Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch

Erstes Kapitel

Der äußerste Tiefstand meines Jugendringens war damit überwunden. Von Stund an bewegte mich innerlich ein ganz neues Sein. Der Auftrieb nahm beinahe bedenkliche Formen an. Wachend und schlafend träumte ich nur noch in marmornen Bildsäulen. Wenn ich aus Träumen ins wirkliche Leben erwachte, erschrak ich fast vor mir selbst, weil die Fülle und überwältigende Größe der inneren Gestaltungen nicht aus Eigenem zu stammen schien, sondern von einer fremden Macht, die mich unterjocht hatte.

Ich war ein Gefäß, das brechen konnte. Gesichte von ungeheurer Monumentalität dehnten mich bis zum Zerspringen aus. Denn wenn ich meine plastischen Orgien etwa meiner Schwester schildern wollte, spürte ich wohl, daß sie nichts begriff. Wären sie sichtbar zu machen gewesen, ich war überzeugt, man würde vor Staunen in die Knie gesunken sein.

Als mich dieser unaufhaltsame Bildnerrausch, wie der Dämon einen Besessenen, ausfüllte und meine Seele schmerzhaft blendete, war ich noch weit davon entfernt, zu wissen, welchen Weg man zu beschreiten hatte, welche Mittel man anwenden mußte, welche Stufen der Arbeitsfolge notwendig waren, um eingebildete Dinge sichtbar zu machen. Um so stärker, peinlicher, marternder war der eingebildete Trieb, es zu tun.

Abermals war ich eines Erlebnisses gewürdigt, in gewissem Sinne dem verwandt, das mich angesichts der kleinen Beatrice Schütz überkommen hatte. Und wiederum zitiere ich mit Fug das Dichterwort: »Ecce deus fortior me, qui veniens dominabitur mihi.«

 

Diesmal war das Göttliche von einer solchen Gewalt in mir, daß ich es nicht verkennen konnte. Ich selber, mein schweres irdisches Wesen war davon fast aufgezehrt und hinweggeglüht. Was übrigblieb, war bereit, sich in Verwechslung irdisch bedingten Seins mit der Gottheit selbst zu vergöttern. Es geschah, und so gebar sich der Größenwahn.

Damals schrieb ich nach Jena an meinen Bruder Carl Worte, denen mein tatsächlicher äußerer Zustand so wenig entsprach, daß man sie für Zeichen schwerer Verrücktheit halten konnte. Und doch lag ihnen ein Gefühl zugrunde. In dem Briefe, der sie enthielt, war mein Entschluß, Bildhauer zu werden, mitgeteilt, und nachdem ich gesagt, was ich alles vorhätte, hieß es zum Schluß: »Aus dem ganzen Gebirge von Carrara will ich ein Monument meiner Größe meißeln.«

Glanz umgab mich, ich schwebte im Glanz, ich lebte im Glanz. Ich brauchte nicht zu beten: »Veni, creator Spiritus!«, denn ich war bis zum Rande von ihm erfüllt. Von außen gesehen, mag ich den gewöhnlichen Eindruck eines Halbwüchsigen gemacht haben. Vielleicht daß ich auch, überschlank, durch mangelhafte Ernährung ausgemergelt, durch schlechte, schlaffe Haltung, die man mir nachsagte, und ein jung-altes Gesicht peinlich gewirkt habe.

Ich lebte wenig im Zimmer, sondern meist auf weiten Spaziergängen. Nicht eigentlich, um zu wandern, sondern mehr, um allein zu sein. Ich konnte so ohne Störung meinen Phantasmagorien nachhängen. Diese Neigung und Gewohnheit hing mir wahrscheinlich von meiner landwirtschaftlichen Lehrzeit an und hatte sich darin ausgebildet. Für gewöhnlich war ich so in mich gekehrt, daß ich manchmal im Scherz von einem Bekannten, den ich nicht bemerkt hatte, dicht unter den Augen mit einem lauten »Halt!« überrascht, erschreckt und gestellt werden konnte.

Es rumorten schon allerlei Bildungselemente in mir, ich wußte vom goldelfenbeinernen sitzenden Zeus in Olympia, und so konnte es sein, daß ein solcher Anruf mich aus Goldgewölken, von Göttererscheinungen fort, aus heiligen Lorbeerhainen mit goldenem Laub zur nackten, kalten Erde herunterriß. Es hatte damals kein Mensch Zugang zu dem, was sich in mir ereignete. Dazu fehlte in Sorgau wie in Breslau ein Sokrates. Irgendwie war ich reif für ihn. Er hätte in mir einen Jünger gefunden, der schon von Erfahrungen im Reich der ewigen Formen berichten und so dieses Reich bestätigen konnte.

