Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Zehntes Kapitel

Man kann sich denken, welcher innere Schrecken mich lähmte, als Carl mir erzählte, daß Mimi heimlich verlobt wäre. Es handelte sich um einen Kandidaten der Theologie, der binnen wenigen Monaten in die Pfarre eingesetzt werden sollte, die durch den Tod seines Vaters vakant geworden war. Er hatte sein letztes Examen zu machen. Die Gemeinde, hieß es, warte auf ihn.

Ich konnte trotzdem den Kampf nicht aufgeben. Dazu waren Gefühl und Ahnung in mir zu elementar.

Mein Dämon, oder wer es sein mochte, sagte mir, daß ich in Mariens Seele schon ein für meinen Rivalen nicht ungefährliches Dasein gewonnen hatte, – er stimmte mir zu, wenn alles in mir entschlossen war, an diese Sache das Letzte zu setzen: was ja freilich bei meinen achtzehn Jahren mehr als Kühnheit war.

Mein Verhältnis zu Carl in diesen Tagen, so harmonisch es immer genannt werden kann, erlitt doch eine Veränderung. Die aufgeschlossenen Tage von Bahnhof Sorgau, unsere Seelenhochzeit gleichsam, lagen in der Vergangenheit. Ein gewisser Hang zur Verschlossenheit hatte über uns Macht gewonnen. Carl war ja glücklich, da er in einer jungen, glücklichen Liebe stand. Wer wüßte nicht, daß ein solcher Zustand den Befallenen ganz und gar wie nichts vorher beansprucht. Platon, Haeckel, Eucken waren bei ihm zurückgetreten, geradeso wie in allen meinen inneren und äußeren Bestrebungen ein Stillstand eingetreten war.

Mein Wünschen, mein Streben hieß Marie, mein Abend, mein Morgen hieß Marie, mein Tag, meine Nacht Marie! Marie! In diesem Namen war meine Kunst, mein Wissen und Wollen, meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine Zukunft untergegangen.

Beinah empfand ich etwas wie Haß, als ich eines Morgens, auf dem Gange von unserer Liliputdependance zum Hochzeitshause, mich Carl wohl doch ein wenig verriet und er mich mit einer vernichtenden Handbewegung abspeiste. Danach war in mir das Recht noch nicht geboren, um in diesem Spiele irgendwie mitzutun. Der Gedanke schien geradezu lächerlich. Um Gottes und Himmels willen: nein! Wer war ich? Was hatte ich denn für Aussichten? Kaum achtzehn Jahr, das würde ich doch wohl selber einsehen!

Nein, ich sah es durchaus nicht ein!

Was ich jedoch bei Carl zu bemerken glaubte, war Eifersucht. Zwar hatte er seinen Entschluß gefaßt und die Folgerung mit Martha gezogen, aber ein Spürsinn, durch meine Liebe zu Mimi geschärft, glaubte zu erkennen, daß Carl den Gedanken an Mimi, ihren Verlust noch nicht ganz verschmerzt hatte und daß der Gedanke, ich könne mein Auge zu ihr aufheben, das Bewußtsein des Verlustes verstärkte.

 

Mit dem unverwandten, geschärften Blick eines Detektivs nahm ich die schöne Marie unter Beobachtung. Ich vernachlässigte auch den Rahmen nicht, aber sie blieb die Hauptsache. Daß ich sie als die weitaus reizvollste unter den Schwestern erachtete, ist nicht verwunderlich. Ich sah in ihr aber auch die bedeutendste. Die Stellung, die sie unter den Geschwistern einnahm, bestätigte das.

Es hing ein Schicksal über ihr. Ihrem ruhigen, festen Willen gegenüber war selbst der des verstorbenen Vaters zunichte geworden.

Die Schwestern sprachen von ihr mit einem Geflüster. Was für Schwierigkeiten ihr stiller Eigensinn der Familie gemacht hatte und noch bereitete, war zunächst nicht auszumitteln. Marie war schwierig, das ist gewiß.

