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Ohne Carl würde Neapel nur ein Durchgangspunkt für mich gewesen sein. Capri würde ich nicht besucht haben. Ich hätte das große Museum in Neapel, hätte Herkulanum und Pompeji gesehen und wäre über Brindisi, Korfu, Patras nach Athen weitergereist. Dieser Plan war zunichte geworden, aber nicht allein wegen der fortgeschrittenen Jahreszeit: er hatte in einer Überfülle neuer Eindrücke ertrinken müssen.
Meine hauptsächlich für Griechenland bestimmte Kofferbibliothek: Overbeck, Curtius, Perikles von Adolf Schmidt, Pausanias, Hettners Reise durch Griechenland und andere Werke, lag unberührt, freilich auch – ich hatte den ganzen Crowe und Cavalcaselle mit –, was sich auf italienische Kunst bezog.
Aber nun, zum schönen Schluß, wurde mir doch noch das Glück zuteil, eines der schönsten Denkmäler Großgriechenlands zu erblicken: die dorischen Tempel von Poseidonia.
So hatte meine Reise denn doch auf griechischem Boden zwischen den Säulen griechischer Tempel ihre Weihen erhalten.
Vielleicht ist es gut, daß ich die Tempelburg und den Tempelberg der jungfräulichen Göttin Athene nicht erreicht habe, deren Trümmerwelt meine Seele damals vielleicht nicht mit so tiefer und fruchtbarer Trauer erfüllt haben würde wie diese verlassenen rostroten Säulentempel, durch die man das Blau des Mittelmeeres leuchten sieht. Sie heben sich aus einer dichten grünen Wildnis von Farnkraut und Akanthus empor, jener Distelart, die das klassische Blatt für das Kapitell der korinthischen Säule gegeben hat, das vor noch gar nicht langer Zeit im Zeichensaal meine Vorlage war. Als ich den Akanthus nun als lebendige Pflanze vor mir sah, hatte dies etwas Traumhaftes: es hätte können auch Asphodelos sein. War doch um mich trotz allem Brennen der Sonne eine Art Versunkenheit und Verstorbenheit.
Schon die Wagenfahrt durch die brennend heiße, menschenleere Fieberebene bis zu diesem gewesenen Poseidonia glich dem Eindringen in ein Totenreich.
Die Räder mahlten bis an die Achsen im Staub.
Ich kann mich erinnern, wie uns ein hoher schwankender Postwagen in einer Wolke von Staub, Pferde, Postillon und schlafende Reisende fingerdick mit Staub verklebt, entgegenkam. Selbst oben auf seinem Deck, wie es schien, lagen Tote gestreckt, Schlummernde, die jenen von Asche verkrusteten Mumien glichen, die man in Pompeji gefunden hat.
Die Gegend schweigt unter einem Fluch. Die Felder flammen, der Weizen, das Korn. Ebenso flammt und brennt die Luft. Aber wenn man das Wesen dieses Fluches ergründen will, so ist es kein anderer als der, welcher über der ganzen Menschheit liegt. Er ist weniger wirksam im Kampfe der Menschen mit der Natur als im Kampfe der Menschen untereinander. Es ist seltsam zu hören, daß die durch Überfälle verödete Stadt durch Robert Guiskard aller noch vorhandenen schönen Säulen und Bildwerke beraubt wurde.
Poseidonia war achäische Kolonie, aber nicht vom Mutterland, sondern von Sybariten gegründet, sechshundert Jahre etwa vor Christi Geburt. Sie hat Münzen geschlagen, die Poseidon zeigen, wie er den Dreizack schwingt: bis heute haben sie sich erhalten. Das Leben dieser Griechenstädte muß einst im höchsten Glanze geblüht haben, mit Götterfesten und Wettspielen, wo hochgezüchtete Pferde, Traber und Renner, Kaltblüter und Ponys, zur Verwendung kamen und Kunst der Bildner in Erz und Stein.
Wenn dieser ewig verlorenen Welt einst das »Bis hierher und nicht weiter!« erklang, so erklang es zwischen den Säulen des Poseidontempels von Paestum in einem harmlosen Sinne auch mir. Von diesem Punkt an begann meine Rückreise.
Ich nahm noch eine griechische Vase mit, die ich von einem Landmann erwarb, der unweit der Tempel einige Beete rodete. Er führte mich eine halbe Stunde weit auf einem schmalen Pfad durch Farne, Akanthus und hohes Gras bis zu einer Turmruine der römischen Stadtmauer, in deren regendichtem Untergeschoß er mit seiner Familie, wie Tiere des Feldes in ihrem Bau, Unterschlupf gefunden hatte. Das schwarzfigurige Väschen aus Ton wurde mit großer Feierlichkeit aus vielen Hüllen herausgeschält, und mir stockte das Herz, als ich es schließlich mein nennen durfte.
Direktor Brinckmann vom Kunstgewerbemuseum in Hamburg hat es später als moderne Fälschung festgestellt.