Freilich, jene erhabene Idee großer Kunst, die wie der Morgenstern in mir aufgegangen war, konnte nach außen hin sich nicht manifestieren. Sie verschloß sich, ja sie widersetzte sich der äußeren Verwirklichung. Man glaubt eine Fata Morgana mit Händen zu greifen und verschmachtet vielleicht auf dem endlos weiten Wege zu ihr im Wüstensand.

Leider muß man die reine Idee vergessen, bevor man die ersten Schritte zu ihrer Verwirklichung unternehmen kann. Mit ihnen beginnt ein endloser Kampf. Die Kongruenz zwischen Idee und irdischem Abbild wird nie erreicht. Hier gähnt eine Kluft, und wir wollen sie überbrücken. Und wie ungeheuer erwies sich bald jener Abgrund, der zwischen meinen Visionen und ihrer Materialisierung lag! Hier nicht verzweifeln heißt sich bescheiden einerseits, andererseits das Unmögliche weiter wollen und weiter begehren. Tasten, versuchen und wieder versuchen, Stürze nicht fürchten, sich durch sie nicht entmutigen lassen, Wunden und Beulen als unumgänglich hinnehmen, ja als Ehrenmale betrachten. Ein Dichter und Denker nennt unter den Werkzeugen, die man bei diesem Brückenbauversuch gebrauchen muß: Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Glauben – Wahn und Albernheit nicht zu vergessen.

 

Ich begann, nach Breslau zurückgekehrt, mit der Albernheit. Ich überwand mich eines Tages so weit, wirklich in den Laden eines Gipsfigurenhändlers in der Taschenstraße, eines gewissen Tagliazoni, einzutreten, um Modellierton zu kaufen. Der unangenehme, schwarze, mit einem stechenden Blick behaftete bleiche Mensch brachte mir einen kindskopfgroßen Ballen feuchten Lehms so mit Gipsstückchen untermengt, daß es unmöglich war, ihn zu reinigen. Ich gab die geforderte unverschämte Summe dafür. Mit diesem Raub begab ich mich in das längliche Zimmer meiner neuen Pension, das ich mit einem andern jungen Menschen teilte, um mir in vollendeter Ratlosigkeit mit diesem unsinnigen Material zu schaffen zu machen: einem verunreinigten Erdenkloß, dem ich einen lebendigen Odem einblasen wollte und der aller meiner Bemühungen spottete.

Dieser Fehlschlag entmutigte mich für lange Zeit, wozu die Verhältnisse in der neuen Pension, mein Stubenkamerad, mein überflüssiger Lehrer Dallwitz, mein trauriger Geldmangel, mein schlechter Körperzustand das Ihrige beitrugen.

Ich hatte mich jetzt nicht etwa von meiner Idee abgekehrt, um das Handwerk blind zu beginnen, sondern ich war des heiligen Aufleuchtens meiner letzten Sorgauer Zeit hier nicht mehr gewürdigt worden. Wenn ich, wie oft, im Bierdunst lungernd hinter meinem Tische saß, beschäftigten mich ganz andere Gedanken, die mit göttlichen Dingen nichts zu tun hatten. Der Kunstschule konnte ich noch nicht sicher sein, da es fraglich geworden war, ob mein Vater das Schulgeld bezahlen konnte. Selbst dann, wenn ich aufgenommen würde, was ebenfalls fraglich blieb. Schließlich aber hatte dieses Hocken und Stocken, dieses Wollen und Nichtwollen, Nichtleben- und Nichtsterbenkönnen eines Tages doch sein Ende erreicht, und ich stand in dem hallenden Hausflur der Kunstschule, von wo wir zur Prüfung in die verschiedenen Klassenräume verteilt werden sollten.

So war ich denn in die Propyläen der Kunst eingetreten. Der Augenblick berührte mich ernst und feierlich. Der Widerhall, den die Tritte und Stimmen der halblaut redenden Gruppen junger Leute in dem steinernen Treppenhaus weckten, war anders als anderswo. Ich trat an diesen, trat an jenen Kreis nicht ohne Scheu heran, weil ich meinte, daß alle Anwesenden mit größerem Recht als ich hier waren. Namen wie Velazquez, Makart, Michelangelo, die in den Gesprächen fielen und mir neu waren, schienen das vollauf zu bestätigen.

