Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Einundzwanzigstes Kapitel

Einen wirklichen Sturm, den einzigen unserer Reise, erlebten wir im Golfe du Lion. Die »Livorno« lief gleichsam in einen Graben von Wasser eingesenkt. Die kurzen springenden Wellen des Mittelmeeres gaben an jeder Seite des Schiffes die Illusion einer bewegten Glasmauer. Es bestand keine Gefahr, aber wir schienen verloren zu sein.

Ich ging in Marseille an Land, weil man mir riet, die schöne Strecke von dort nach Genua mit der Bahn zurückzulegen.

In Monaco nahm ich vierundzwanzig Stunden Aufenthalt, wollte das Kasino besuchen, um den Eindruck der Spielhölle mit mir zu nehmen, wurde jedoch am Eingang zurückgewiesen.

Ich sei noch zu jung, sagte man.

Wie alt man sein müsse, um die Spielsäle besuchen zu können? Man gab zur Antwort: Majorenn. Ich sei majorenn, behauptete ich, worauf man sogleich die Frage stellte, in welchem Jahre ich geboren sei. Überrascht und kopflos gab ich mein wahres Geburtsjahr an.

Der Herr am Eingang lächelte nur: »Sie haben in der Eile nicht richtig gerechnet«, sagte er, »Sie hätten ihrem Alter nicht nur zwei, sondern mindestens vier Jahre hinzusetzen müssen.«

Damit war die Sache abgetan. Ich habe den kleinen Vorfall erwähnt, weil er zeigt, wie ich im Gegensatz zu manchen andern nicht für älter, sondern für erheblich jünger, als ich wirklich war, gehalten wurde: schien mich doch der Spielbankkontrolleur auf siebzehn zu schätzen.

Daß ich mich noch auf dem alten Kontinent befand, hatte ich fast vergessen, als ich in der Dachstube eines Genueser Hotels mein Nachtessen mit einer halben Flasche Rotwein zu mir nahm. Es waren ja mehr als zwei Wochen verflossen, seit ich Hamburg verlassen hatte – es schienen einige Jahre zu sein, in Ansehung des Erlebten und meiner Wesensveränderung.

Allerdings wirkte Genua, verglichen mit Malaga und Barcelona, das wir ebenfalls angelaufen hatten, im europäischen Sinne nicht mehr fremdartig. Aber mein neues Wesen sah es nur als Durchgangspunkt. Morgen mußte die »Livorno« im Hafen sein, mich aufnehmen und weiter, mit dem Ziel Athen, in die Fremde forttragen.

Im übrigen, was das Hauptsächlichste war: seit ich in Hamburg den Schiffsbord betreten, lag der alte Kontinent meiner Seele hinter mir, und ich sah auf ihn von Malaga aus und wiederum aus dem Genueser Hotelzimmer als auf einen fern verschwimmenden Traum zurück.

Bruder Carl hatte einmal, als ich mit ihm meine Reise erörterte, die Worte beiläufig hingeworfen: »Vielleicht komme ich dir nach!« Er war dabei, seinen Doktor zu bauen, wie man sagt. Die Doktorarbeit fesselte ihn, das Mündliche sollte im Herbst als Abschluß der Studien in Jena stattfinden.

Eben wollte ich, ziemlich ermüdet, ins Bett steigen, als mir ein toller Gedanke aufblitzte: sollte Carl am Ende in Genua sein?

Eine solche Annahme hatte nicht die geringste Wahrscheinlichkeit. Oft aber ist es mir schon geschehen und so auch hier, daß ich eine Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit imaginierte, wo ein Wunsch, eine Sehnsucht sich nicht abweisen ließ. So hatte ich als Junge und junger Mensch auf dem Freiburger Bahnhof auf die Züge aus der Heimat gewartet und mich während des Wartens von aussichtsloser Hoffnung bis zur Gewißheit eingewiegt, es werde einer von meinen Angehörigen dem angekommenen Zuge entsteigen: was leider in keinem solchen Falle geschehen ist. Auch diesmal gab ich somit meiner Laune nach, bestellte jemand durch den Portier, der sich in eine Droschke setzen und in allen Hotels nach meinem Bruder herumfragen mußte.