Sie neige, hieß es, zur Melancholie, was möglicherweise mit ihrer Bleichsucht zusammenhing. Sie aß fast nichts oder Verbotenes. Eines Tages erzählte sie mir einen Vorfall, dessen Erinnerung ihr immer noch Stunden verdüstern konnte.

 

Der früh verwitwete Vater gab sie, die ihre Mutter kaum gekannt hatte, in eine herrnhutische Erziehungsanstalt zu Neudietendorf. Dort wurde sie eines Nachts – sie war noch ein Kind – von einer alten als Pflegeschwester tätigen Herrnhuterin geweckt. Das graue Gespenst mit dem weißen Häubchen hieß sie aufstehen. Sie ließ das Kind im Hemdchen vor sich hergehen über zugige Flure des alten Gebäudes treppauf, treppab, bis sie die eigene Schlafkammer erreicht hatte. Hier ging sie händeringend, wirre Gebete sprechend, gleichsam nachtwandelnd hin und her, bis sie endlich den Schub einer alten Lade öffnete und ihm ein langes Hemd entnahm: ihr Totenhemd, wie sie dem Kinde sagte. Es wurde in Gegenwart der kleinen Marie Thienemann gestreichelt, geküßt und mit Vaterunsern geweiht, was alles die Kleine nachmachen mußte. Heut konnte Marie nicht mehr sagen, wie es geendet hatte, nur daß sie in eine wochenlange Krankheit verfiel.

Eine gewisse Gemütslage, mit der sie zu kämpfen hatte, führte die dunkeläugige, bleiche Marie auf dieses Erlebnis zurück. Aber sie hatte damit und überhaupt in dem herrnhutischen Kreise Neudietendorf eine unüberwindliche Abneigung gegen jede Art Frömmelei eingesogen. Es war zum zweitenmal, daß ich hier mit dem Geiste Herrnhuts, und zwar auf eine ganz neue Art, in Berührung kam. Ich stellte, vorsichtig tastend, fest, daß zwischen Marie und ihm eine ewig offene, ewig unüberbrückbare Kluft gähnte.

Das Areligiöse war in Marie infolge der Neudietendorfer Jugendeinflüsse geradezu zum Dogma geworden. Freude am Disputieren hatte sie nicht, dieses Kapitel war bei ihr ein für allemal abgeschlossen. Diese Folge einer durchkämpften und durchlittenen tiefen Innerlichkeit trug dazu bei, das Bedeutsame der Erscheinung zu steigern.

Schon bevor sie durch den Tod des Vaters ihre Unabhängigkeit erlangte, hatte sich Marie, wie ich überzeugt bin, »von den Narren, von den Weisen« für frei erklärt.

Es war mit mir etwas Ähnliches vorgegangen. Beide waren wir seit dem ersten Schultag mißhandelt worden. Wir hatten verwandte Kämpfe durchgemacht, uns zu ähnlicher Freiheit durchgerungen. Zwei, die sich für mißverstanden und unterdrückt gehalten hatten, trafen sich. Und beide wollten sie den zerrissenen goldenen Faden des Lebens wieder anknüpfen, wozu nun alles Äußerliche mit beinahe mehr als ahndevoller Deutlichkeit hinstrebte.