Nicht nur junge, auch ältere Männer waren da. Meist trugen sie Mappen mit eigenen Arbeiten, die sie als reif für den Eintritt in die Schule legitimieren sollten. Ein Mensch mit Augen wie glühende Kohlen, kühn geschwungener Nase und einem Schwindsuchtshabitus wies kleine Kopien, nackte Frauen nach Makarts »Fünf Sinnen«, vor, die mich in Staunen und Schrecken versetzten. Sie schienen mir Wunder der Miniaturmalerei. Was hatte ich dem an die Seite zu stellen? Überall wurden nun Mappen geöffnet und Kunstblätter aller Art hervorgeholt, die von langer Übung und großem Fleiß zeugten. Wenn, um hier auch nur die unterste Stufe des Lehrgangs zu betreten, ein solches Können erforderlich war: woraufhin sollte man mich dann zulassen?

Es gab ungeschliffene Burschen, die mich grob mit »Sie sind wohl verrückt!« und dergleichen abfertigten, als ich sie törichterweise zu Mitwissern meiner Sorgen machte und ihnen eröffnete, wie ich weder etwas vorzulegen habe, noch auf irgendeine Vorbildung hinweisen könne. Dagegen stärkte und tröstete mich ein knabenhaft schöner junger Mensch mit hellen Augen und hellem Haar, der von den andern förmlich umbuhlt wurde.

Seine Stimme war angenehm guttural. Im Ausdruck seines Gesichtes lag Ruhe und kluges Wohlwollen. Ich hörte von ihm die Namen Lessing und Winckelmann. Da war eine ohne weiteres spürbare Überlegenheit, die sich ganz ohne Renommisterei sogleich durchsetzte. Welchen Kunstzweig ich erwählen wolle, fragte er. Und ich nannte monumentale Bildhauerei, was von dem und jenem mit einer plumpen Bemerkung oder mit Lachen quittiert wurde. »Was isn das, monumentale Bildhauerei?« hieß es. Ich erklärte mich dahin, daß ich mich mit kleinen Dingen nicht abgeben wolle, sondern nur mit ähnlichen wie der Amazone von Kiß oder mit Sachen wie dem Denkmal Friedrichs des Großen in Berlin von Rauch, das ich in vielen Reproduktionen gesehen hatte. – »Na«, sagte einer, »zeichnen Se mal eine Stuhllehne, oder warten Se wenigstens noch bis morgen oder bis übermorgen, wenn Se dann mit dem Zeichnenlernen fertig sind!«

Ohne eine Miene zu verziehen, ging mein blonder Freund hingegen auf mich ein. Ungefähr wie mein Vater bestätigte er: man müsse sich hohe Ziele setzen. Er selbst war Maler oder wollte es werden.

Er hieß Hugo Schmidt. Wir sind von jener Stunde bis zu seinem frühen Tode befreundet gewesen.

 

Ich wurde in die Kunstschule aufgenommen, obgleich die Probeblätter, die wir zu zeichnen hatten, mich als blutigen Anfänger zeigten und diesen Beschluß gewiß nicht rechtfertigten. So teilte mir Baurat Lüdecke, der Direktor, meine Aufnahme in ähnlichen Wendungen mit, wie mir Direktor Klettke vor Jahren die in die Sexta der Zwingerrealschule. Er sagte, ich sei noch ein sehr, sehr schwacher Kunstschüler, wie jener mich einen sehr, sehr schwachen Sextaner genannt hatte.

Die Leuchten der Kunstschule waren damals Professor Haertel, der Bildhauer, Professor James Marshall und Professor Bräuer, die Maler. Ich wurde keinem von ihnen zugeteilt, sondern kam in die Hände eines gewiß recht braven Handwerkers, der wohl ein mäßiger Stukkateur und sonst Gipsformer war. An Schulpulten sitzend, beschmierten wir Schüler schräggestellte Bretter mit feuchtem Ton und kopierten Flachreliefs von Mäanderbändern. Bei Baurat Stieler trieb man Bauzeichnen.

Als ich nach einigen Wochen mit der öden Verfertigung von Mäanderbändern genug Zeit vergeudet zu haben glaubte, revoltierte ich. Was ich brauchte und was mich anzog, war naturgemäß das Figürliche. Im Raum nebenan, bei Professor Haertel, wurden antike Büsten in Ton kopiert: Körperteile schöner Statuen, ein männlicher oder weiblicher Arm, eine männliche oder weibliche Hand. Das war es, wozu mein Wesen hindrängte.

