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Am Abend etwa des dritten Tages war die Neugier von Onkel und Tante durch die Erzählung meines Triumphes so rege geworden, daß sie nun auch mein Dichtwerk hören wollten, dieses so vielbesprochene »Hermannslied«. Und so zog ich es wiederum aus der Brusttasche. Nicht anders als das erstemal, ja mit größerer Inbrunst, da Anna Grundmann zugegen war, sagte ich mir das »Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! Es gilt uns heut, zu rühren . . .« Ich wußte, welches Herz!
Mein Epos hatte es mit den Marsen zu tun, die mir gerade recht waren. Wo der Volksstamm gelebt haben mochte, wußte ich nicht. Auch war es mir gleichgültig. Ich hatte ihn jedenfalls irgendwohin in den deutschen Urwald verlegt, als in seinen Höhen und Tiefen noch der Wisent gejagt wurde. Möglich, daß Coopers Lederstrumpflandschaft bei meinem dichterischen Versuch Patenstelle vertreten hat. Hermann oder Arminius selbst war in den ersten Gesängen noch nicht aufgetreten. Ich hatte mit einer jungen Marsin begonnen, was mir näher lag. Diese Marsin wurde von mir auf eine, sagen wir Fürstensteiner Felsklippe über den Wipfeln hingestellt und war, es ist nicht zu leugnen, vorgeahnt ziemlich genau, was sich in Anna Grundmann nun inkarniert hatte: Ernst, Würde, berückende Schönheit der Gestalt.
Bei der Schilderung der Marsin hatte mich zum erstenmal jene kühne Freiheit überkommen, die der griechische ebenso wie der Renaissancekünstler dem verkörperten Nackten gegenüber hat. Diese Marsin, gleichsam mein Eigentum, durfte nicht prüde sein, mußte es sich gefallen lassen, daß ich es nicht bei der Schilderung ihrer Gewänder bewenden ließ, sondern diese von unten bedeutend kürzte, oben ziemlich tief von Schultern und Armen herunterzog. Das Gebiet meines mehr und mehr gefestigten Selbstbestimmungsrechts hatte sich nun bereits über meine frommen Verwandten ausgedehnt, und ich schreckte nicht im geringsten davor zurück, sie zum Beispiel die hochaufatmende, stürmisch wogende Brust meiner Marsin sehen zu lassen, desgleichen den herrlichen nackten Arm, der nach oben um den Speer geschlungen war, ihre Waffe und Stütze, und neben ihrem meergrün schillernden Auge ihren purpurschwellenden Mund.
Onkel Carl erhob sich, bevor ich zu lesen begann; er habe noch drüben im Hofe zu tun. Die Sache schien ihm peinlich zu sein, und wenn er sie so beiläufig nahm und nicht die geringste Neugier zeigte, mochte er hoffen, die mögliche Wirkung besonders auf die Elevin Anna abzuschwächen. Er entfernte sich also und war nicht gerade sympathisch in diesem Augenblick. Ich ließ mich diesen Versuch einer Kränkung nicht anfechten.
Mein Vortrag verlief in gewohnter Art, und ich hatte im großen ganzen denselben Erfolg, den ich zuerst im Kreise Hugo Schmidts, alsdann vor den Professoren, später vor Carl, noch später bei Tante Jaschke im Kurländischen Hof einheimsen durfte. Die dichterischen Freiheiten, die ich mir genommen hatte, lockten Onkel Schubert ein freundliches Schmunzeln ab, während der Ausdruck in Tante Juliens Antlitz seinen unveränderten Ernst behielt. Beide wollten nicht leugnen, daß sie das Gelesene schön fänden und mir nicht zugetraut hätten, wie Onkel, in ein Lachen ausbrechend, Tante in aller Ruhe äußerte.
Anna schwieg. Aber ich spürte, daß sie die wahrhaft Ergriffene war. Magnetische Fühlungen sagten mir mehr. Gebeugt über ihre Weißnähterei, wie ich sie verstohlenen Blicks auffaßte, hatte sie eine Bewegung zu bemeistern.
Und wie hätte sie sollen gleichgültig bleiben, als sich mein Vortrag mehr und mehr an sie richtete und das begeisterte Lob der Marsin meiner Dichtung recht eigentlich auf sie übertrug?
Meine Liebe zu Anna Grundmann wurde erwidert. Von Stund an spürte ich das. Der letzte Tag brachte es ganz an den Tag: denn weshalb wäre Anna sonst an Tante Juliens Brust in Tränen ausgebrochen, als ich in dem zur Abfahrt bereiten Wagen saß?
