Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am 13. Februar 1883 starb Richard Wagner in Venedig. Wir fühlten die starke Erschütterung. Den Abend des fünfzehnten hatten wir in der Gastwirtschaft am Fuchsturm zugebracht. Es war eine pechrabenschwarze Nacht, als wir nach Hause aufbrachen. Den Gästen wurden in solchen Fällen Kienspanfackeln ausgehändigt. Wir hatten sie eben in Brand gesteckt, um den steilen Abstieg nach Jena anzutreten, als Müller von einer Totenfeier für Wagner sprach, die am folgenden Abend in Weimar stattfinden sollte.
Da wurde ich wieder einmal von einem abenteuerlichen Gedanken heimgesucht: wir sollten sofort den Weg nach Weimar antreten, tagsüber alle historischen Stätten besuchen und abends im Theater der Feier beiwohnen.
Einige Konkneipanten zweigten ab, die übrigen waren einverstanden.
Mit meinen Kommilitonen zog ich bei Morgengrauen zum ersten Male in Weimar ein, zu Fuß nach einem mühsamen, einundzwanzig Kilometer langen Weg durch eine stockfinstere, kalte, von Regenschauern durchsetzte Finsternis: im Februar, wie nicht zu vergessen. Es war die Stunde, die ich liebte und um derentwillen es mich in Breslau oft frühzeitig aus den Federn getrieben hatte. Die Türen der Bäckerläden klangen, hinter den erleuchteten Fenstern sah man einfache Leute, die ihre Frühstückssemmeln einkauften. Bäckerjungen und Zeitungsfrauen eilten schattenhaft längs der Häuser, Hunde untersuchten die Prellsteine. Es begegneten uns Tagelöhner auf dem Weg nach den Arbeitsstätten. In einem kahlen Baum machten Sperlinge ungeheuren Lärm. Endlich nahm uns ein Vorstadtgasthaus mit großer Einfahrt auf, wir traten in ein erwärmtes Wirtszimmer, wo wir gegen Geld und gute Worte unsere Schuhe und Kleider trocknen und uns an einem reichlichen Frühstück mit heißem Kaffee erlaben durften.
Der Goethe von Weimar ist nicht der jenensische. Der Kunstjünger, der das Weichbild von Weimar betritt, fühlt zunächst den Minister mit dem Ordensstern auf sich wirken. Der Goethe von Jena ist er selbst, allem Menschlichen nah und zugänglich. Es war nur ein Allgemeingefühl, das man von seinem Dasein hatte, ihm war aber alles Trauliche und Vertrauliche unseres kleinen Saale-Athen beigemischt. Man sah ihn hier nicht in Positur, im Schlafrock freilich ebensowenig, sondern vertieft, gedankenvoll und wesentlich. Ein Bruder Studio durfte ihn ansprechen. Man sah das Gasthäuschen, drin er sich eine Zeitlang verborgen hatte, besuchte den Garten, drin er verinnerlicht an seinen wissenschaftlichen und poetischen Plänen weiterspann, ging die Leutrawiesen entlang, deren Nebel ihm den Erlkönig gezeigt hatten.
Wir sahen das Haus am Frauenplan, wir sahen das Gartenhaus. Da wie dort hatten sich Goethes Enkel eingesargt, von denen der eine noch lebte, der andere vor etwa drei Wochen gestorben war.
Der Gedanke daran, und an diese welt- und menschenscheuen Sonderlinge überhaupt, in denen das Goetheblut verebbte, verhüllte Goethes lebendiges Andenken und machte die winterlich-graue Stadt nicht freundlicher. Es lagerte etwas darüber wie ein freudloses Mysterium.
Es kam dazu das Schillerhaus mit seiner lorbeerbedeckten Sterbebettstelle und schließlich die Fürstengruft, in der die beiden wahren Fürsten der Menschheit, Goethe und Schiller, bestattet sind, um unsere von der nächtlichen Wanderung ermüdeten Seelen mit dem Gedanken an die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit alles Irdischen noch mehr zu belasten.
Die Totenfeier für Richard Wagner im Theater wurde durch einen Prolog eingeleitet, den eine der neun Musen sprach. Mir sind nur die Anfangsworte »Der Meister schied!« noch erinnerlich. Es wurde alsdann der letzte Akt der »Walküre« mit dem Walkürenritt und dazugehörigem Feuerzauber zur Darstellung gebracht. Ich hörte diese Musik zum ersten Male.
