Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Achtes Kapitel

In Breslau, wohin ich zurückkehrte, traten diese Ereignisse bald zurück. Das Zentrum meiner Teilnahme lag wiederum in mir, statt außer mir. Mein eigenes Wesen, Werden und nebelhaftes Wollen wurde wieder die Hauptsache, ich mir selber der einzig wahre Besitz. Trotzdem blieb ich ins Leben verstrickt.

Nicht nur, daß meine manuellen Übungen am nassen Ton ihren Fortgang nahmen, das Drama »Germanen und Römer« mich beschäftigte, es bestand auch der alte Freundeskreis, zu dem sich ein junger, wohlerzogener Mensch aus Wien namens Thilo zuweilen gesellte. Er war nicht ohne Bedeutung für mich.

Thilo, um weniges älter als ich, in Wien, einer mit Bildungselementen überladenen Atmosphäre, aufgewachsen, war mir an sicherer Bildung und Reife voraus. Er schloß sich mir an, weil er von meinen Seltsamkeiten gehört, mein suchendes Wesen erkannt und den Gedanken gefaßt hatte, daß er mir etwas nützen könne. Er wies mich auf eine Dichtung »Der entfesselte Prometheus« von Lipiner hin, die er mir nachher dedizierte und die mich lange beschäftigt hat.

Er aber war es, und das ist mehr, von dem ich die Namen der großen Drei: Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi, zuerst gehört habe.

 

Professor James Marshall war seines Lehramtes an der Kunstschule enthoben worden: ein Fall, wie er einem genialen Menschen und Maler gegenüber sich heut wohl kaum ereignen würde. Er hatte Schulden, er trank eine Menge Bier und Wein, aber ich möchte doch glauben, daß er nicht nur im Kreise der Schule eine hochbedeutende künstlerische Erscheinung war.

Ein Teil seiner Bilder war aus E. T. A. Hoffmannschem Geiste hervorgegangen. Ein Deckengemälde im Dresdner Opernhaus und einige Wandmalereien der Meißener Albrechtsburg stammten von ihm. Er war ein Meister in Miniaturen. Einige seiner Fächer mit figurenreichen Historienbildern befanden sich im Besitz der russischen Kaiserin. Das Atelier dieses Mannes war eine hochromantische Seltsamkeit, vor allem er selbst, der nicht in Breslau, sondern in der Atmosphäre des Musikus Kreisler, der »Elixiere des Teufels« und, mit seiner feinen, geistvoll stechenden Sinnlichkeit, in der Boccaccios zu Hause war.

Marshall war im Hinterstübchen einer Kneipe untergekommen; dort bildeten junge Desperados, zu denen auch ich wiederum gehörte, immer noch einen Kreis um ihn. Zigaretten rauchend und trinkend, hielt der faunische Mann mit dem faunischen Mund seine Vorträge. Ich habe nicht wenig von ihnen gelernt. Er wies uns auf E. T. A. Hoffmann hin. Er knüpfte daran Vasarigeschichten, mit denen er die kunstgeschichtlichen Vorlesungen des Professors Schultz gleichsam privatim weiterführte. Die weimarische Liszt-Epoche spukte in ihm. Vom Meister selbst und seinem Fürstentum wußte er allerlei hübsche Geschichten, die vom Himmel durch die Welt zur Hölle führten und wieder zurück. Er ließ uns erkennen, inwieweit der Gespenster-Hoffmann auch in Liszt steckte.

Cornelius, Carstens, Genelli wurden von ihm oft genannt, obgleich er andere Wege ging. Kurz, mancher lebendige Funke gleichsam unbekannter Sonnen ist in der Höhle dieses Exmittierten, Ausgestoßenen, neben die Gesellschaft gesetzten genialen Verbannten auf mich übergesprungen.

 

Eine Vorliebe für die Stunden vor Tagesanbruch war mir aus den Lederoser Zeiten treu geblieben. Was dort aus Zwang zur Neigung sich entwickelt hatte, trat nunmehr als Neigung auf. Ich erhob mich öfters, auch im Winter, des Morgens um vier, um die verlassenen Straßen bei schlechtem, bei gutem Wetter zu durchwandern.