Anders war es mit Carl, weshalb seine und Mariens Begegnung in Jena mehr einen Ablauf als einen Verlauf gehabt hatte und keine engere Verbindung durch Vertiefung herbeiführen konnte. Von der Sicherheit seines Auftretens, von dem idealischen Schwung seiner Konversation war Marie, als er bei ihr auftauchte, naturgemäß überrascht und entzückt. Ähnliche Fähigkeiten sind überall, aber erst recht bei einem Studenten im zweiten Semester, ungewöhnlich. Der beschwingte Schritt seines hochgestimmten Geistes konnte bezaubern und fortreißen. Er besaß eine schöne Reizbarkeit, die ihn für Persönlichkeiten und Ideen entflammte. Mariens Vertrauen, das Fremdartige ihrer Erscheinung und Anmut mußten ihn auf beglückende Weise aufregen. Auch der Stolz, mit der schönen jungen Dame aufzutreten, steigerte ihn, entfaltete seine glanzvollsten Eigenschaften. Er war nicht ein Student, der ein Pensum in sich verarbeitete: sein Gegenstand war, von außen und innen genommen, viel eher die ganze Universität. Er schloß sie, als jugendlich feuriger Cicerone, Marien auf und hatte an ihr, die damals einsam und leidend war, eine dankbare Hörerin. Die besondere Schönheit an ihm war ein ethischer Zug. Mein Bruder Carl war der geborene Ethiker. Mit tiefer Verachtung lehnte er christliche Tugenden ab, weil sie im Jenseits belohnt werden wollten: ihm galt es, das Gute um seiner selbst willen zu tun. Ebenso verhielt er sich zur Idee der Gerechtigkeit: ihr mußte man dienen auf Tod und Leben. Ihn empörte Menschen- und Tierquälerei. Und wieder und wieder, oftmals zu eigenem Schaden, tat er, infolge dieser Anlage, Dinge wie der Manchaner von der traurigen Gestalt; er kämpfte wie dieser oft gegen Windmühlen.

Ein solcher Mensch war Marien gewiß noch nicht vorgekommen.

Sie war hingenommen, war fast betäubt von ihm. Von allen ihren Gebundenheiten schien er das offenbare Gegenteil, weshalb sie ihn bestaunen mußte. Sie konnte sich in sein Wesen verlieren und so vielleicht von eigenen Belastungen frei werden.

Aber bald hat sie wohl instinktiv gefühlt, daß dies geistige Feuerwerk ganz sein Eigenwesen war und so mehr eine Art kalten griechischen Feuers, an dem sie teilnehmen konnte oder auch nicht und das ihr Gluten weder geben noch nehmen konnte.

Die dunkle, gleichsam luziferische Marie hatte, wie ich, mit den Gefahren der Verdüsterungen und des Tiefsinns zu ringen gehabt: Dingen, von denen Carl nichts wissen konnte, da er in den drei Abschnitten, Elternhaus, höhere Schule, Universität, gleich erfolgreich blieb, als Stolz der Eltern, Stolz der Schule und nun auch gewissermaßen Stolz der Universität. Bei diesem stürmischen Vordrang war für Seelenkämpfe nicht Zeit geblieben.

 

Mariens Trieb- und Wesenhaftigkeit stach von Marthas kluger, durch eine überlegte Zurückhaltung gedämpfter Art und Weise ab. Sie war elementar. Bei Martha trat der Verstand in den Vordergrund. Das war ihr zunächst nicht anzumerken. Die stille Anmut des blutjungen Mädchens deckte das. Ich glaube, daß sie Carl übersah. Daß sie ihn liebte, ist gewiß, wenn er in seiner bewunderungswürdigen Weise innerhalb der etwas abgestandenen Luft von Hohenhaus bei seinem ersten Besuch alle Register seines Geistes zog. Sie glaubte aber auch die eigene schöne Zukunft in ihm gewährleistet.

Einige ihrer Verwandten waren »Pförtner« gewesen, das heißt, hatten ihr Reifeexamen in Schulpforta gemacht. Solch ein Muster-Schulpfortamann schien vielleicht Carl ihr zu sein, der binnen kurzem ganz gewiß, vielleicht als ordentlicher Professor der Philosophie, unter den Universitätslehrern obenan stehen würde. Dann war sie eine Professorsfrau, was ganz ihren Wünschen entsprochen hätte.

Dank ihrem mitgebrachten Vermögen würde man dann in Jena, Heidelberg, Bonn oder sonst einer Universität ein angenehmes Haus machen und Carl das Sprungbrett geben können, das er benötigte.

Es war kein Kontakt zwischen Martha und mir. Ich gebrauche dies Fremdwort, weil kein deutsches es ersetzen kann. Sie wollte mir wohl, weil ich der Bruder ihres Geliebten war, aber selbstverständlich doch nicht so wohl wie ihm. Sie hätte es gern gesehen, wenn Marie in die wohlsituierte, thüringische Pastorendynastie der Leynberge eingeheiratet hätte, weil das stille, gesicherte Leben des Pastorhauses in reizender Gegend ihr gerade das Rechte für die etwas schwierige Schwester erschien und als das gegebene Sanatorium.

