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»Nun«, sagte Josaphat heiser, »das war nur ein Traum …«
»Gewiß, es war ein Traum. Und Träume, sagt man, sind Schäume, nicht wahr? Aber höre weiter, Josaphat … Ich tauchte aus diesem Traum ins Bewußtsein zurück mit einer Traurigkeit, [die] mich wie ein Messer von oben bis unten zerschnitt. Ich sah die Stirn Marias, diesen weißen Tempel der Güte und Jungfräulichkeit, geschändet mit dem Namen der großen Hure Babylon. Ich sah sie den Tod aussenden über die Stadt. Ich sah, wie Greuel um Greuel sich von ihr lösten und flatternd, Pestgespenster, Unheilsboten, vor dem Weg des Todes die Stadt durchschwärmten. Ich stand da draußen und sah zum Dom hinüber, der mir entheiligt und besudelt schien. Seine Türen standen offen. Dunkle Menschenschlangen krochen hinein in den Dom und stauten sich auf den Treppen. Ich dachte: Vielleicht ist unter diesen frommen Menschen meine Maria. Ich sagte zu meinem Vater: Ich will in den Dom. Er ließ mich gehen. Ich war kein Gefangener. Als ich den Dom erreichte, dröhnte die Orgel wie die Posaune des Jüngsten Gerichts. Gesang aus tausend Kehlen. Dies irae … Der Weihrauch wölkte über den Köpfen der Menge, die auf den Knien lag vor dem ewigen Gott. Das Kruzifix schwebte über dem Hochaltar, und unter dem Licht der ruhelosen Kerzen schienen die Blutstropfen auf der dornengekrönten Stirn des Mariensohnes lebendig zu werden, zu rinnen. Die Heiligen an den Säulen sahen mich düster an, als wüßten sie um meine bösen Träume.
Ich suchte Maria. Ach, ich wußte genau, die Tausende konnten sie nicht vor mir verbergen. Wenn sie hier war, würde ich zu ihr finden, wie der Vogel den Weg zum Nest findet. Aber das Herz lag mir wie tot in der Brust. Dennoch konnte ich es nicht lassen, mußte nach ihr suchen. Ich irrte um die Stelle, an der ich schon einmal auf sie gewartet hatte … Ja, so mag ein Vogel um die Stelle irren, wo sein Nest gewesen ist, das er nicht wiederfindet, weil es der Blitz zerstört hat oder der Sturm.
Und als ich an die Seitennische kam, in der der Tod als Spielmann, auf einem Menschenknochen spielend, stand, da war die Nische leer, der Tod verschwunden.
Es war, als sei der Tod aus meinem Traum nicht wieder heimgekehrt zu seinem Gefolge.
Sage nichts, Josaphat! Es ist belanglos. Ein Zufall … Das Bildwerk war vielleicht schadhaft geworden – ich weiß es nicht! Glaube mir: es ist belanglos.
Aber nun gellte eine Stimme auf.
›Tuet Buße! Das Himmelreich ist nahe.‹
Es war die Stimme Desertus', des Mönchs. Seine Stimme war wie ein Messer. Die Stimme schälte mir das Rückgrat bloß. Es herrschte Totenstille in der Kirche. Von den tausend Menschen ringsum schien keiner zu atmen. Sie lagen auf den Knien, und ihre Gesichter, bleich wie [Masken] des Schreckens, waren dem wilden Prediger zugewandt.
Seine Stimme flog wie ein Speer durch die Luft.
Vor mir, an einer Säule, stand ein junger Mensch, einst mein Spielkamerad im ›Klub der Söhne‹. Hätte ich nicht an mir selber erfahren, wie sehr sich Menschengesichter in kurzer Zeit verändern können, ich hätte ihn nicht erkannt.
Er war älter als ich und von uns allen zwar nicht der Fröhlichste, aber der Lustigste gewesen. Und die Frauen hatten ihn gleichermaßen geliebt und gefürchtet, weil er auf keine Weise, weder mit Lachen noch Tränen, zu fesseln war. Jetzt hatte er das tausendjährige Gesicht von Menschen, die lebendig tot sind. Es war, als hätte ihm ein schlimmer Henker die Augenlider weggenommen, daß er verurteilt war, niemals zu schlafen, und daß er hinstarb an seiner Müdigkeit.
Mehr noch als dies verwunderte mich, ihn hier im Dom zu finden, denn er war sein junges Leben lang ein großer Spötter gewesen.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Er fuhr nicht auf. Er wandte nur eben die Augen, diese verdorrten Augen.