Da war sie nun wieder, die Linie, die von der meiningisch-kleistischen »Hermannsschlacht«, durch die Zeremonie der Blutsbrüderschaft unterm Rasenstreifen, zu Wilhelm Jordan und Felix Dahn, von dort zu meinem »Hermannslied« und meinem Drama »Germanen und Römer« sich fortgesetzt hatte, und zwar auf ihrem wirklichen, letzten Höhepunkt, über den hinaus sie nicht weitergeführt werden konnte, was mir ohne Bedauern an jenem Abend klar wurde.
Am nächsten Morgen waren wir wieder im hellen Reich platonischen Lichtes angelangt, in dem von Tod und Grüften, auch von der weimarischen Fürstengruft, einstweilen noch nicht das geringste zu spüren war. Im Wartesaal des Weimarer Bahnhofs nach zwölf Uhr nachts aus Übermüdung in Schlaf gesunken, habe ich noch ein wunderliches, bis heut unaufgeklärtes Erlebnis gehabt. Zwei Männer dicht bei mir sprachen miteinander und redeten Dinge, die ich, im Halbschlaf horchend, deutlich verstand. Der eine sagte: »Das ist doch der Mensch! Ich kann mich doch ganz deutlich erinnern!« – Der andere drauf: »Ich versichere dich, nein, er ist es nicht!« – »Ich habe den Menschen seit Wochen verfolgt«, vermaß sich der erste wiederum. »Ich habe ihm aufgelauert, als er in den Juwelierladen ging. Er pflegt in der und der Konditorei seinen Kaffee zu trinken. Vorgestern fiel er mir am Eingang des städtischen Leihhauses auf. Er war dabei, als man gestern morgen in einem Vorstadtgasthof die Beute teilte.« – »Ich sage dir, es ist ein Kunstschüler«, so wieder der andere. »Er geht auf die hiesige Akademie. Du siehst ja, er hat ja noch Farbe an den Fingern, und schließlich, so sieht doch kein Gauner aus!« – Der Atem des Mannes, der gesprochen hatte, berührte mich. Ich fühlte seine Hauche am Ohr, fühlte, wie die feinen Härchen bewegt wurden. Beinahe war ich ganz wach geworden. Aber ich wollte mehr hören und bewegte mich nicht. Wieder sagte der erste: »Die Meldungen von Berlin weisen auf einen bartlosen Jugendlichen hin mit blondem Haar und blauen Augen. Wenn er nur mal die Augen aufmachte! Die Beschreibung paßt, das Signalement paßt genau, sag' ich dir. Und ganz genau so beschreibt ihn der Nachtwächter von Umpferstädt. Der Rädelsführer war er, wie er sagt, als gestern nacht die Bande sich auffällig machte. Wir sollten den Burschen dingfest machen!« – »Wenn du mir doch glauben wolltest: er ist es nicht! Wo liegt denn übrigens Umpferstädt?« – »Halbwegs nach Jena ungefähr . . .« So ging es noch eine Weile fort, bis die Stimmen schwächer und ferner klangen und ich wieder in tiefen Schlaf verfiel.
Kurz darauf kam der Bahnhofsportier mit der Glocke herein, Carl und wir andern fanden uns wieder zusammen. Ich erzählte, was mir begegnet war, und war immerhin einigermaßen beunruhigt, bevor wir Jena erreicht hatten. Dann aber, nach einem gesunden Schlaf, sagte ich mir, daß ich es wohl mit Geheimpolizisten auf einer falschen Spur zu tun gehabt habe und daß dies nicht weiter aufregend sei. Überdies hatten wir Burschen uns möglicherweise bei unserer nächtlichen Wanderung, als wir durch die Ortschaften zogen, auffällig gemacht. Wir johlten, sangen Studentenlieder, leuchteten mit unseren Fackeln etwa einem furchtsamen Nachtwächter ins Gesicht, pochten auch wohl, wenn der Regen zu stark strömte, einmal vergeblich an um Unterkunft.
So lag Weimar für lange Zeit hinter mir, und bald sollte auch Jena hinter mir liegen. Nur aber freilich in seiner Wirklichkeit, nicht in seiner Geistigkeit. Diese blieb mir und bleibt mir eine immerwährende, sich von Jahr zu Jahr bereichernde Gegenwart. Unmöglich, alle die Keime aufzuweisen, die schon das erste Semester in den Grund meiner Seele geworfen hat, Verbindungen, die es im Reiche des Intelligiblen für immer knüpfte, die entlastende Macht, die es besaß, den Anstoß, durch den die befreite Seele mutig weiterzuschreiten befähigt wurde. Von seinem musterhaften Vater wurde der Knabe Wolfgang Goethe der kleine Athenienser genannt: mag sein, daß sich meinem jenensischen Griechentum viel von meinem juvenilen, illusionistischen Wesen beimengte.
