Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Einunddreißigstes Kapitel

So wurde denn Hugo Schmidt gleichsam ausgegraben. Als wirklich auf mein Telegramm nach Breslau seine Zusage kam, war es mir, als ob ich von einem Verschiedenen aus dem Jenseits Antwort erhielte. Als er in Dresden auftauchte, schien etwas wie eine Totenerweckung im Spiele zu sein.

Gruben hieß der kleine Ort unweit Meißen am linken Elbufer, wo wir drei frohsinnigen jungen Menschen, Oskar Müller, Hugo Schmidt und ich, alsbald Fuß faßten. Wenn man den Dampfer verlassen hatte, stieg man durch eine waldige Schlucht hinauf. In neuester Zeit waren hier Stahlquellen entdeckt worden, und ein ehemaliger Schuhmachermeister, jetzt Verweser der Postagentur, auf dessen Grund sie entsprangen, hatte sie fassen lassen und ein gar nicht kleines Logier- und Badehaus darüber gebaut.

Badegäste außer uns dreien sah man nicht.

Das Dörfchen hatte wenig Häuser und einen hübschen Baumbestand, was alles wie eine Insel im Gelände lag, von weitem, baumlosem Feld umgeben.

Schmidt war auf Landschaftsstudien aus, Oskar Müller hatte den dankenswerten Idealismus, sich mein fertiggewordenes Drama »Tiberius« ins reine diktieren zu lassen.

Es war eine hübsche Idylle, die wir gemeinsam in Gruben erlebten. »Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein, bei einer Frau Wirtin, da kehrten sie ein . . .« Nur das echte Volkslied im Sinne von »Des Knaben Wunderhorn« wäre würdig und fähig, sie zu gestalten.

Ich möchte glauben, wir waren damals die drei hübschesten Burschen weit und breit. Ludwig Richter hätte wohl jedem von uns ein Ränzel auf den Rücken gegeben und uns als wandernde Handwerksburschen oder besser als Studiosen, sogenannte Schützen, dargestellt oder aber so, wie wir waren, in Jugendblüte, jeden mit einem dichten Gelock hellen Haars.

Ja, wenn ich nur wüßte, was wir damals geredet, welche ewigen Fragen wir gelöst haben und warum wir so glücklich gewesen sind!

Ich bereitete einen kleinen Polterabendscherz für den Herbst zu Carls Hochzeit vor, in dem ich eine Gestalt, die ich selbst zu spielen gedachte, den »Leichtsinn« nannte. Der Begriff aber, der nur zeigt, welches Grauen ich vor dem römischen Schwersinn noch immer hatte und wie ich ihn ganz entschieden verwarf, deckte sich mit unserem seelischen Zustand nicht: er war Jugendbesitz, Gegenwartsfreude, Freundschaft, verbunden mit einem Bewußtsein, in die Schönheit der Welt, die Schönheit des deutschen Landes, die Schönheit des Sommers hineingeboren zu sein.

Es war noch mehr: Bezauberung, wie sie Eros nur selten gewährt.

Denn wir hatten noch nicht den ersten Tag in dem Badebereich des Posthalters zu Ende gelebt, als er uns auf der einsamen Dorfstraße drei unternehmende junge Kinder, zwischen sechzehn und achtzehn Jahren, die allerhübschesten Mädchen im Umkreis, entgegenschickte.

Mein Ehrgeiz schwieg. Oskar Müller war ein Mensch, dem die Sache, in diesem Fall das medizinische Studium, alles bedeutete. Hugo Schmidt suchte und fand überall das Schöne in der Natur, seine Kunstübung beglückte ihn, mehr begehrte er nicht.

Wenn so am ewig morgendlichen Himmel unserer Seelen kein Wölkchen stand, so war auch am wirklichen Himmel keines zu sehen. Die Vögel sangen, die Linden blühten und dufteten, mit brausendem Geräusch schwelgten die Bienen darin. Und die drei Mädchen, unsere drei weizenblonden, übermütigen Schicksalsschwestern, paßten uns, wo wir gingen und standen, auf den Weg.