Die Sache verlief ohne Resultat, wie ja wohl zu erwarten war. Ich ging zu Bett, um noch ein wenig im Curtius weiterzulesen, als einer der Hausdiener mir die negative Antwort gebracht hatte.

Ich hatte bereits das Licht gelöscht, als ich im Halbschlaf Lärm hörte. Ich wachte auf, ich setzte mich auf, hörte heftiges Atmen, hastiges Sprechen die enge Treppe zu meinem Zimmer heraufkommen. Als würden immer drei Stufen auf einmal genommen, klang es mir, auch irritierte mich eine Stimme und ließ mich zweifeln, ob ich noch träumte oder wach wäre.

Inzwischen pochte es heftig an.

Es war in der Tat mein Bruder Carl und so das Unmögliche wahr geworden.

 

Glücklicher ist niemand gewesen als wir in diesem Wiedersehensaugenblick. Uns packte ein förmlicher Wirbel von Glück und drehte uns blindlings umeinander.

Ich war im Hemd, ich zog mich an, wir hatten uns endlos zu erzählen, schlafen konnten wir selbstverständlich nicht. Man durfte die kostbare Zeit nicht totschlagen, und so zogen wir fröhlich, selig-voll eines losgelösten Übermuts, Arm in Arm in das grandiose Labyrinth von Genuas Plätzen, Gassen und Straßen.

Durch dieses Zusammentreffen, so schön es war, wurde ich in der Folge von meinem Ziel Griechenland abgelenkt. Das Wesen unserer brüderlichen Verbindung und Freundschaft ist nicht leicht zu erhellen. Sie besaß etwas Inniges, Unzertrennliches und, trotz aller schweren Krisen oder gerade infolge dieser Krisen, etwas Siamesisches. Es war in uns ein Zwillingsgeist, ein Zwillingswollen, ein Zwillingsschritt – aber ich war dabei jetzt der Führende.

Es lag daran, daß ich schon früh aus dem Pferch gebrochen war, daß ich für mich allein gerungen und gesucht hatte, während für Carl noch die Schule dachte und handelte. Auf sonderbaren Wildpfaden einsam kletternd, hatte ich weitgeschweifte Kehren der breiten Straße abgeschnitten. Carl hatte mir dann die Hand gereicht und mich im gegebenen Augenblick über den sonst unzugänglichen steinernen Unterbau auf die gesicherte Plattform hinaufgehoben. Wiederum aber hatte ich nur kurze Zeit auf der allgemeinen Poststraße verweilt, um abermals querfeldein und diesmal sogar aufs Meer auszubrechen.

Von Jena, dieser wundervollen Station, hatte ich mir allerdings neue Wegweiser und Ziele setzen lassen.

Die kluge Martha Thienemann, Carls Braut, ward durch die Anziehungskraft, die wir aufeinander ausübten, Carl weniger auf mich als ich auf Carl, mit Recht beunruhigt. Wer sollte ihr wohl verdenken, daß sie den Geliebten und seine Neigung für sich allein haben wollte? Aber nicht der Verlust an Liebe allein machte sie besorgt, ihr aufmerksam wacher Sinn sah Carls Wesen durch mich beunruhigt.

Was meine Zukunft und meine irreguläre Bahn betraf, so hat Martha sich nie eingemischt, wünschte aber für Carl die reguläre. Sie sah mit Angst, wie Carls Interesse am Einzelgängertum meiner Natur zuzunehmen schien. Jetzt nun hatte ich einen Schritt getan, gleichsam mit Siebenmeilenstiefeln, an den Carl ernstlich wohl kaum je geglaubt hatte. Schritt ich nicht über ihn hinweg, und war dies nicht geradezu Verrat an unserem siamesischen Zwillingstum? Martha war es wohl kaum genehm, aber Carl konnte nicht anders: er mußte mich einholen.

Hinter allem, was mich nach dem Süden gezogen hatte, lag etwas Triebhaftes.

Etwas Triebhaftes war für Carl der Anlaß nicht. Es ist bezeichnend, daß er wohl nur dies eine Mal und niemals wieder im Süden gewesen ist.

Es mag so oder nur so ähnlich oder auch anders sein. Carl brachte jedenfalls die feurige geistige Atmosphäre mit, die vom Flügelschlag vieler Gedanken bewegt wurde.