Ich wollte ihn fragen: Was suchst du hier, Jan? Aber die Stimme des Mönchs, diese Speerschleuderstimme, warf ihre Schärfe zwischen ihn und mich … Der Mönch Desertus begann zu predigen …«
Freder wandte sich um und kam zu Josaphat mit einer so heftigen Eilfertigkeit zurück, als habe ihn eine jähe Furcht überfallen. Er setzte sich neben den Freund und sprach sehr hastig, mit Worten, die sich strömend überstürzten.
Er hatte zuerst kaum auf den Mönch gehört. Er hatte den Freund betrachtet und die Menge, die Kopf an Kopf gepreßt auf den Knien lag. Und als er sie ansah, schien es ihm, als harpuniere der Mönch die Menge mit seinen Worten, als würfe er Speere mit tödlichen Widerhaken bis in die heimliche Seele der Lauschenden, als zerre er ihre stöhnenden Seelen heraus aus den furchtdurchzitterten Leibern.
»Wer ist die, deren Hand das Feuer an diese Stadt gelegt hat? Eine Flamme ist sie, eine unreine Flamme. Ihr ward gegeben eines Brandes Gewalt. Sie ist eine feurige Lohe über den Menschen. Sie ist Lilith, Astarte, Höllenrose. Sie ist Gomorrha, Babylon – Metropolis! Eure eigene Stadt – diese furchtbar frevelnde Stadt – hat dieses Weib aus dem Schoß seiner Fülle heraus geboren. Seht sie an! Ich sage euch: Seht sie an! Sie ist das Weib, das erscheinen soll vor dem Gericht der Welt!
Wer Ohren hat, zu hören, der höre:
Sieben Engel werden treten vor Gott, und ihnen werden sieben Posaunen gegeben. Und die sieben Engel mit den sieben Posaunen haben sich gerüstet zu posaunen. Ein Stern wird stürzen vom Himmel auf die Erde, und ihm wird der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben. Und er wird den Brunnen des Abgrunds auf tun, und es wird ein Rauch aus dem Brunnen gehen wie Rauch eines großen Ofens, und durch den Rauch des Brunnens werden Sonne und Luft verfinstert werden. Ein Engel wird fliegen mitten durch den Himmel und sagen mit großer Stimme: Wehe, wehe, wehe denen, die noch auf Erden wohnen! Und ein anderer Engel folgt ihm nach und spricht: Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die große Stadt!
Sieben Engel gehen hervor aus dem Himmel, die tragen in ihren Händen die Schalen des göttlichen Zorns. Und Babylon, der großen, wird gedacht werden vor Gott, ihr zu geben den Kelch des Weins von seinem grimmigen Zorn – die da sitzt auf einem rosenfarbenen Tier, das voll Namen der Lästerung ist und sieben Häupter hat und zehn Hörner. Und das Weib ist bekleidet mit Scharlach und Rosenfarbe und übergüldet mit Gold und Edelsteinen und Perlen. Und hat einen goldenen Becher in seiner Hand, und der Becher ist voll Greuel und Unsauberkeit. Und an ihre Stirn geschrieben steht: Geheimnis … Die große Babylon … Die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden.
Wer Ohren hat, zu hören, der höre! Denn das Weib, das ihr seht, ist die große Stadt, die Gewalt hat über die Könige auf Erden. Geht weg von ihr, mein Volk, daß ihr nicht teilhaftig werdet ihrer Sünden! Denn ihre Sünden reichen bis in den Himmel, und Gott gedenkt ihrer Frevel!
Wehe, wehe, du große Stadt Babylon, du starke Stadt! Auf eine Stunde ist dein Gericht gekommen. In einer Stunde wirst du verwüstet sein. Freuet euch über sie, ihr Himmel und ihr heiligen Apostel und Propheten; Gott wird nach seinem Urteil an ihr tun! Ein starker Engel hebt einen großen Stein auf, wirft ihn ins Meer und spricht: Also wird mit einem Sturm verworfen die große Stadt Babylon, daß niemand mehr weiß, wo ihre Stätte war!
Wer Ohren hat, zu hören, der höre!
Das Weib, das Geheimnis heißt, die Mutter der Greuel, wandert als lohender Brand durch Metropolis. Keine Mauer und kein Tor gebieten ihr Halt. Keine Fessel ist heilig. Ein Schwur wird vor ihr zum Spott. Ihr Lächeln ist letzte Verführung. Lästerung ist ihr Tanz. Sie ist die Flamme, die spricht: Gott ist sehr zornig! Wehe über die Stadt, in der sie erschien!«
Freder hatte sich zu Jan hinübergebeugt.
»Von wem spricht er?« fragte er mit sonderbar kalten Lippen. »Spricht er von einem Menschen? Von einer Frau?«
Er sah, daß die Stirn seines Freundes mit Schweiß bedeckt war.