Ich habe noch heute nichts gegen die Kräfte der Illusion, ohne die, wie ich damals schon erkannte, geistiges Leben unmöglich ist. Ihre göttliche Schwester heißt Intuition. Und wenn ich mir glaubhaft machen könnte, daß es mir auch daran in Jena nicht mangelte, so würde es sich erst ganz erklären, wie diese kurze Jenenser Zeit sich mir im Erinnern zum Menschenalter ausweiten konnte.
Aus einem Professor der Geschichte, Böhtlingk, zwei Philologen, von Sabler und Holthaus, Max Müller, Carl und mir bestand unser kleiner, fast Abend für Abend geschlossener Kreis. Der junge Professor war schwerhörig, weshalb er ungestört über Napoleon sprechen konnte, wenn sich Carl ebenso ungestört über Amöben, Radiolarien und das biogenetische Grundgesetz Haeckels ausbreitete, Holthaus von der Etymologie eines Wortes sprach.
Meine Pläne als Dichter nahm Böhtlingk ernst. Meine Büste des blinden Sigwin, die noch immer in der Werkstatt des Steinmetzen von den Gesellen feuchtgehalten wurde, sah er sich an.
Er nannte mir einen jungen thüringischen Bildhauer, der einen allgemein bewunderten schlafenden Knaben in Marmor von Florenz zur Ausstellung nach Berlin geschickt habe. Aber es sei denn doch nichts mit diesem Bildhauer, schon sein zweites Werk habe gründlich enttäuscht, und man dürfe von ihm nichts weiter erwarten. Er zuckte die Achseln, weil damit seine Überzeugung vom künstlerischen Unvermögen der Zeit bestätigt wurde.
Aber dieser Bildhauer war kein Geringerer als der große Adolf Hildebrand.
Eines Tages im März hatte sich plötzlich der ungeheure Gedanke in mir geboren und war sofort zum Entschluß gereift, den Schritt vom Saale-Athen ins wirkliche Griechenland zu tun: eine übermächtige Sehnsucht ermutigte und beflügelte mich. Außer ihr wirkte dazu die Idee meines Dramas »Perikles«, durch den also Karl der Große besiegt und die germanische Linie, trotz Wagner und »Walküre«, aufgegeben wurde.
So verließ ich am Schluß des Semesters das in einem Miniatur-Attika gelegene Miniatur-Athen, das mir so vieles und darunter die große Griechensehnsucht geschenkt hatte. Es war von dem deutschen Parnaß des nahen Weimar überragt und hatte in der Wartburg seine Akropolis, die Hochburg des rombefreiten deutschen Gedankens nach seiner doppelten Wiedergeburt.
Aus dem Gesicht verlieren konnte ich diese beiden erhabenen Gipfel nicht, sie mußten, vom echten Attika und vom heiligen Tempelberge Athens aus gesehen, nur um so stärkere Leuchtkraft gewinnen.
Die letzten meiner Jenenser Eindrücke waren wesentlich studentische.
Das Studentenleben hatte damals noch seine volle, allseitig garantierte Eigenart. Der Student war alles in der kleinen Stadt und konnte sich demgemäß alles gestatten. Mir scheint aber, der Jenenser Student ist höchst selten ins wirklich Rohe ausgeartet.
Es bestand eine Sitte, einen Kommilitonen, der die Universität und somit Jena verließ, in einer Art Sarg mit Trauergesängen in Nachahmung eines Begräbnisses aus der Stadt zu tragen. Weder Dozent noch Bürger noch Geistlichkeit stieß sich daran.
Diese immerhin zweifelhafte Ehre wurde mir nicht zuteil.
Dagegen erinnere ich mich an einen solennen Doktorschmaus, den Ferdinand Simon, der seinen Doktor magna cum laude gemacht hatte, ausrichtete. Das tat er im Gasthof Zum Löwen, wo am Ende des Festes der deutsche Schaumwein in Strömen floß. Das Wunderliche an dieser Veranstaltung war, daß sie den Gastgeber zunächst keinen Pfennig kostete. Die Rechnung dafür hat er vier oder fünf Jahre später bezahlt.
Es war immerhin drollig, wie wir den dicken Löwenwirt an die Tafel holten und ihm huldvoll erlaubten, von seinem eigenen Sekt mitzutrinken. Er war sich der Ehre wohl bewußt.
