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Es war um die Mitternacht, und es brannte kein Licht. Nur durch das Fenster fiel das Strahlen der Stadt und lag als ein bleicher Schein auf dem Gesicht des Mädchens, das mit geschlossenen Augen, die Hände im Schoß, an die Wand zurückgelehnt ohne Regung dasaß.
»Wirst du mir nie eine Antwort geben?« fragte der große Erfinder.
Stille. Schweigen. Regungslosigkeit.
»Du bist kälter als Stein, bist härter als jeder Stein. Die Spitze deines Fingers müßte den Diamanten zerschneiden, als wäre er Wasser. Ich rufe deine Liebe nicht an. Was weiß ein Mädchen von Liebe? Ihr unerstürmten Festungen, ihr unerschlossenen Paradiese, ihr versiegelten Bücher, die niemand kennt als der Gott, der sie geschrieben hat – was wißt ihr von Liebe? Auch die Frauen wissen von Liebe nichts. Was weiß das Licht vom Licht? Die Flamme vom Brennen? Was wissen die Sterne von den Gesetzen, nach denen sie wandern? Das Chaos müßt ihr fragen, das Frieren, das Finstersein – das ewig Unerlöste, das nach Erlösung von sich selber ringt. Den Mann müßt ihr fragen, was Liebe ist. Der Hymnus des Himmels wird nur in der Hölle gedichtet … Ich rufe deine Liebe nicht an, Maria. Aber dein Mitleid, du Mütterliche mit dem Jungfrauengesicht.«
Stille. Schweigen. Regungslosigkeit.
»Ich halte dich gefangen … Bin ich schuld daran? Ich halte dich nicht für mich gefangen, Maria. Über dir und mir ist ein Wille, der zwingt mich zum Bösesein. Habe Mitleid mit dem, der böse sein muß, Maria! Alle Quellen des Guten sind in mir zugeschüttet. Ich glaubte, sie seien tot; aber sie sind nur Lebendig-Begrabene. Mein Ich ist ein Felsen der Finsternis. Aber ich höre tief in dem traurigen Stein die Quellen rauschen. Wenn ich dem Willen trotze, der über dir und mir ist, wenn ich das Werk zerstöre, das ich nach dir schuf … Es geschähe Joh Fredersen recht, und mir wäre wohler! Er hat mich zerstört, Maria, er hat mich zerstört! Er hat mir die Frau gestohlen, die mein war und die ich liebte. Ich weiß nicht, ob ihre Seele jemals bei mir war. Aber ihr Mitleid war bei mir und machte mich gut. Joh Fredersen nahm mir die Frau. Er machte mich böse. Er, der dem Stein den Druck ihres Schuhes nicht gönnte, machte mich böse, um mir ihr Mitleid zu nehmen. Hel ist gestorben. Aber sie hat ihn geliebt. Was für ein fürchterliches Gesetz ist das, nach dem die Wesen des Lichts sich zu denen der Finsternis wenden, aber an denen im Schatten vorübergehen? Sei barmherziger als Hel war, Maria! Ich will dem Willen trotzen, der über dir und mir ist. Ich will dir die Türen öffnen. Du sollst gehen können, wohin du willst, und niemand soll dich halten. Aber würdest du freiwillig bei mir bleiben, Maria? Ich sehne mich, gut zu werden. Willst du mir helfen?«
Stille. Schweigen, Regungslosigkeit.
»Ich rufe auch dein Mitleid nicht an, Maria. Es gibt auf der Welt nichts Erbarmungsloseres als Frauen, die nur einen einzigen Menschen lieben. Ihr kühlen Mörderinnen im Namen der Liebe! Ihr Todesgöttinnen mit eurem zärtlichen Lächeln! Die Hände eures Geliebten sind kalt. Ihr fragt: ›Soll ich dir deine Hände wärmen, Geliebter?‹ Ihr wartet sein Ja nicht ab. Ihr legt Feuer an eine Stadt. Ihr brennt ein Königreich nieder, damit ihr die kalten Hände eures Geliebten daran erwärmen könnt! Ihr richtet euch auf und pflückt aus dem Himmel der Welt seine strahlendsten Sterne, ohne darauf zu achten, daß ihr das Universum zerstört und den Reigen des Ewigen aus dem Gleichgewicht bringt. ›Willst du die Sterne haben, Geliebter?‹ Und wenn er nein sagt, dann laßt ihr die Sterne fallen. Ach, ihr gebenedeiten Frevlerinnen! Ihr dürftet, furchtbar-unantastbar, vor den Thron Gottes treten und sagen: ›Steh auf, Weltschöpfer! Ich brauche den Thron der Welt für meinen Geliebten!‹ Ihr seht nicht, wer neben euch stirbt, wenn nur der Eine lebt. Ein Tropfen Blut am Finger eures Geliebten ängstigt euch mehr als der Untergang eines Erdteils. All dies weiß ich und habe es nie besessen! Nein, ich rufe dein Mitleid nicht an, Maria. Aber deine Treue rufe ich an.«
Stille. Schweigen. Regungslosigkeit.