Ich gelangte nach Rom, weil es auf meinem Wege lag. Kaum aber war ich da, glaubte ich, daß ich nur diese und diese Stadt gesucht hätte. Ich fühlte nach wenigen Tagen, daß ich ihrer Atmosphäre erlegen und bereits darin heimisch war.
Ich sah den Moses des Michelangelo am Grabmal Julius des Zweiten. Die Pietà im Petersdom, die Bildhauermalereien der Sixtinischen Kapelle erschütterten mich. Ein männlicher Torso im Vatikan zog mich immer wieder an, das Reiterbild Mark Aurels auf dem Kapitol, die Dioskuren mit ihren Rossen und die Menge anderer Plastiken taten ihre Wirkung auf mich. Ich konnte zunächst nur noch eines denken: hier als Bildner neu zu beginnen, zu wachsen, zu reifen und womöglich zu enden.
In dem erneuten Entschluß, Bildhauer, nur Bildhauer zu sein, hatte sich, so schien mir, der geheime Sinn meiner Reise plötzlich offenbart. Wollte man aber diesem Gedanken dienen, so konnte man es nicht in Breslau, nicht in Berlin, selbst nicht in Dresden, überhaupt nicht im formenfeindlichen Klima des Nordens tun, ebensowenig wie man dort im Winter außerhalb des Treibhauses Orangen ernten konnte. Es mußte im rechten Klima, auf dem rechten Boden, im Zusammenhang mit einer treibenden, wachsenden, strömenden und tragenden Tradition geschehen: und ihr, deren Strömung ich mächtig um mich zu fühlen glaubte, wollte ich mich sobald wie möglich hingeben.
Ich sage nicht mehr von meinem ersten römischen Aufenthalt, der sich bis zur Mitte des Juni erstreckte. Ich bekam dann in Abständen Schüttelfröste: Anfälle der gefürchteten Malaria.
Und so war meines Bleibens nicht mehr. Moskitos, Hitze, stickige Zimmer der kleinen Pension taten das Ihre, mich zu vertreiben.
Zerzaust, ramponiert und äußerlich elend kam ich heim, aber im Innern aufs höchste bereichert.
Mary erschrak, als ich in Hohenhaus auftauchte. Aber nach kurzer Zeit haben mich die Hohenhauser Fleischtöpfe und das Hohenhauser Glück wieder instand gesetzt.
Es wollte mir freilich nicht mehr gelingen, in dem schönen Elbtal so viel Glanz und Farbe wie früher zu sehen. Nach der Farbenschwelgerei im Süden erschien mir die Landschaft wie ausgebleicht und abgeblaßt.
Das änderte sich, als eine, als die zweite Woche vorüber war; Auge und Seele hatten ihre angeborene Empfänglichkeit und Reizempfindlichkeit der schlichteren Heimatwelt gegenüber wiedergewonnen.
Ja, ein wahrer Heimatrausch kam dann über mich: es war etwas Fröhlich-Sinnenfrohes, Unbesorgt-Barbarisches! Schon in München bei der Durchreise hatte ich es gefühlt. Selbst der letzte Schüttelfrost, den ich dort im Hotel zu bestehen hatte, unterbrach ihn nicht.
Mit Max Fleischer, der inzwischen die Akademie in München bezogen hatte, brachte ich früheste Stunden in einem Biergarten zu und dachte nur mehr in Maßkrügen und Weißwürsten.
Zwar erzählte ich den Hohenhauser Schwestern von den Ereignissen meiner Reise mit Lebhaftigkeit. Ich hatte in ihnen gespannte Zuhörer. Aber irgend etwas in meinem Innern tauchte mit der leisen Frage auf, ob unter dem glücklichen Himmel Italiens das Dasein wirklich eine entsprechende und nicht vielmehr eine schwere, schicksalbelastete Form habe.
Schweres brütete über Capri: der düstere Geist des Tiberius! Drohend Schweres kündete der herrliche Anblick des Vesuvs: Pompeji und Herkulanum waren geöffnete Gräber! Glühende Trauer zitterte über den Tempelresten in der vergifteten Luft von Poseidonia, entthrontes Leben, entthronte Götter füllten die Räume der Museen von Neapel an. Und in Rom: welche Sprache spricht Michelangelo! Da ist die ernste Gewalt des Moses, der Schmerz einer Pietà, der Höllensturz in der Kapelle des Vatikans.
Das alles atmete eine furchtbare Größe, die nicht leicht zu tragen war. In dem unmittelbaren, gesunden Heimatssein war jede Bürde dieser Art abgeworfen.
Natürlich gab es nichts, was ich Mary nicht beichtete. Sie erfuhr von allem, auch von meinen Erlebnissen in den öffentlichen Häusern von Malaga. Nun, in diesen gesegneten Juniwochen war unser Teil volles Genügen und reine Wunschlosigkeit.