In dieser Zeit, wenn der Schlaf die Großen und Kleinen der Welt umfing, war die Seele eine ganz andere geworden. Ganz anders als unter den Spannungen und harten sinnlichen Eindrücken des Tages konnte sie sich ausweiten: die Abertausende von fixen und trivialen Gegenständen waren nicht mehr. Über die Verstorbenheiten dieser weiten, köstlichen, nächtlichen Öde dehnte sich und gebot nun Phantasie. Tiefen Genüssen war ich da hingegeben. Und mehr noch fremdem und großem Fühlen, wunderlich tiefen Gedanken und Erlebnissen, die man wohl Erleuchtungen nennen mag.

Überdies frönte ich neben dem Hange, durch Einsamkeit mich selbst zu besitzen, dem zur Beobachtung. Ich gebrauchte meine Augen, meine Ohren bewußt und mit Leidenschaft. Von der ersten Regung des städtischen Lebens an verfolgte ich es, bis seine tägliche Lärmsinfonie voll im Gange war. Die Einzelvorgänge boten mir, einander ablösend, großen Reiz, von dem ich mich jedesmal nur ungern trennte. Immer wieder faßte ich mir an den Kopf in dem Gedanken, wie köstlich es sein würde, wenn man sie festhalten und künstlerisch gestalten könnte, aber zugleich auch in dem andern, daß der Versuch, es zu tun, mir nur meine Ohnmacht beweisen mußte.

Der ewige Dialog hinter meiner Stirn verdichtete sich nicht selten bis zum geflüsterten Selbstgespräch, darin nach so oder so gearteten staunenden Ausrufen schwierigste Fragen der nachgestaltenden Kunst erörtert wurden. Das Verhandeln mit mir selbst hatte ich mir ebenfalls in Lederose angewöhnt.

Diese Vigilien trieben mich in allen Teilen der Stadt herum, deren altertümliche Schönheiten ich so erst lieben lernte. Die wunderbare Gotik des Rathauses fesselte mich halbe Stunden lang: gleichviel, ob es als Ganzes unterm kalten Licht des Mondes stand oder nur dies oder das aus der Fülle seiner Einzelheiten durch die Gaslaternen des Ringes herausgehoben wurde. Hier wurde mein Sinn für Baukunst geboren, hier trieb ich, wenn ich von den Bauklötzen meiner Kindheit absehe, autodidaktisch mein frühestes Architekturstudium.

Von der Begegnung mit den letzten Nachtschwärmern, die trunken und schläfrig heimtaumelten, bis zu dem Augenblick, wo sich die städtischen Nachtwächter gut gelaunt voneinander verabschiedeten, weil sie nun einen heißen Kaffee und ein warmes Bett witterten, von dem ersten fröhlich pfeifenden Bäckerjungen, der mit einem Korb warmer Semmeln vorüberduftete, bis zum ersten Bäckerladen, dessen Läden geöffnet wurden, vom ersten Dienstmädchen, das in diesen Laden trat und mit der sauberen Meisterin plauderte, bis zum ersten Schlachterwagen, der durch die Straßen rumpelte, von der ersten Gepäckdroschke, die mit einem frühen Reisenden zum Bahnhof schlich, bis zur hübschen Kalesche, die den reichen Geschäftsmann in sein Kontor brachte – was war da nicht alles zu bemerken! Und wie spannend und erregend war da die Fülle der Gesichte, die wie ein Strom bei Hochwasser stieg und schließlich jeder Bewältigung spottete.

 

Ein imaginäres Erlebnis kam um jene Zeit hinzu, das meine Seele verzauberte und sie in schwärmerischen Trug verflocht.

Zwar hatte das Bild Anna Grundmanns im hellen Licht des Tages, des nüchternen Wachseins, ungeschwächt seine alte Macht über mich, aber in gewissen dämmrigen Regionen der Seele war es durch ein anderes verdrängt worden: das eines schönen Mädchens namens Lou. Ich liebte es, liebte die schöne Lou mit einer schwermütig süßen Entsagung, einer Empfindung so traumhaft zart, wie sie mir niemals wieder geschenkt worden ist. Diese Lou, diese schöne Lou wurde von zwei Brüdern geliebt und liebte zwei Brüder. Für welchen sie sich entscheiden sollte, wußte sie nicht, und an diesem Dilemma ging sie zugrunde.