Erst besprach ich die Sache mit Hugo Schmidt, der bei Bräuer untergekommen war. Man wußte allgemein, daß man bei dem Stukkateur nicht viel profitieren konnte. Zudem war der alte Mann ziemlich bösartig. Merkte er, man wolle in die ihm verschlossenen höheren Gebiete der Kunst hinauf, so ritt ihn der Teufel, einem die Freude doppelt und dreifach zu versalzen. Schmidt gab den Rat, in das Privatatelier des Professors Haertel zu gehen und ihm einfach zu sagen, daß ich sein Schüler werden wolle.

Eines Tages unternahm ich das.

Er sagte, so einfach ginge das nicht, ich müsse zunächst bei dem Stukkateur bleiben. Er wolle mich aber im Auge behalten, und wenn sich Gelegenheit böte, es mit Erfolg zu tun, bei einer der nächsten Konferenzen auf meinen Wunsch zurückkommen. Es sei erst anderthalb Jahre her, daß man die schlichte Gewerbeschule zur Kunst- und Gewerbeschule gemacht habe, weshalb ihm die alten Knaben von einst nicht grün seien. Man müsse deshalb mit Vorsicht zu Werke gehn.

Trotzdem, wenn auch vielleicht nicht im wesentlichen Teil meines Studiums, blieb ich vom lebendigen Fortschritt nicht ausgeschlossen. Hauptsächlich fördernd war ein Kolleg, das Professor Schultz über Kunstgeschichte zweimal zweistündig jede Woche las und das von Hugo Schmidt und mir jedesmal wie ein Fest genossen wurde.

Und wie hätte das anders sein sollen! Tat sich doch das Italien des Cinquecento und des Secento vor unseren schönheitsgierigen jungen Augen auf und füllte unsere Seelen mit Feuer. Es waren gleichsam die ersten Trünke, die wir taten aus jenem olympischen Element, das Göttern ewige Jugend gewährleistet. Nüchterner gesprochen: wir traten irgendwie in die Gemeinschaft von Halbgöttern ein, die das begeisterte Wort von der Lehrkanzel nannte, schilderte und freilich als unerreichbare Beispiele aufstellte. Jung, wie wir waren, störte uns die Unerreichbarkeit nicht. Dazu riß der lebendige Vortrag uns zu stark mit sich fort, durchdrang uns mit Selbstvergessenheit, und in dem Schwung, der uns über uns selbst und in das Bereich der Großen erhob, erschien sich jeder von uns einer der Ihren.

Und wie hätte es uns arme Jungens, die die meiste Zeit ihres Lebens in einer kunstfremden, ärmlichen Welt gefroren und gedarbt hatten, nicht wie ein wilder Rausch, ein wildes Glück, ja Größenwahn überkommen sollen, als man uns die schweren Tore herrlicher Paläste öffnete, durch die wir schaudernd eintreten, auf breiten Marmorstufen aufwärtssteigen und uns nach Belieben bewegen durften! Bis vor kurzem ahnten wir nicht die Existenz eines solchen Bereichs, geschweige, daß man es unseren eingesperrten, einer trüben Verzweiflung nahen Seelen öffnen werde.

 

Es gab also Menschen, ebenso gewaltig an Körperkraft wie an Geisteskraft, Menschen gab es von Fleisch und Blut, welche die männliche Schönheit eines Gottes mit dessen erhabenen Gestaltungskräften verbanden! Es war nur ein Schatten des Schattens gewesen, was mich von den Saalwänden meines Elternhauses so mächtig berührt hatte! Zu Raffael trat ein Michelangelo, zu diesem Bramante und Brunelleschi, göttliche Baumeister, Leon Battista Alberti, ein Übermensch. Da war ein Olymp, auf dem nicht nur zwölf Götter thronten: den Berg bewohnte ein großes göttliches Volk, das Werke von alles Irdische hoch überragender Schönheit zu schaffen vermochte. Sollte uns diese Erkenntnis, die uns so jäh überkam, nicht überwältigen?