Anderthalb Stunden zu Fuß entfernt, aber jenseits der Elbe, lag Hohenhaus. Es dort zu wissen, genügte beinah. Auch hatte die Trennungslinie des Stromes eine gewisse Wichtigkeit. Hier war eine andere, dem Jenseitsgestade merkwürdig fremde, unbekannte Welt, von der nichts über die gleitende Breite des Wassers hinüberhallte.

Des Sonntags pflegten wir überzufahren und mittags auf Hohenhaus zu sein. Da war alles so freundlich und lieb wie sonst, aber immer umgeben von einem festen und schweren Rahmen der Bürgerlichkeit.

Gern waren wir hier, und gern gingen wir wieder nach Gruben zurück.

»Hol über! Hol über!« riefen wir dann am Elbufer.

Der Fährmann kam und erfüllte unser Begehren, und bald darauf waren wir wieder vom Gelächter und Gelock unserer drei sorglosen Eintagsfliegen umhüllt.

War es Sünde gegen Mary oder Verrat an ihr, wenn ich es duldete, daß die übermütigste Roggenmuhme sich bei mir einhenkelte und an mich anschmiegte? Wenn es Sommer war und der Weizen volle Ähren neigte, die goldene Hitze des Mittags alles ineinanderschmolz, warum sollten da Jugend und Jugend, Übermut und Übermut, Frohsinn und Lust sich durch eine eisige Trennungsschicht auseinanderhalten?

Nein, dafür bestand weder im Himmel noch auf Erden eine Notwendigkeit.

Ja, wir waren frei und gewissenlos. Und diese Gewissenlosigkeit, die uns im Lebens- und Selbstgenuß sicher machte, einen Schuldbegriff überhaupt nicht aufkommen ließ, war mit das schönste Geschenk dieser Zeit.

Kläre, Käthe und Ännchen hießen sie, die uns naturwesenhaft, wie schöne Dämonen des Getreides, Kinder der Luft, des Wassers, des Bodens und der Sonne gleichsam, umflügelten.

Käthe hatte dieselben veilchenblauen Augen, die mein Vater besaß. Aus ihnen leuchtete ein kühner Wille, blitzte Entschlossenheit. Es war eine unnachahmliche, freie Geste, wenn sie ihr Lockengekringel stolz in den Nacken warf: triumphhafte Freude, aber verloren in Zärtlichkeit.

Der Postverwalter war Badeverwalter, Bademeister, Badearzt, Bürgermeister zugleich. Einige Dummschläue muß wohl in ihm gewesen sein, sonst hätte er den Gedanken, seine Quellen auszunützen, nicht so weit verwirklichen können. Uns erschien er beschränkt und gutmütig.

Die Postagentur war zugleich seine Wohnstube. Dort haben wir den Witwer zuweilen mit seinem eigenen schlechten Wein betrunken gemacht und persönlich zu Bett gebracht.

Hier schlief er sanft, während wir drei Gewissenlosen die Postagentur mit dem Glanzledersofa, dazu Kläre, Käthe und Ännchen für uns allein hatten.

 

Carl, der Gefreite, durfte außer mit Urlaubsschein das Weichbild von Dresden nicht verlassen. Er erschien trotzdem eines Nachmittags. Die Freude war groß, und das eingeleitete Trinkgelage nicht unerheblich. Carl, der gut mit seinem Feldwebel stand, hatte nichts zu fürchten, wenn er rechtzeitig wieder in Dresden war.

Er mußte eine bestimmte Bahnstation jenseits der Elbe vor Mitternacht erreicht haben, da am folgenden Morgen bereits um fünf die große Felddienstübung begann. Da aber dem Glücklichen keine Stunde schlägt, war die des Aufbruchs unbemerkt vorübergegangen. Als es Carl zum Bewußtsein kam, sprang er auf und schreckte nicht davor zurück, viereinhalb deutsche Meilen oder dreißig Kilometer im Dauerlauf zurückzulegen.