Trotz einer gleichsam seligen Unverlierbarkeit mußte ein solcher Zustand doch nach einiger Zeit von anderen abgelöst werden. Schließlich waren die Flutungen des Innern und mit ihnen die Vernunft wieder aufgewacht. Wir standen in der Not des Lebens, hatten den Anforderungen, die die menschliche Gemeinschaft stellte, Genüge zu tun. Mein Fortkommen mußte beraten werden, und ich hatte vor allem meinen Romplan bei der Geliebten durchzusetzen. Ein Entschluß nämlich, im Herbst nach der Ewigen Stadt überzusiedeln, um fortan alle meine Kräfte auf die Bildhauerei zusammenzuziehen, hatte in mir Gestalt gewonnen.
Ich fand bei Mary kaum einen Widerstand.
Carl hatte Ploetz in Zürich besucht, arbeitete in Jena auf seinen Doktor hin, den er im Herbst zu bestehen gedachte; dann wollte er sein Militärjahr abdienen.
Max Müller kam öfters von Dresden und brachte seinen Freund Max Umlauft mit, und die beiden konzertierten auf zwei Klavieren. Sie beseelten die Hohenhauser sommerliche Geselligkeit.
Ich konnte plangemäß nach Italien aufbrechen, um die Vita nuova in Rom zu beginnen.
Er wurde der schicksalschwerste, dieser römische Winter, aber auch der beträchtlichsten einer, die ich erlebt habe, wenn ich auch am Schlusse in einem gewissen Sinne wieder gescheitert bin.
Ich traf bei der Ausreise in der Bahn jenen Maler Nonnenbruch, der sich in Capri Carl und mir durch Preisgabe unserer jugendlichen Ideen so übel empfohlen hatte.
Sein Weg führte ebenfalls nach Rom.
Da er ein böses Gewissen nicht zu haben schien, mir überaus freundlich und heiter entgegenkam, ließ ich Vergangenes vergangen sein.
Nonnenbruch war ein gewandter Mann. Die schöne Fahrt in den südlichen Herbst, der dunkle Wein, die herrliche Fruchtfülle, frische Trauben, Feigen und Nespoli ließen weder in Verona noch in Florenz, wo wir Station machten, Unstimmigkeiten aufkommen. Angelangt auf dem Boden Roms, gingen wir jeder seiner Wege.
Auf dem Monte Pincio fand ich ein kleines, nettes Gelaß, in dem eine Feldbettstelle, ein Stuhl, ein Waschtischchen und ein anderes kleines Tischchen gerade Platz hatten. Sein Fensterchen und ebenso seine Tür gingen auf einen verglasten Gang hinaus.
Die ganze Wohnung, die eine Witwe innehatte, war mit roten Ziegeln gedielt und gehörte zu einem alten Haus, das wohl schon Jahrhunderte erlebt hatte.
Als meine Schlafstelle gesichert war, suchte ich einen Arbeitsraum. Ich hatte keine glückliche Hand. Er lag in der Via degli Incurabili und hat mich beinah für ein halbes Jahr in eine sonnenlos-kellerige Atmosphäre gebannt.
Ich habe keinen Berater gesucht, und es trug sich auch keiner an. Die Wahl aber dieser überaus ungesunden Arbeitsgelegenheit hat meine spätere Abkehr von der Bildhauerei mitbestimmt. Einstweilen fühlte ich mich geborgen darin.
Ich wurde als »Gherardo Hauptmann, Scultore«, in das römische Geschäfts- und Berufsadreßbuch eingetragen und ließ mir außerdem Karten mit meinem Namen und dem Zusatz »Scultore, Via degli Incurabili, Roma« anfertigen.
Diese kleinen Anmaßungen waren ein durchaus nicht zu verachtender Schritt. Mein Selbstbewußtsein wurde durch sie gestärkt und mein Wesen zu jedem möglichen Aufwand von Fleiß und Mühe verpflichtet, um das zu sein, was zu sein ich behauptete.
Ich hatte mir einige gebrauchte Gerätschaften zusammengekauft, eine Staffelei, an die ich ein Tonrelief lehnen konnte, mehrere Drehstühle, auf denen man Büsten und kleinere Arbeiten in Ton ausführen konnte. Kisten ersetzten Tische. Ein Falegname hatte mir eine große, fichtene Platte zurechtgehobelt und zurechtgeleimt, die auf Böcken lag und den Tisch für alles darstellte. Hier wurden Briefe geschrieben, lagen Stifte, Zeichenkohle und Papierrollen, Gipsabgüsse, Hände, Arme, Füße, die ich nach und nach erwarb, und anderes mehr.
Auf einem Wandbrett lag und stand weiteres herum: Hämmer, Draht, ein kleines Beil, Wasserglas und Wasserflasche, Künstleranatomien und andere Bücher, vor allem der, ich glaube, von Cornelius herausgegebene »Polyklet«, ein Werk, in dem die Maßverhältnisse des idealen menschlichen Körperbaus mit Hilfe von Lineal und Zirkel erörtert werden.
Der große Kasten, in dem ich Ton vorrätig hatte und feucht halten mußte, fehlte nicht, ebensowenig ein Wasserhahn und schließlich auch nicht ein enger, scheußlicher Nebenraum mit dem kleinen, runden Loch in dem steinernen Fußboden.