Diese Vorträge von Professor Alwin Schultz verbreiteten eine Art warmen Goldlichtes durch die steinernen Räume der Schule. Aber noch mehr: sie hüllten die Schule selbst von außen in diese golden leuchtende, südliche Wärme ein, so daß sie gleichsam ihr Klima für sich hatte. Es war mir leicht, das mit den Erinnerungen an die Feigenbäumchen, Lorbeer- und Zypressenbäumchen, Oleander und Magnolien unseres Salzbrunner Warmhauses zu verbinden. Die Kälte und der Nebelregen, die ganze nasse Düsternis des endenden Monats Oktober konnte diesem Bezirk nichts anhaben. Wir lebten, festlich geborgen, darin.

Drei werdende Werke in nächster Nähe gaben mir weitere Bildungsanhalte durch ihre plastische Gegenwart. Professor Haertel hatte eine Porträtstatue Michelangelos modelliert, sie war für das neue Museum bestimmt, dessen Fundamente ich sah, als mich Carl, Ploetz und Schammel bei meiner Rückkehr aus Lederose nach Breslau vom Freiburger Bahnhof abgeholt hatten. Dieses Bildwerk begeisterte mich. Ich benutzte jede Gelegenheit, es wieder und wieder zu betrachten, etwa wenn der Schulpedell aufräumte und die Tür des Haertelschen Studios offenstand.

Der Maler James Marshall malte im ersten Stock und hatte eine Leinwand auf der Staffelei, die Mephisto als Faust mit dem Schüler darstellte. Ich kam in das prunkvolle Atelier, weil Marshall fand, daß ich ein gutes Modell für den Schüler abgeben würde, und mich um einige Sitzungen bitten ließ. Das brachte denn Schmidt und mich auf Goethes »Faust«, den wir dann zu lesen, uns gegenseitig vorzutragen und zu zitieren nicht müde wurden. Hugo Schmidt war ein Lessingfreund. »Hätte Lessing seinen ›Faust‹ fertiggemacht«, sagte er, »er würde den Goethischen überragt haben.«

 

Professor Bräuer im zweiten Stock arbeitete in eine mystische Wolke gehüllt. Man sprach in den allerhöchsten Tönen, oder besser, man flüsterte ehrfurchtsvoll von einem großen Christusbild, das sich die Nationalgalerie in Berlin bereits gesichert habe. Aus diesem Bilde stieg Jesus von Nazareth gleichsam täglich zu uns herab und trat als dritter zu Faust und Michelangelo, im Geiste uns jederzeit gegenwärtig.

An diesen Werken von verehrten Meistern nahmen wir mit dem Enthusiasmus von liebenden Schülern teil, so zwar, daß ich den Michelangelo Haertels am höchsten, Hugo Schmidt aber ihn weit weniger bewunderte als das Bild, an dem Professor Bräuer arbeitete.

Es wurde natürlich beinahe Tag und Nacht über Kunst philosophiert. Die Studierenden untereinander traktierten sich mit Rechthaberei und Überheblichkeit, wovon allein der Kreis um Hugo Schmidt, zu dem ich gehörte, eine Ausnahme machte.

Mehrere Maler, Puschmann und Max Fleischer, hatten sich ebenfalls dieser Gruppe angeschlossen. Puschmann, ehemals herumziehender Photograph, trug schwarzes Gelock und stets eine Samtjacke. Es war jener etwa siebenundzwanzigjährige Mensch mit dem stechenden Blick und der hektischen Röte auf den Wangen, der Miniaturkopien nach weiblichen Akten von Makart am Tage der Prüfung vorzeigen konnte, die ihm denn auch die Pforten der Schule geöffnet hatten.

In corpore wohnten wir eines Tages dem Begräbnis Karl von Holteis bei. Ich hatte die schöne, auffällige Greisenerscheinung mit dem weißen, bis auf die Schultern hängenden, wohlgepflegten Haar einmal auf der Straße gesehen. Ein unauslöschlicher Eindruck ist mir davon zurückgeblieben. Nun lag er im Sarg und wurde zur letzten Ruhe getragen. Ich hatte den Eindruck, daß die ganze Stadt mit ihm zu Grabe zog. Abertausende Menschen, unter die wir hineingerieten, gaben ihm das letzte Geleit.

»Im Munde der Unmündigen hast du dir dein Lob zugerichtet!« Ich war gerührt, als ich einen Jungen, der auf einem Lattenzaune saß, immer wieder sagen hörte: »Das ist der größte deutsche Dichter gewesen! Das ist der größte deutsche Dichter gewesen!« wiederholte er, unter eigener Rührung lehrhaft umherblickend.

 


 << zurück weiter >>