde, und so fort und so fort.

Alledem hauchte der kindliche Geist besonders im langen Dunkel der Wintertage phantastisches Leben ein. So war denn die Siebenkammer – und ist es mir in gewissem Sinne noch heute – der Ort, wo auf geheimnisvolle Weise Kobolde, Feen, Knusperhexen und Zauberer, Helden und Menschenfresser sich Rendezvous gaben und durch die Dachluke nachts beim Mondschein aus und ein flogen. Ich brauchte nur an sie zu denken, um ihrem Märchenzauber, ihrer grenzenlosen Magie mit der unendlichen, bunten Vielfalt ihrer Gestalten anheimzufallen. Gehe ich fehl, wenn ich in ihr eine der wichtigsten Rätselquellen meiner späteren Fabulierlust sehe?

Das Winterquartier im ersten Stock bestand aus fünf zusammenhängenden Stuben, welche die Nummern drei bis sieben als Türschilder hatten. So sprachen wir Kinder von der Drei, der Vier, der Fünf, der Sechs und der Sieben. Und mit jeder dieser Zahlen verbindet sich noch heut für mich die Vorstellung eines besonders beseelten Raums. Von allen strahlte die Vier vielleicht die meiste herzliche Wärme aus, die Fünf und die Sechs waren nicht so traulich. Der Charakter der kleinen Sieben hatte seine Besonderheit. Es waren darin Rouleaus, auf denen bunte Spanierinnen mit Fruchtkörben auf den Köpfen zu sehen waren.

Die Seelen dieser fünf Räume tauchen noch heut gelegentlich in meinen Träumen auf, mit mancherlei anderen Elementen verbunden.

Die Tür der Sieben war der Abschluß eines längeren Gangs, dem Fenster nach dem Hofe Licht gaben. Dagegen hatte ein kleiner Alkoven, in dem winters Vater, Mutter und ich schliefen, nur ein Fenster nach diesem Flur hinaus.

Ein oder zwei Winter ausgenommen, hat sich das Leben der Familie hauptsächlich in diesem Teil des Hauses abgespielt.

Ich sagte schon, daß mein sonst strenger Vater mir eine außergewöhnliche Bewegungsfreiheit zubilligte, was von Verwandten und Freunden vielfach gerügt wurde. Ungebunden und überall neugierig ging ich demnach auf Entdeckungsfahrten aus und wußte bald über jeden Winkel des Hauses Bescheid. Fast täglich durchstreifte ich alle Stockwerke, war daheim in Garten und Hof, kannte die entlegensten Räume, von denen einige seltsam genug und hinreichend unheimlich waren.

Das leidenschaftliche Leben, dem ich damals unterlag und das meinen zarten Organismus wie ein überstarker elektrischer Strom bewegt haben muß, erklärt sich nur durch eine ungeduldige Lebensgier, die überall etwas zu versäumen fürchtete. »Gerhart, renne doch nicht so!« sagte meine Mutter. – »Rase doch nicht immer so!« sagte mein Vater. – »Du rennst dir die Schwindsucht an den Hals!« mahnte mein Onkel Straehler, der schöne, von den Damen vergötterte Badearzt, wo er im Freien meiner ansichtig wurde. Frau Krause, Frau des Fuhrwerksbesitzers im Erdgeschoß, die robuste Bauersfrau, hielt sich wieder und wieder die Ohren zu und sagte dabei: »Hör auf, hör auf, dein Schreien macht mich verrückt, Junge!«

Der Wahrheit gemäß wäre vielleicht zu sagen, daß ich um jene Zeit immerhin ein wohlgearteter, aber kein wohlerzogener Junge gewesen bin, dazu war ich zu wild und zu frei aufgewachsen. Wie manchem mag ich durch lärmiges Gebaren, Rennen, Schreien und Ansprüche aller Art lästig geworden sein! Ich bin auch nicht allzu sauber gewesen. Die künstlichen Sitten der elterlichen Bürgerzimmer konnten den natürlichen Unsitten der Straße und des sogenannten niederen Volkes nicht standhalten. Ein nordisches Kind ohne Schnupfen im Winter gibt es nicht, und der Straßenjunge, der mein bewundertes Muster war, wird sich die Nase nur mit dem Ärmel putzen, wenn er es nicht technisch vollkommen mit Daumen und Zeigefinger niesend tut. Daher hatte ich meinen blanken Ärmel, zunächst den rechten, den andern erst, wenn dieser nicht ausreichte.