Also die schöne Lou war nicht mehr am Leben, sie war tot. Aber das war meiner Liebe nicht abträglich, um so näher war mir ihr trauriger, holder, verzweifelter Geist. War ich in einem früheren Leben einer von den zwei Brüdern gewesen? Mir kam es vor, als habe sie mich gesucht und gefunden, um in der Wärme meiner Seele, wenn auch noch so kurze Zeit, von den Schmerzen ihrer unheilbaren Wunde auszuruhen. Aber fast zum Wunder erhebt sich das Wunderliche solcher irrationalen Umstände, wenn ich nun weiter bekennen muß, diese unglückselige Lou hat überhaupt nie anders als so gelebt. Sie ist in einer Seele entstanden, in einem Haupte gestaltet, von einem Geiste ins Leben gesetzt worden, wodurch ihr Leben, ihr Schicksal, ihr Leiden unsterblich geworden ist.

Wie aber kommt etwas, das nie gelebt hat, zu Unsterblichkeit, zu der physischen Macht, die es über mich ausübte?

Es war, trocken gesagt, ein Roman von Charles Dickens, »Harte Zeiten«, der mich damals in seinem Bann hielt.

Überall war sie mit mir auf meinen nächtlichen Gängen, die schöne Lou. Und seltsamerweise brachte sie etwas vom außerirdischen Wesen jener Töne mit, die mich das bucklige Täntchen Auguste am Flügel bei den Schuberts eines Tags hatte hören lassen. Ein weher Himmel summte mir immer gleichsam im Ohr, eine weiche, flehende Hand lag mir am Herzen. Und irgendwie war es mir, als hätte ich keine Erdenschwere mehr und wäre mit allen lebenden Wesen innerlich eins geworden.

Wir wissen alle aus den begnadeten Augenblicken unseres Mozart, unseres Beethoven, daß die Mischungen aus Schmerz und Lust zu den innigsten Erschließungen unaussprechlichen Fühlens führen können. Das tat mir der Geist der zarten, der stummverzweifelten Lou, die in ihrer blumenhaft zarten Seele, von allem Gewaltsamen ewig fern, dennoch Hand an sich selbst legen mußte. Ich flüsterte: »Lou!«, wo ich ging und stand, ich schrieb den Namen wieder und wieder in den Hauch des Fensters, nie aber in den Sand oder gar mit Stift oder Feder in ein Buch.

War ich reich, hatte ich fünfzig Pfennig in der Tasche, so schloß ich gleichsam mein unterirdisches Abenteuer mit einer Tasse Kaffee ab, die ich in einer entlegenen kleinen Konditorei zu mir nahm. Meistens war die Magd noch beim Auskehren, und ich konnte als einziger Gast dem Erlebten nachhängen, bis es das Licht des Tages begrub.

Meine Beziehungen zu einer Freien Wissenschaftlichen Studentenvereinigung, deren Kneipe ich regelmäßig besuchte, hatten auf den Schüler der Kunstschule noch gleichsam einen irregulären Studenten gepfropft. Meine Gelehrigkeit und Fähigkeit in den Trinksitten konnte meiner Gesundheit nicht zuträglich sein. Es war mir ein leichtes, auf einen Zug ein Halblitermaß Bier in den Schlund zu stürzen. Es fing damit jenes schauerliche Gesäufe an, ohne das ich mir bald die Welt nicht mehr vorstellen konnte.

Der Winter war hart, der Hunger pochte nicht selten an meine Tür, alles nicht Niet- und Nagelfeste lag beim Pfandleiher. Hätten nicht meine Bettel- und Borgbriefe hie und da Erfolg gehabt, würde dies Leben wohl kaum weiterzuführen gewesen sein.

Es scheint fast unglaublich, daß ich bei dieser Lage noch das Lobetheater besuchen und – allerdings von der Galerie – gemeinsam mit Hugo Schmidt den Hamlet, gespielt von Barnay, sehen konnte und daß meine Stimmung im großen und ganzen zuversichtlich und ohne Trübsinn war. Auf Professor Haertels Empfehlung und auf Grund der künstlerischen Begabung, die er mir attestiert hatte, wurde mir das Examen für den Einjährig-Freiwilligen-Dienst gleichsam erlassen. Damit hatte sich die schwarze Wolkenwand eines dreijährigen Militärdienstes denn verteilt.

 

Georg hatte, wie ich von Hause erfuhr, ein Kaffeegeschäft unter der Firma Gläser & Co. in Hamburg gekauft. Mit wessen Geld, ist leicht zu erraten: natürlich bot Tante Mathilde die Mittel dazu. Wenn Georg im Frühjahr in aller Form um die Hand Adelens anhielte, was beabsichtigt war, so brauchte er nicht mehr in der kläglichen Rolle des stellungslosen Kaufmanns aufzutreten.