Was zwischen jenem Anfang und diesem Ende liegt, beschäftigt noch heute zuweilen mein Nachdenken.
Zwanzig Jahre später hat mir mein Onkel Carl gesagt, er habe in der Sache Anna schlecht an mir gehandelt. Ich habe nicht nach dem Wieso gefragt. Er wollte sein Gewissen entlasten, und ich gab ihm – was sollte mir seine Beichte noch? – meine Absolution.
Heute weiß ich, welcher Versuchung er unterlegen ist.
Ich hatte, nach dem Bahnhof Sorgau zurückgekehrt, Anna Grundmann brieflich mein Herz eröffnet, was eigentlich nicht mehr nötig war, und meine achtzehn Jahre so sehr verkannt, sie um ihre Hand zu bitten. Eine Antwort erhielt ich nicht. Da aber keine Antwort in diesem Falle auch eine Antwort ist, sagte ich mir, ich sei abgewiesen, und bekehrte mich zu der Ansicht, die ja wahrscheinlich Annas Schweigen bewirkt hatte: der Antrag eines Schlingels von meinen Jahren, der nichts habe und vorstelle, sei lächerlich.
In Wirklichkeit war mein Schreiben nie an seine Adresse gelangt, sondern von Onkel Carl unterschlagen worden. Er konnte das ohne Mühe tun, da er die tägliche Post regelmäßig in einem Nachbardorfe abholte, das mehr als eine Stunde Wegs entfernt von Lederose lag.
Es war eine kleine große Schurkerei, die seine eigene Leidenschaft für Anna nicht entschuldigen kann. Hoffte der alte Knabe, sie für sich zu gewinnen, ist er auch so nicht zum Ziele gelangt. Wenn ich aber die Dinge überblicke, die ich nie gelebt und genossen haben würde, falls diese kleine große Schurkerei nicht eingegriffen hätte, so bin ich geneigt, für die kleine verwandtschaftliche Unterschlagung dankbar zu sein.
Daß sie der Onkel für notwendig hielt, läßt mich vermuten, er habe einen guten Erfolg meines Briefes für möglich gehalten. Wären wir aber wirklich ein Paar geworden, Anna und ich, ich würde wahrscheinlich von einer dicken, undurchdringlichen Mauer, vor die ich geraten wäre, rückwärts gewiesen und von meiner wahren Zukunft abgeschnitten worden sein.
Es lag in Anna Grundmann mir gegenüber eine Übermacht: wenn sie sich meiner erbarmt hätte, wenn sie sich zu einem gemeinsamen Leben bereit gefunden hätte, wenn dieses Leben wirklich begonnen hätte, so hätte ich in den Ketten einer mir Gott sei Dank fremd gebliebenen Hörigkeit gelegen. Erwog ich doch allen Ernstes und war entschlossen dazu, in der kleinsten Kätnerhütte mit ihr zu leben, falls sie ja sagte, wie ein Tagelöhner zu arbeiten, jedem höheren Streben zu entsagen und alle Beziehungen zu den Künsten abzubrechen.
Ich dachte nicht anders, in einer unsinnig vorweggenommenen Eifersucht, als dieses Mädchen, das mit dem hölzernen Namen eines Mädchens nicht zu bezeichnen ist, dieses Weibswunder, das den Sinnen übermenschliche Freude versprach, gleichsam einzusperren, zu verbergen, zu verstecken, um mich ganz allein daran zu ersättigen. Etwas anderes als diesen Kultus wollte ich nicht in der Welt. Dazu war ich zur Welt gekommen. Etwas, das daneben irgendeinen Wert hatte, gab es nicht. Wozu brauchte man Bildhauerei, wenn man diesen Körper sein nannte? Wozu brauchte man griechische Kunst, steinerne Musen, steinerne Grazien angesichts dieses bebenden Fleisches, das göttliche Schönheit und göttliche Macht ausstrahlte? Wozu brauchte man Rembrandt, Raffael, Tizian, wenn vor dem Grün der kleinen Wiese im Eingangstor des kleinen Häuschens Anna stand, vielleicht unter einem Blütenbaume bei irgendeiner ländlichen Beschäftigung? Kunst, Wissenschaft, Dichtung, Philosophie und was sonst, das alles war ja nur Surrogat, ein Zeitvergeuden, ein Lebenvertun, ein Sichabfinden, weil man nichts Besseres hatte! Ich aber, der ich gewürdigt war, konnte auf dies alles nur mehr mit Hohn herabblicken.