Im Raume der Kneiperei stand ein Klavier. Und hier zeigte sich uns Max Müller zum ersten und einzigen Mal von der pianistischen Seite. Enthusiastisch sprang er empor, riß sich den schwarzen Rock von den Schultern, saß in Hemdsärmeln vor der Klaviatur und tat einige Läufe, um hernach die fünfte Lisztsche Rhapsodie zu beginnen und mit rasender Wucht bis zu Ende durchzuführen.
Nach dem Verklingen der letzten Töne erhob sich ein unaussprechlicher Jubel. Müller wußte sich kaum zu retten vor den Umarmungen der Begeisterung.
Mary und ich hatten zunächst eine Reise nach Hamburg zu den Geschwistern Georg und Adele verabredet. Ich wollte Berlin kennenlernen, und nach einigen dort verbrachten Tagen sollte Mary von Dresden aus zu mir stoßen, um die Reise nach Hamburg mit mir gemeinsam fortzusetzen.
Ich sah Berlin, und es machte den gewaltigsten Eindruck auf mich.
Max Fleischer war von Breslau auf die Berliner Akademie übergesiedelt. Wir trafen uns und verließen einander, solange ich in Berlin war, nicht. Zum erstenmal empfand ich Rhythmus, Rausch und Wogengärung der großen Stadt. Die Wirkung war sinnbetäubend und fortreißend. Ohne sich selbst aufzugeben, konnte man meinen, keine Eigenbewegung zu haben, sondern eine vom großen Ganzen bewegte Monade zu sein. Man wurde nicht müde, man redete laut, man war immerwährend aufgepeitscht. Fleischer hat mir, das ist gewiß, einmal sechsunddreißig Stunden hintereinander die öffentlichen und geheimen Sehenswürdigkeiten Berlins erschlossen.
Auf dem Anhalter Bahnhof wiederholte sich das Wunder, und ich durfte Mary, die in neuer Lieblichkeit aus dem Zuge stieg, in Empfang nehmen. Das Geheimnis, das wir törichterweise immer noch zu wahren wünschten, verbot mir, ihr meinen Freund Fleischer vorzustellen. Da er Mary jedoch um jeden Preis sehen wollte, nannte ich ihm den Wartesaal zweiter Klasse am Lehrter Bahnhof, wo wir einen halbstündigen Aufenthalt verbringen mußten. Mochte er dort erscheinen und sich an meiner Geliebten satt sehen, freilich mit der Bedingung, sich nicht als meinen alten Bekannten und Freund zu verraten. Selbstverständlich war für mich, falls Fleischer die kleine Mystifikation durchführte, etwas von Kandaules' Vergnügen damit verknüpft.
Mary und ich im Wirbel Berlins: das war etwas anderes als im Garten Eden um Hohenhaus oder im Nieder-Salzbrunner Gutswinkel. Aber auch hier war das seltsam schöne Mädchen mein und wurde nicht von meiner Seite hinweggespült.
Als wir nebeneinander in der Droschke saßen, vom Dienstmann mit einer wohlwollend wissenden Bemerkung bedacht, verschwand Berlin, und es war ganz stille um uns geworden.
Ich muß gestehen, daß mein Herz mehrmals aussetzte, als Fleischer wirklich im ziemlich leeren Wartesaal des Lehrter Bahnhofs erschien, durch keinen Blick und keine Bewegung unsere alte Freundschaft verriet, hin und her ging, Mary aus nächster Nähe anblickte und ebenso, wie er gekommen, verschwand.
Die Fahrt nach Hamburg war recht merkwürdig. Es hieß, der Salonwagen Bismarcks sei im Zug. Ich kämpfte mit einem Minderwertigkeitsgefühl und Eifersucht, als Mary, lebhaft erregt, mich zu vergessen schien.
Wir waren seltsamerweise allein im Coupé. Das und die Fahrt bei gutem Wetter durch das weite, flache, schon saatengrüne Land bedeutete eine endlose Glücksmöglichkeit.
In Friedrichsruh aber hielt der Zug.
Wir sahen die gewaltige Erscheinung des Fürsten mit Tyras, dem Reichshund, auf dem Perron. Hier war Mary, die stille und in sich beruhende Mary, kaum mehr zu bändigen. Wenn ich es nicht gehindert hätte, würde sie ausgestiegen sein und dem Recken die Hand geküßt haben. Er hätte ihr vielleicht sogar einen Kuß auf den Mund appliziert. In diesem Augenblick war unsere Liebe nicht mehr. Der Recke Bismarck löschte sie aus.