Wir nahmen den überschwenglichsten Abschied, und Carl, das Seitengewehr an die Hüfte drückend, stürmte unter Zurufen im Laufschritt davon und verschwand im Dunkel. Als er sein Ziel erreichte, war, wie er später erzählte, die Truppe schon angetreten, und er kam mit einem leichten Rüffel davon.

Die sechs- oder siebenstündige Felddienstübung hat er dann noch in überraschender Frische durchgehalten.

Das war Carl in seiner besten Epoche, wo seinem energischen Willen alles erreichbar schien.

 

In Meißen, auf einem Felsen über der Elbe, liegt die Albrechtsburg. Bis dorthin war es eine angenehme Fußwanderung am linken Elbufer. Wir besuchten den mittelalterlichen Bau, um geistig ein Wiedersehen mit James Marshall zu feiern, dem trunkenen Faun und Maler der Breslauer Kunstschule, der dort einige Wände mit historischen Szenen geschmückt hat. Ob und wie der Meister damals vor unserem kritischen Urteil bestand, weiß ich nicht.

Hugo Schmidt, der ihn noch vor kurzem in Breslau besucht hatte, erzählte von ihm.

Er hatte ein Zimmer, nicht wesentlich größer als sein Bett, in der Wohnung eines Dienstmannes inne. Der Packträger, wie man diese Berufsleute schlechthin nannte, hatte ihm einen Tisch und einen Stuhl unter dem einzigen, kleinen Fenster aufgebaut. Hier zwang er den alten Faun zu arbeiten. Er sorgte für alle nötigen Utensilien, betrachtete sich dafür aber auch als den gegebenen Eigentümer alles dessen, was der Meister an Zeichnungen und kleinen Gouachemalereien schuf.

Für Getränke ward Sorge getragen.

Der gerissene Eckensteher und Impresario fuhr selbstverständlich nicht übel dabei.

Die Kunstschule oder die Verwandtschaft kümmerte sich um die geniale Ruine nicht.

 

Wir hatten in Gruben noch manchen übermütigen Augenblick. Unter duftenden Büschen hatte sich der Wagen eines Puppentheaters für die Monate der Geschäftslosigkeit niedergelassen. Als wir in Gruben einzogen, stand er da und ebenso, als wir wieder davongingen.

Zuweilen bewogen wir den Besitzer und seine Frau, für Kläre, Käthe und Ännchen uns eine Extravorstellung abzuhalten. Natürlich fand sich ein, was von der Dorfjugend Wind davon bekam.

Die Leute hatten ein großes Repertoire, und so ließen wir uns auch den »Faust« vorspielen. Die Freude der lieben Kinder Kläre, Käthe und Ännchen war groß. Alle Liebe wurde von Hanswurst, alles Grauen und aller Haß wurde vom geschwänzten Satan und dem Zauberer Faust ausgelöst.

Dieses ganze, voraussetzungslose Natursein war im höchsten Grade ausruhend. Kläre, Käthe und Ännchen waren so herrlich unbeschwert, so ganz ohne geistiges Gepäck. Weil sie lebten, lebten sie! Sie liebten, weil eben eine Blume nicht anders kann und blühen muß. Fragliches gab es bei ihnen nicht. So heiter, feurig und fertig waren sie aus Gottes Händen hervorgegangen, zur Liebe bestimmt, zur Liebe gemacht und keiner anderen Glückseligkeit weder im Himmel noch auf der Erde gewärtig: begnadet mit der Bestimmung eines durch den Sommermorgen gaukelnden bunten Schmetterlings.

Die Grubener Idylle hatte bald ihr Ende erreicht. Die wenigen Stunden täglichen Diktats an Oskar Müller haben es nicht gestört. So stark war die Sonne, daß selbst der furchtbare Schatten eines Tiberius die Luft nicht abkühlen noch verdüstern konnte.

Ich verließ den Ort mit dem fertigen Drama in der Hand.

 


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