In dieser Art Sucht und Süchten lag ganz gewiß nichts Platonisches; ich würde an den Feuern des Gottes, dem hier gehuldigt wurde, bald, zu bald zerschmolzen sein.
Vom Bahnhofsgebäude in Sorgau führt ein Fußgängertunnel durch den Bahnkörper. An seinem Ausgang steht unvermittelt im Feld ein vier Stock hohes, häßliches Arbeiter- und Beamtenhaus. In einigen Zimmern des ersten Stocks waren Möbel, Matratzen, Wäsche, Hausrat aller Art, den meine Mutter seinerzeit mit in die Ehe gebracht hatte, magaziniert. Ich verkroch mich sogleich dorthin, als ich von Lederose kommend aus dem Zug gestiegen war und meine Eltern flüchtig begrüßt hatte. Ich ertrug ihren Anblick nicht. Das Unmöglichste war plötzlich zu meinem tiefen Entsetzen Wirklichkeit. Diese beiden, unter allen Menschen auf Erden mir bisher die liebsten, der beste Vater, die beste Mutter, ohne die für mich eine Welt überhaupt nicht sein konnte, waren mir plötzlich fremd geworden. Die magnetische Kraft im Lederoser Gutshause sog und zog selbst aus der Ferne mein ganzes Wesen in sich ein. Schon der Gedanke schien mir Raub, daß irgend etwas anderes auch nur im geringsten Liebe von mir beanspruchen sollte. Es fiel nun auf meine Eltern etwas von jenem Haß, der gegen die Schuberts in mir aufgekommen war, als ich glaubte, daß sie mich adoptieren wollten. Zwischen Kommoden und Matratzen, Häufungen von Porzellan und Glas, alten Bildern und Wandspiegeln, Stapeln von Wäsche und verstaubten Gardinen und ähnlichem, hinter verriegelter und verschlossener Tür raste ich mich im wahren Sinne des Wortes aus. Ich ballte die Fäuste, ich rannte umher, warf mich auf Matratzen und Tischtücher, heulte, schluchzte, fluchte, biß mich, um durch körperlichen Schmerz erleichtert zu werden, in die Hand. Ein Gefühl wie Hunger eines Verhungernden marterte mich, ich befand mich im Leeren, suchte Atem zu holen in einem Vakuum. Ich wußte nicht, wo ich mit mir hinauswollte, viel ärger gestraft als ein Morphinist, wenn das Gift ihm entzogen ist. Ich sah keine Möglichkeit, ohne Anna Grundmann fortzuleben.
Dann, wie gesagt, kam der Brief. Schon das Schreiben des Briefes beruhigte mich. Ich habe vergeblich auf Antwort gewartet.
Die Büfettdame von Sorgau, die mit langen, knochigen Fingern auf der schwarzen Marmorplatte hantierte, war ein altes Mädchen, hatte strohgelbes Haar und hieß Fräulein Rausch. Es war am Ende nicht schwer, zu sehen, daß ich unter irgendeinem Erlebnis zu leiden hatte. Ich schrieb wütend an meinem »Konradin«, weil ich nun eher heut als morgen zu Geltung und Reichtum kommen wollte. Wie man schnell, über Nacht und im Handumdrehen, reich werden könne, fragte ich wiederum Fräulein Rausch. Ich hatte mich ihr zwar nicht entdeckt. Sie konnte trotzdem von der Sache erfahren haben.
Die Gute verstand sich auf Kartenlegen. Eines Tages schlug sie mir vor, es für mich zu tun, wohl um mich wieder einmal zu beruhigen. Ich stimmte zu, und sie las aus den Karten ungefähr dieses heraus: Ich hätte eine große Liebe hinter mir, die mich in einen untröstlichen Zustand versetzt habe. Was ich heut glaube und worauf ich hinaus wolle, das geschehe nicht: die Geliebte und ich würden kein Paar. Nicht einmal auf ein Wiedersehen könne sie mich vertrösten. Dagegen – hier blickte sie mich bedeutsam aus ihren wäßrigen, geröteten Augen im sommersprossigen Gesichtchen an –, dagegen werde nicht viel mehr als ein Jahr vergehen bis zu meiner Verlobung mit einem schönen und reichen Mädchen, das in diesem Augenblick ebensowenig von mir wisse wie ich von ihm.