 

Immer noch zogen wir, unseren »Liebesfrühling« zu probieren, täglich aus. Es waren hier nicht die Rüpel wie im Sommernachtstraum, sondern eher die Elfen, die das Hochzeitsspektakel vorbereiteten. Schließlich kam dann der Polterabend heran.

So wenig das kleine Gedicht bedeutete, hob es sich doch wohl über die üblichen Polterabendscherze durch den Mangel an abgeschmackten Späßen und durch eine gewisse Legitimation hinaus.

Die Schmalwand der Halle gegenüber dem Eingangsportal hatte ich für die Szene mit Hilfe des Gärtners hergerichtet. Oleander- und Lorbeerbäume sowie was sonst an Büschen und blühenden Blumen aus dem Glashaus verwendbar war, mußten herhalten. So standen wir wartend vor der Rückwand und hinter einer Wand von Grün, des Stichworts für unseren Auftritt gewärtig.

Man war entzückt. Es hieß allgemein, daß man sich nicht erinnere, etwas so Hübsches und Würdevolles bei einer Hochzeit erlebt zu haben.

Das Hochzeitsdiner wurde von einem Dresdner Stadtkoch bestritten. Es war derselbe Koch Siegel, der mich in meinem Elternhause oft auf dem Arme trug und mich in Erstaunen versetzt hatte, wenn er Spargel aus dem kochenden Wasser nahm, mich die Spitze abbeißen ließ und den Rest durch das Fenster auf den Hof schleuderte. Sein Geschäft ging gut, er war bereits wohlhabend.

Mein Bruder Georg, seine lachende Braut neben sich, erhob sich mit weißer Nase, um für die Ansprachen zu danken, mit denen man seine Braut und ihn gefeiert hatte. Seltsamerweise hatte auch er sich zu einer Antwort in Reimen aufgeschwungen:

Nur ein einz'ger Grundton klinget
mir durch alle diese Lieder:
Gib's ihr wieder! –

sagte er, womit er das Gelöbnis ablegen wollte, ihr all das zu ersetzen, was sie mit diesem Vaterhause zurücklasse.

Ein leiser Mißton wurde durch Carl in die Hochzeitsgesellschaft gebracht, da sich seine schöne Reizbarkeit, von der schon die Rede war, nach der Tischrede des armen Pastors entlud. Sein Redestrom war geradezu hinreißend. Er glossierte den Pastor, glossierte sein Thema: das Weib sei untertan dem Manne, denn Gott habe ihm Gewalt gegeben über sie. Er glossierte somit die Heilige Schrift, und schließlich glossierte er die pastörliche Exegese.

Der Mann habe ebenso dem Weib zu dienen, sagte er, die Ehe basiere auf Gleichberechtigung. Untertan und Gewalt, auf die Frau angewandt, entspräche dem modernen Fühlen und Denken nicht mehr. Einem Manne, der das nicht begreife, müsse man zurufen: Diene, Mann, der Einsicht . . . und so weiter, wobei im Gleichklang der Name Thienemann hineinspielte. Das Verletzende für den Pastor gipfelte am Ende in dem Beifall, den die feurige Redegabe des begeisterten Jünglings erzwang. Nach diesem Zwischenfall hielt der Seelsorger mit einem ironisch bleichen Lächeln um die Lippen noch eben so lange aus, wie der Anstand erforderte.

Unter schluchzendem Abschiednehmen fand dann gegen fünf Uhr nachmittags der Aufbruch des Brautpaars statt, und so lag das bedeutsamste aller Feste, die ich bisher erlebt hatte, in der Vergangenheit.

 

Eine gewisse Ruhe kam über Hohenhaus, über seine herbstlichen Weinberge und Gärten, obgleich Madame Merz, die Großmama aus Augsburg, Baronin Süßkind und die Bedienung beider Damen noch einige Zeit verweilten. Sie wollten die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, Dresden, seine berühmte Oper und sonstigen Sehenswürdigkeiten zu genießen. Ausflüge wurden täglich gemacht. Marie und ich pflegten uns zu beteiligen, aber doch meist nur, um, in Dresden angelangt, eigene Wege zu gehen. Carl war nicht mehr da, er mußte an einem bestimmten Termin zur Eröffnung eines mikroskopischen Kursus im Haeckelschen Institut in Jena eintreffen.