Die »Livorno« war endlich im Hafen angelangt, und da ich weiter mit dem Schiffe zu reisen hatte, entschloß sich auch Carl dazu und ward freundlich aufgenommen, sozusagen als blinder Passagier.

Die See war bewegt, Carl wurde sehr elend unterwegs und verfluchte nach seiner Art den Augenblick, der ihm den Gedanken dieser Meerfahrt statt einer bequemen Eisenbahnreise untergeschoben hatte. Mit der Tafelrunde im Meßraum war es aus. Wir aßen, soweit wir es taten, bei steifer Bedienung im Salon, und es ist nicht viel mehr zu sagen, als daß wir unter gloriosem Licht und heiterstem Wetter zwischen Ischia und der Küste, im Anblick Capris und des Vesuvs, zwischen die Herrlichkeiten des Golfes von Neapel – sieh Neapel und stirb! – einliefen.

Mein eigenes Wesen, das die Rückstände vieler Jugendleiden immer noch färbten, prägte ich diesem mich zunächst erschreckenden Stadtbilde auf, und so sah ich es nicht im rechten Lichte. Weiter verdüstert ist es in einen frühen dichterischen Versuch, »Promethidenlos«, eingegangen. Aber es wäre falsch, anzunehmen, daß ich damals selbst verdüstert gewesen sei. Ich lebte vielmehr wirklich in dem, was ich ebenfalls im Süden gesucht hatte: in überquellender Eudämonie.

 

Carl und ich machten uns durch die damals von Professor Dr. Jäger erfundene Normalkleidung auffällig. Auch das gehörte zu unserem Kultus der Eudämonie. Ein doppelt geknöpfter, vorn geschlossener Rock war aus einem Gewebe tierischer Wolle angefertigt. Pflanzliche Wolle, also Baumwolle, würde nach Gustav Jäger, da der Mensch ja Säugetier-Charakter hat, als Hülle für ihn widernatürlich gewesen sein. Dagegen, wie der gleiche Reformer behauptete, würden dem Menschen durch die tierische Wolle Luststoffe zugeführt. Mit ihr bekleidet, hatte er Kraft, Freude, Übermut seiner Tiervergangenheit wiedergewonnen. Wir trugen kein Leinenhemd, gingen sogar in Wollschuhen.

So entbehrten denn unsere Reformbestrebungen keineswegs eines Anflugs von Lächerlichkeit. Man soll den Namen des großen Manchaners nicht unnütz führen, aber es ist gewiß, daß wir in unseren seltsamen Propagandaröcken, die von ihrem Erfinder sogar als Nationalkostüm der Deutschen bezeichnet wurden, einigermaßen wunderliche Gestalten verkörperten.

Peinlich wurde nicht selten hier in Neapel, wie schon in Genua, Carls Erregbarkeit. Da er jedermann in Neapel für unredlich hielt, stritt er mit jedem Kellner, jedem Portier, jedem Droschkenkutscher, so daß nicht selten durch einen Polizisten Friede gestiftet werden mußte.

Im Teatro Carlo Felice in Genua brach er zum Beispiel in Entrüstung aus, als das Parkett bei geöffnetem Vorhang während des Spiels ungeniert und laut seine Unterhaltung fortsetzte. Schließlich lief er davon, und ich folgte ihm, was im Publikum herzliches Lachen auslöste.

Wir fühlten uns in Neapel nicht wohl und beschlossen nach Capri überzusetzen, sobald die »Livorno« den Hafen verlassen hatte.

Ein letztes gegenwärtiges Stück der alten Heimat entschwand mit ihr.

Nach herzlichem Händedruck auf Nimmerwiedersehen mit Kapitän Sutor, Maschinenmeister Wagner und den meisten Gliedern der kleinen Schiffsfamilie kletterte ich von Bord ins Boot, wo Carl wartete. Es wurde in einem Abstand von der »Livorno« stillgelegt. Von hier sahen wir zu, wie der Anker hinaufgewunden wurde und dann langsam Bewegung in den Schiffsrumpf kam. Immer sichtbarer quirlte das Wasser hinter der Schiffsschraube. Von der Brücke winkte der Kapitän, und es dauerte gar nicht lange, bis das ferner und ferner entschwindende Schiff zum Spielzeug zusammenschrumpfte.

 


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