Es wurde viel von Hamburg und Kötzschenbroda gesprochen, als ich zu Ostern wieder bei den Meinen im Bahnhof zu Sorgau war. Nach Hamburg war besonders der Blick meines Vaters gerichtet. Dort hatte nun also ein Pionier der Familie Fuß gefaßt. Mit Verlangen blickte der nun wohl sechzigjährige Mann auf die Handelsempore hin, wo ein Leben pulsierte, nach dem er sich seit der Rückkehr aus Paris gesehnt hatte.

Er hatte nutzlos sein Leben in einem Winkel vertun müssen, wo ihm alle Versuche, mit einer lebendig werdenden Zeit Schritt zu halten, fehlschlugen: das Leinengeschäft, das Kohlengeschäft, die Gasanstalt waren in andere Hände übergegangen. Freilich an die eine Möglichkeit, den Brunnen im Hause, die Kronenquelle, zu fruktifizieren, was die neuen Besitzer des Gasthofs sogleich mit Erfolg taten, hatte er nicht gedacht.

Die Begegnung mit Berthold Thienemann in der Eigenschaft eines Bahnhofsrestaurateurs muß meinem Vater nicht ganz leicht geworden sein. Fast möchte ich glauben, daß mit dem Auftauchen dieses Mannes meinem Vater der Bahnhof verleidet wurde. Denn bald danach fing meine Mutter, die das sichere Brot liebte, über seine neuen Ideen und Pläne zu klagen an. Ihr Gesicht wurde wieder sorgenvoll, und sie beteuerte uns Kindern immer wieder, sie sei leider gewiß, der Vater tue sehr bald – sie sah es voraus – wiederum den Schritt ins Ungewisse.

Der Augenblick kam schneller, als wir gedacht haben. Der Bahnhofsbetrieb wurde fortgeführt, zugleich aber eine Wohnung in Nieder-Salzbrunn gemietet und Kellereien für einen Bierverlag. Beziehungen zu Christian Pertsch in Kulmbach wurden angeknüpft. Der reiche Großbrauer, ein stattlicher, gütig behäbiger Mann, erschien eines Tages selbst, hernach kamen dann die gewaltigen Bierfässer.

Kaum, daß ich von allen diesen Dingen noch ernstlich berührt wurde. Man sagt, jemand sei auf den Hund gekommen: und wirklich war es ein großer, grauer Leonberger Hund, der, neben eine Bassermannsche Gestalt gespannt, das Wägelchen mit den Bierflaschen zu den Kunden beförderte.

Das sprechende Symbol auf der Straße, wenn ich in seiner nächsten Nähe war, störte mich nicht. Der seltsame Kerl, der mit dem Hund an der Deichsel ging, war mir merkwürdig, und ich unterhielt mich, wo ich ihn antraf, gern mit ihm.

Wenn ich mit meinem langen Haar, meinem Kalabreser, meinem offenen Hemd und meinen Schnallenschuhen an den Fenstern der Salzbrunner Häuser, die unsere guten Tage kannten, mit dem Hundekarren vorüberzog, muß dies ein wahres Spießrutenlaufen gewesen sein, obgleich ich davon, Gott sei Dank, nicht verwundet wurde.

Ober-Salzbrunn, Nieder-Salzbrunn: schon der Name scheint zu sagen, daß man in Ober-Salzbrunn den oberen Schichten des Ortes, den tieferliegenden aber in Nieder-Salzbrunn nah war. Zwar standen dort, wie erzählt, die beiden Kirchen, die katholische und evangelische, zu beiden Seiten der Straße sich gegenüber, es wohnten also die protestantische und katholische Gottheit hier, ebenda waren aber auch die Kirchhöfe, auf denen die unnützen Reste toter Menschen begraben wurden.

Wenn mich dies nun nicht niederzuschlagen vermochte, so liegt das daran, daß alles in mir von dem Gedanken eines persönlichen Aufstiegs in ganz andere Provinzen des Geistes bewegt wurde und daß ich auch mit dem landschaftlichen Bereich der Heimatwelt vor endgültigem Abschied nur gleichsam die letzten Grüße tauschte.

Nicht zum wenigsten deshalb nahmen mich ihre Wiesen, Äcker, erlenbestandenen Bäche, ihre mir altgewohnten Häusergruppen jetzt, wie mir schien, mit so besonderer Liebe in sich auf und ebenso wiederum ich dies alles in meinem Innern.

 


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