Ich weiß nicht, wie oft Marie und ich die kurze Fahrt nach Dresden gemacht haben. Sie pflegte mir zu Beginn ihre perlengestickte Geldbörse einzuhändigen und mich zu bitten, die nötig werdenden Zahlungen daraus zu leisten. Ich weiß nicht: war mir das angenehm oder unangenehm? Ich mußte es tun, da ich keine Wahl, das heißt, da ich kein Geld hatte. Der niedrige, längliche Laden des Hofbäckers Adam in der Schloßstraße war meist unser erstes Ziel, wo Marie gewohnheitsgemäß ihre Tasse Bouillon und ein Franzbrötchen nahm. Sie war persönlich beliebt und wurde – die Thienemanns machten zu allen hohen Festen hier ihre Einkäufe – von den Inhabern deutlich ausgezeichnet.

Ich war sehr stolz, wenn ich neben ihr saß.

Oft kamen wir erst gegen Abend als letzte heim, da wir die Führung der älteren Damen Frida, Olga und Martha überließen. Unsere Beziehungen gingen über Gespräche nicht hinaus. Gewiß ist, daß uns die Zeit nicht lang wurde.

Mimi war unter den Schwestern als verschlossen bekannt. Nicht gerade gesprächig, war sie doch mir gegenüber aufgeschlossen. Ich glaube, der Austausch unserer Erlebnisse und Erfahrungen war so befreiend und beglückend, wie es im bloßen kameradschaftlichen Verkehr unter Freundinnen oder Freunden nicht möglich ist. Es war, als ob wir beide mit unseren Beichten unser ganzes Leben lang einer auf den anderen gewartet hätten. Marie fühlte sich von Kindheit an durch den Vater zurückgesetzt und empfand es bitter, keine Mutter gekannt zu haben. Ich war freilich von den Eltern nicht so benachteiligt, aber ich hatte doch auch, wie gesagt, Zurücksetzung aller Art erfahren, so daß ich zu gewissen Zeiten unter dem Druck der Geringschätzung fast zerbrach.

Aber dann nahm Marie auch an meinem Aufschwung und meiner Befreiung teil, deren Geschichte ich ihr mit der leidenschaftlichen Absicht, sie stark, gesund und froh zu machen, zu hören gab. Ich berichtete ihr von dem Augenblick, wo ich ein neuer, selbstbewußter Mensch wurde, wo sich mit der Geburt der Urteilskraft in mir der Druck anscheinend unentrinnbarer Abhängigkeiten mit ihnen selbst verflüchtigte.

»Der Mensch ist seines Schicksals Schmied!« sagte ich. »Der Mensch ist frei, und wär' er in Ketten geboren! Menschliche Institutionen sind unvollkommen, jeder einzelne ist berufen, an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten!« In dieser Beziehung stünde niemand über, stünden alle neben mir, sagte ich. Und weiter: die Denkkraft in uns, nicht irgend etwas außer uns, also die hochgebietende Vernunft sei unsere einzige Autorität.

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Behauptung bereits wiederholt hatte, bevor ich sie vor der heimlich Geliebten tat, und wie oft ich sie vor ihr wiederholt habe. Sie war eine Dominante, auf die ich mich immer wieder im Lebenskampfe zu stützen hatte.

Von hier aus riß ich Marie zur Kritik der meisten festen Werte unserer Gesellschaftsordnung mit. Eigene Gedanken, übernommene Gedanken vermischten sich. Es gab keine Institution, vor der mein Denken haltmachte. Und zwar in einer sieghaft ruhmreichen Zeit, wo Preußen Deutschland geeinigt hatte, wo der Glanz und die Kraft eines unerhörten Aufschwungs alle blendete, nicht nur die Deutschen, sondern die Welt.

 


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