»Kennst du die unterirdische Totenstadt? Dort pflegte ein Mädchen, das Maria hieß, seine Brüder nächtlich zusammenzurufen. Seine Brüder tragen die Blauleinentracht, die schwarzen Kappen und die harten Schuhe. Maria sprach zu ihren Brüdern von einem Mittler, der kommen würde, sie zu erlösen. ›Mittler zwischen Hirn und Händen muß das Herz sein.‹ War es nicht so? Die Brüder des Mädchens haben dem Mädchen geglaubt. Sie haben gewartet. Sie haben lange gewartet. Aber der Mittler kam nicht. Und das Mädchen kam nicht. Es hat keine Botschaft geschickt. Es war unauffindbar. Aber die Brüder haben dem Mädchen geglaubt, denn sie hatten es treu wie Gold befunden. ›Sie wird kommen!‹ sagten sie. ›Sie wird wiederkommen! Sie ist treu. Sie läßt uns nicht allein. Sie hat gesagt: ›Der Mittler wird kommen.‹ Nun muß er kommen. Wir wollen geduldig sein und wollen warten …‹ Aber der Mittler kam nicht. Und das Mädchen kam nicht. Das Elend der Brüder ist Tag um Tag gewachsen. Haben sonst tausend gemurrt – jetzt murren zehntausend. Sie lassen sich nicht mehr vertrösten. Sie lechzen nach Kampf, nach Zerstörung, nach Vernichtung und Untergang. Und auch die Gläubigen, auch die Geduldigen fragen: ›Wo ist Maria? Kann es geschehen, daß Gold treulos wird?‹ Wirst du sie ohne Antwort lassen, Maria?«
Stille. Schweigen. Regungslosigkeit.
»Du schweigst. Du bist sehr trotzig. Aber nun werde ich dir etwas sagen, das deinen Trotz schon brechen wird: Glaubst du, ich halte dich hier zum Scherz gefangen? Glaubst du, Joh Fredersen wüßte kein anderes Mittel, dich aus den Augen seines Sohnes zu bringen, als daß er dich hinter das Siegel Salomonis an meinen Türen sperrt? O nein, Maria, o nein, meine schöne Maria! Wir sind nicht müßig gewesen in all den Tagen! Wir haben dir deine schöne Seele gestohlen, deine süße Seele, dies zärtliche Lächeln Gottes. Ich habe dich so belauscht, wie die Luft dich belauscht hat. Ich habe dich zornig gesehen und tief verzweifelt. Ich habe dich brennend gesehen und stumpf wie Erde. Ich habe dich im Gebet zu Gott belauscht und habe Gott geflucht, weil er dich nicht erhörte. Ich habe mich berauscht an deiner Hilflosigkeit. Dein armes Weinen hat mich trunken gemacht. Wenn du den Namen deines Geliebten schluchztest, glaubte ich sterben zu müssen und taumelte … So, als Berauschter, Betrunkener, Taumelnder, bin ich zum Dieb an dir geworden, Maria! Ich schuf dich neu – ich wurde dein zweiter Gott! Ich habe dich dir ganz und gar gestohlen! Im Namen Joh Fredersens, des Herrn über die große Metropolis, habe ich dir dein Ich gestohlen, Maria! Und dieses gestohlene Ich, dein anderes Selbst, hat eine Botschaft an deine Brüder geschickt, hat sie zur Nacht in die Totenstadt gerufen! Sie sind gekommen, sind alle gekommen! Maria hat sie gerufen, da kamen sie. Wenn du früher zu ihnen sprachst, dann hast du zum Frieden geredet. Aber Joh Fredersen will keinen Frieden mehr, begreifst du? Er will die Entscheidung! Die Stunde ist da! Dein gestohlenes Ich darf nicht mehr zum Frieden reden, denn der Mund Joh Fredersens spricht aus ihm. Und unter deinen Brüdern wird einer sein, der dich liebt und nicht wiedererkennen wird, der an dir irre werden wird, Maria … Willst du mir einmal deine Hände geben, Maria? Ich verlange nicht mehr. Deine Hände müssen wie Wunder sein. Begnadung heißt die rechte, Erlösung die linke … Wenn du mir einmal deine Hände gibst, will ich mit dir in die Totenstadt gehen, damit du deine Brüder warnen kannst, damit du dein gestohlenes Ich entlarvst, damit der eine, der dich liebt, dich wiederfindet und nicht irre werden muß an dir … Sagtest du etwas, Maria?«
Er hörte das leise Weinen des Mädchens. Er fiel, wo er stand, auf die Knie. Er wollte sich auf den Knien zu dem Mädchen hinschleppen. Und hielt plötzlich inne. Er horchte. Er starrte. Er sagte mit einer Stimme, die in hellwacher Aufmerksamkeit fast kreischend klang: »Maria? Maria – hörst du nicht? In diesem Zimmer ist ein fremder Mensch!«
»Ja«, sagte die ruhige Stimme Joh Fredersens.
Und dann griffen die Hände Joh Fredersens nach dem Halse Rotwangs, des großen Erfinders …