Frau Greulich hieß eine alte Weißnähterin, die winters über bei uns arbeitete. Die gute Frau war entsetzt und herrschte mich manchmal heimlich entrüstet an, wenn ich ohne Ärmel und Taschentuch den Fluß der Nase durch ununterbrochenes Lufteinziehen erfolglos zu hemmen suchte.

Erkner, ein Vorort von Berlin, wo ihr verstorbener Mann Bahnbeamter gewesen war, hatte übrigens die beste Zeit im Leben dieser Frau gesehen. Immer, fast täglich, sprach sie davon. Sie ahnte nicht, und ich ahnte nicht, welche Bedeutung dieser Ort etwa fünfzehn Jahre danach auch für mein Leben erhalten sollte.

 

Wenn Sommer und Winter zwei ganz verschiedene Lebensformen des Gasthofs zur Preußischen Krone bedeuteten, freilich nicht ohne Zusammenhang, so kann ich noch heute wie als Kind völlig getrennte Welten unterscheiden, innerhalb seiner Mauern sowohl als auf dem dazugehörigen Grund.

Die Bürgerzimmer erstens umschlossen winters das Familienleben und damit die Wohlerzogenheit. Die Säle im gleichen Stockwerk wiesen gewissermaßen feierlich in eine fremde Welt höherer Lebensform. Im Blauen Saal stand das Klavier. Gelbe Mahagonipolstermöbel schmückten diesen Raum und die lebensgroßen, goldgerahmten Ölbildnisse König Wilhelms und seiner Gemahlin Augusta in ganzer Figur. Hier hatten die monarchischen Gefühle meines Vaters ihren Ausdruck gefunden. Eine Kopie der Sixtinischen Madonna in Originalgröße beherrschte den anderen, den Großen Saal, dessen noch verfügbare zweite Wand eine Kopie der Kreuzabnahme Rembrandts trug, den mein Vater, nach der Fülle der Rembrandtkopien im Kleinen Saal zu schließen, besonders geschätzt haben muß.

Ich begreife noch heute schwer, wie man in der sakralen Atmosphäre des Großen Saales speisen und harmlos plaudern konnte.

Dicht an die Säle stießen dann Küche, Waschküche und Hinterhof, die eine ganz andere Welt darstellten und die im wesentlichen den unabweisbaren Bedürfnissen des Magens und des Bauches zu dienen hatten. Es kam hernach die Welt Unterm Saal, die zwar als ein Teil des Hofes anzusehen ist, aber eigene Funktionen hatte. So lag die Kutscherstube dort und die Putzstube der Hausknechte, besonders aber wirkte sich hier der Betrieb des Weinkellers mit Flaschenwaschen, Fässerreinigen und dergleichen regensicher aus.

 

Von den Sälen zur Kutscherstube war ein großer Schritt. In einem fensterlosen Raum blakte allzeit eine Ölfunzel, es herrschte keine Sauberkeit, es roch nach Bier, Fusel und Speiseresten. Diese Kutscherstube war eine Dreckbude, wo aber doch viel Behagen, Gelächter, derbes Fluchen und Karten-auf-den-Tisch-Hauen in jenem niederländischen Stil laut wurde, der sich auf manchem Ostade des Kleinen Saals erschloß. Im Giebel des Hauses ebenerdig nach der Straße hinaus lag noch die Bierstube, die Schwemme, wie man in Österreich sagt, deren Tür auf die Gasse ging und die zeitweilig Schauspieler Ermler gepachtet hatte. Sie war ein manierlich volkstümlicher Aufenthalt, der gelegentlich auch wohl von den Honoratioren des Orts besucht wurde.

Der Hintergarten war das Gebiet, wo man sich in der ungebundensten Wildheit austobte. Der große Düngerhaufen der Pferdeställe befand sich dort, der Eiskeller, um den herum es sehr übel nach Schlachthaus roch, aber auch ein Warmhaus, dessen Palmen, Lorbeer- und Feigenbäume und seltene Blumen mir die erste Botschaft einer schönen südlichen Welt brachten.

Der Schnittwarenladen aber von Sandberg, in der Front des Hotels, atmete eine vornehme Stille. Der graubehaarte Scheitel des alten Inhabers, auf dem allezeit ein gesticktes Käppchen saß, sein milder Ernst, seine seltsame Sprache und manches, was man mir von ihm erzählt hatte, da er Vorsteher der Salzbrunner jüdischen Gemeinde war, erfüllten mich mit einem Respekt, in dem sich Befremden und Neugier mischten.

 


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