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25

Joh Fredersen kam zu seiner Mutter Haus.

Der Tod war über Metropolis gegangen. Weltuntergang und Jüngstes Gericht hatten aus dem Brüllen der Explosionen, dem Dröhnen der Glocken vom Dom geschrien. Aber Joh Fredersen fand seine Mutter, wie er sie immer fand: im breiten, weichen Stuhl am offenen Fenster, die dunkle Decke auf den gelähmten Knien, auf dem Schrägtisch vor ihr die starke Bibel, in den schönen Altfrauenhänden die zierliche Bildspitze, an der sie nähte.

Sie wandte die Augen zur Tür und gewahrte ihren Sohn.

Der Ausdruck herber Strenge in ihrem Gesicht wurde herber und strenger. Sie sagte nichts. Aber um ihren geschlossenen Mund war ein Zug, der sagte: Schlimm steht deine Sache, Joh Fredersen …

Und sie schaute ihn an wie eine Richterin.

Joh Fredersen nahm den Hut vom Kopf. Da sah sie das weiße Haar über seiner Stirn.

»Kind!« sagte sie lautlos und streckte die Hände nach ihm aus.

Joh Fredersen fiel neben seiner Mutter auf die Knie. Er warf die Arme um sie und drückte seinen Kopf in den Schoß, der ihn geboren hatte. Er fühlte ihre Hände auf seinem Haar, fühlte, wie voller Angst, ihm weh zu tun, sie es berührte, als sei dieses weiße Haar Kennzeichen einer unvernarbten, herznahen Wunde, und hörte ihre liebende Stimme sagen: »Mein armes Kind …«

Das Rauschen des Nußbaumes vor dem Fenster erfüllte ein langes Schweigen mit Sehnsucht und Zärtlichkeit. Dann fing Joh Fredersen zu sprechen an. Er sprach mit dem Eifer eines Menschen, der sich in heiligem Wasser wäscht, mit der Inbrunst eines überwundenen Bekenners, mit der Erlöstheit von einem, der zu jeglicher Buße bereit war und begnadigt wurde. Seine Stimme war leise und klang, als käme sie fernher, vom jenseitigen Ufer eines breiten Stroms.

Er sprach von Freder; da versagte seine Stimme ganz. Er erhob sich von den Knien und ging durch das Zimmer. Als er sich umwandte, war in seinen Augen eine lächelnde Einsamkeit und das Wissen um notwendigen Verzicht des Baumes auf die reife Frucht.

»Mir war«, sagte er, ins Leere blickend, »als sähe ich sein Gesicht zum ersten Male … Wie er an diesem Morgen zu mir sprach … Es ist ein seltsames Gesicht, Mutter. Es ist ganz das meine – und doch ganz sein eigenes. Es ist das Gesicht seiner schönen, toten Mutter, und es ist zugleich doch auch nach den Zügen Marias geformt, als wäre er von diesem jungen, jungfräulichen Geschöpf zum zweiten Male geboren worden. Aber es ist zugleich auch das Gesicht der Masse, ihr vertraut, ihr verwandt und brüderlich nahe.«

»Woher kennst du das Gesicht der Masse, Joh?« fragte seine Mutter sanft.

Joh Fredersen gab lange keine Antwort.

»Du hast recht, daß du so fragst, Mutter«, sagte er dann. »Von der Höhe des Neuen Turmes Babel aus konnte ich es nicht erkennen. Und in der Nacht des Wahnsinns, in der ich es zum ersten Male erblickte, war es im eigenen Grauen so verzerrt, daß es sich selber nicht mehr ähnlich sah.

Doch als ich morgens aus der Domtür trat, stand die Masse wie ein Mann und sah mir entgegen. Da war das Gesicht der Masse mir zugewendet. Da sah ich, es war nicht alt, nicht jung, war leidlos, war glücklos.

›Was wollt ihr?‹ fragte ich. Und einer gab Antwort: ›Wir warten, Herr Fredersen.‹

›Worauf?‹ fragte ich ihn.

›Wir warten darauf‹, fuhr der Sprecher fort, ›daß einer kommt, der uns sagt, welchen Weg wir gehen sollen.‹

»Und dieser eine willst du sein, Joh?«

»Ja, Mutter.«

»Und werden sie dir vertrauen?«

»Ich weiß es nicht, Mutter. Wenn wir ein Jahrtausend früher lebten, so würde ich vielleicht mit Pilgerstab und Muschelhut auf die Landstraße hinausgehen und den Weg nach dem Heiligen Land suchen und nicht eher heimkehren, als bis ich meine wanderheißen Füße im Jordan gekühlt und an den Stätten der Erlösung den Erlöser angebetet hätte … Und wäre ich der Mann nicht, der ich bin, dann könnte es geschehen, daß ich mich aufmachte zu einer großen Wanderschaft auf den Straßen der Menschen, die im Schatten gehen. Ich würde vielleicht mit ihnen in den Winkeln des Elends sitzen und ihr Stöhnen und ihre Flüche begreifen lernen, in die das höllische Leben ihre Gebete verwandelt hat … Denn aus dem Begreifen kommt die Liebe, und ich sehne mich danach, die Menschen zu lieben, Mutter … Aber ich glaube, daß Handeln besser als Pilgern ist und daß eine gute Tat mehr Wert hat als das beste Wort. Ich glaube auch, daß ich den Weg dazu finden werde, denn neben mir sind zwei, die mir helfen wollen.«

»Drei, Joh.«

Die Augen des Sohnes suchten den Blick der Mutter.

»Wer sollte der Dritte sein?«

»Hel.«

»Hel?«

»Ja, Kind.«

Joh Fredersen blieb stumm.

Sie schlug die Seiten der Bibel zurück, bis sie fand, was sie suchte. Es war ein Brief. Sie nahm ihn und sagte, ihn noch zärtlich haltend: »Diesen Brief bekam ich von Hel, bevor sie starb. Und sie trug mir auf, ihn dir zu geben, wenn, wie sie sagte, du heimgefunden hättest zu dir und zu mir.«

Lautlos die Lippen regend, streckte Joh Fredersen die Hand nach dem Brief aus.

Der gelbliche Umschlag enthielt nur ein dünnes Blatt. Darauf stand, in der Schrift einer mädchenhaften Frau:

»Ich gehe zu Gott und weiß nicht, wann Du diese Zeilen lesen wirst, Joh. Aber ich weiß: Einmal wirst Du sie lesen. Und ich will, bis Du kommst, die ewige Seligkeit damit ausschöpfen, Gott zu bitten, daß er mir verzeihe, weil ich mich zweier Worte aus seinem Heiligen Buche bediene, um Dir mein Herz zu geben, Joh. Das eine heißt: Ich habe dich je und je geliebt. Das andere: Siehe, ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende! Hel.«

Joh Fredersen brauchte lange Zeit, bevor es ihm glückte, das dünne Briefblatt wieder im Umschlag zu bergen. Seine Augen blickten durch das offene Fenster, an dem die Mutter saß. Er sah an dem sanftblauen Himmel große weiße Wolken ziehen; die waren wie Schiffe, mit Schätzen aus einer fernen Welt befrachtet.

»Woran denkst du, Kind?« sagte die Stimme seiner Mutter behutsam.

Aber Joh Fredersen gab ihr keine Antwort. Sein ganz erlöstes Herz sprach still in ihm:

Bis an der Welt Ende … Bis an der Welt Ende!

 

[Nachwort aus Urhebergründen gelöscht. Re]

 


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