»Er spricht von ihr«, sagte Jan, als spräche er mit gelähmter Zunge.
»Von wem?«
»Von ihr … Kennst du sie nicht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Freder, »wen du meinst.«
Und auch seine Zunge war träge und kalt wie aus Lehm.
Jan gab keine Antwort. Er hatte die Schultern hochgezogen, als friere er heftig. Verstört und unentschlossen horchte er auf das dumpf einsetzende Brausen der Orgel.
»Wir wollen gehen!« sagte er tonlos und wandte sich um. Freder folgte ihm. Sie verließen den Dom. Lange gingen sie stumm nebeneinander her. Jan schien ein Ziel zu haben, das Freder nicht kannte. Er fragte nicht. Er wartete. Er dachte an seinen Traum und an die Worte des Mönchs.
Endlich tat Jan den Mund auf; aber er sah Freder nicht an, sprach ins Leere hinein.
»Du weißt nicht, wer sie ist. Aber das weiß niemand. Sie war auf einmal da, so wie Feuer ausbricht. Keiner kann sagen, wer den Brand entfacht hat. Aber nun ist er da, und alles steht in Flammen …«
»Eine Frau?«
»Ja. Eine Frau. Vielleicht auch ein Mädchen. Ich weiß es nicht. Es ist nicht auszudenken, daß dieses Wesen sich einem Manne gibt. Kannst du dir die Vermählung des Eises denken? Oder wenn sie es täte, dann würde sie aus den Armen des Mannes sich blank und kühl erheben in der schrecklich-ewigen Jungfräulichkeit des Unbeseelten …«
Er hob die Hand und griff sich nach dem Hals. Er zerrte etwas von sich, das nicht da war. Er betrachtete ein Haus, das jenseits der Straße ihm gegenüber lag, mit den Blicken einer abergläubischen Feindseligkeit, die ihm die Hände kalt machte.
»Was hast du?« fragte Freder. An diesem Haus war nichts Bemerkenswertes, als daß es neben dem Hause Rotwangs lag.
»Sei still!« antwortete Jan zwischen den Zähnen und grub seine Finger um Freders Handgelenk.
»Bist du verrückt?« starrte Freder den Freund an. »Glaubst du, über diese Höllenstraße hinüber könnte das Haus uns hören?«
»Es hört uns!« sagte Jan mit hartnäckigem Gesicht. »Es hört uns! Du meinst, es sei ein Haus wie andere auch? Du irrst dich. In diesem Haus fing es …«
»Was fing an?«
»Der Spuk …«
Freder fühlte, daß seine Kehle trocken war. Er räusperte sich gewaltsam. Er wollte den Freund mit sich weiterziehen. Aber der widerstrebte. Er stand an der Brüstung der Straße, die steil als Schlucht sich hinabgrub, und starrte auf das Haus gegenüber.
»Eines Tages«, begann er, »schickte das Haus Einladungskarten an alle seine Nachbarn. Es war die tollste Einladung der Welt. Auf der Karte stand nichts als: ›Kommen Sie am Abend um 11 Uhr! Das 12. Haus der 113. Straße.‹ Man hielt das Ganze für einen Scherz. Aber man ging hin. Man wollte sich den Scherz nicht entgehen lassen. Sonderbarerweise kannte niemand das Haus. Kein Mensch konnte sich entsinnen, es jemals betreten zu haben oder etwas über seine Bewohner zu wissen. Man erschien um elf. Man war festlich gekleidet. Man kam in das Haus und fand eine große Gesellschaft. Man wurde von einem alten Mann empfangen, der äußerst höflich war, aber keinem die Hand gab. Es machte einen sonderbaren Eindruck, daß alle Menschen, die hier versammelt waren, auf irgend etwas zu warten schienen, das sie nicht kannten. Man wurde von Dienern, die Stummgeborenen glichen und nie die Augen hoben, wohl bedient. Obgleich der Raum, in dem sich alle befanden, so groß war wie ein Kirchenschiff, herrschte doch eine unerträgliche Hitze, als glühe der Boden und als glühten die Wände – und das, obwohl die breite Tür zur Straße, wie man bemerken konnte, offenstand.
Plötzlich kam von der Tür her einer der Diener mit unhörbaren Schritten auf den Gastgeber zu und schien ohne Worte, mit seinem stummen Dastehn, eine Meldung zu erstatten. Der Gastgeber fragte: ›Sind wir alle versammelt?‹ Der Diener senkte den Kopf. ›Dann schließt die Tür!‹ Das geschah. Die Diener wichen zur Seite und stellten sich auf. Der Gastgeber trat in die Mitte des großen Saales. Im selben Augenblick herrschte eine so vollkommene Stille, daß man den Lärm der Straße wie eine Brandung gegen die Mauer des Hauses dröhnen hörte.
›Meine Damen und Herren‹, sagte der Mann höflich, ›ich habe die Ehre, Ihnen meine Tochter vorzustellen!‹
Er verbeugte sich nach allen Seiten und wandte sich rückwärts. Alle warteten. Niemand bewegte sich.
›Nun, meine Tochter?‹ fragte der alte Mann mit einer sanften, aber irgendwie entsetzlichen Stimme und klopfte ganz leicht in die Hände.
Da erschien sie auf den Stufen der Treppe und kam langsam in den Saal herunter …«
Jan schluckte. Seine Finger, die noch immer das Handgelenk Freders umklammert hielten, packten zu, als wollten sie ihm die Knochen zerdrücken.
»Warum erzähle ich dir das?« stotterte er. »Kann man einen Blitz beschreiben? Oder Musik? Oder den Duft einer Blume? Alle Frauen im Saal erröteten plötzlich auf eine heftige und krankhafte Weise, und die Männer wurden bleich. Niemand schien imstande, auch nur die geringste Bewegung zu machen oder das armseligste Wort zu sagen. Du kennst Rainer? Du kennst seine junge Frau? Du weißt, wie sehr sie sich liebten? Er stand hinter ihr, die saß, und hatte beide Hände auf ihre Schultern gelegt mit einer Gebärde der schützenden und leidenschaftlichen Zärtlichkeit. Als das Mädchen an ihnen vorüberging – sie ging, von der Hand des Alten geführt, mit sachten, klingenden Schritten langsam durch den Saal –, lösten sich Rainers Hände von den Schultern seiner Frau. Sie sah zu ihm auf, er zu ihr nieder; und in den Gesichtern dieser beiden Menschen flammte wie eine Fackel ein jäher, todwünschender Haß …
Es war, als brannte die Luft. Wir atmeten Feuer. Und dabei ging von dem Mädchen eine Kälte, eine unerträgliche, schneidende Kälte aus. Das Lächeln, das zwischen ihren halbgeöffneten Lippen schwebte, schien der unausgesprochene Schlußvers eines zuchtlosen Liedes zu sein.
Gibt es eine Substanz, durch deren chemische Kraft Gefühle zerstört werden wie Farben durch Säuren? Die Gegenwart dieses Mädchens genügt, um alles, was Treue im menschlichen Herzen heißt, bis zur Lächerlichkeit zu vernichten. Ich war der Einladung dieses Hauses gefolgt, weil Tora mir gesagt hatte, daß sie auch hingehen würde. Jetzt sah ich Tora nicht mehr und habe sie nicht mehr gesehen. Und das Seltsame war, daß unter diesen vielen unbeweglichen, wie in Erstarrung verharrenden Menschen nicht einer war, der seine Empfindung hätte verbergen können. Jeder wußte, wie es um den anderen stand. Jeder fühlte sich nackt und sah die Nacktheit der anderen. Haß, aus Scham geboren, schwelte zwischen uns. Ich sah Tora weinen. Ich hätte sie schlagen können … Dann tanzte das Mädchen. Nein, es war kein Tanz … Sie stand, von der Hand des Alten losgelassen, auf der letzten Treppenstufe, uns zugewendet, und hob mit einer sanften, endlos scheinenden Bewegung beide Arme und die Weite ihres Gewandes. Die schmalen Hände berührten sich über dem Scheitel. Über die Schultern, die Brüste, die Hüften, die Knie lief unablässig ein kaum merkbares Zittern. Es war kein Zittern der Furcht. Es war wie das Zittern der feinen Rückenflossen eines leuchtenden Tiefseefisches. Es war, als würde das Mädchen von diesem Zittern immer höher getragen, obwohl es die Füße nicht regte. Kein Tanz, kein Schrei, kein Brunstschrei eines Tieres kann so aufpeitschend wirken wie dieses Zittern des schimmernden Körpers, der in seiner Stille und seiner Einsamkeit jedem einzelnen im Saale die Wellen seiner Erregung mitzuteilen schien.
Dann ging sie die Treppe hinauf, mit tastenden Füßen rückwärts schreitend, ohne die Hände zu senken, und verschwand in einer plötzlichen, sammettiefen Dunkelheit. Die Diener öffneten die Tür zur Straße. Sie stellten sich mit gebeugten Rücken auf.
Noch immer saßen die Menschen unbeweglich.
›Gute Nacht, meine Damen und Herren!‹ sagte der Alte …«
Jan schwieg. Er nahm den Hut vom Kopf. Er wischte sich über die Stirn.
»Eine Tänzerin«, sagte Freder mit kalten Lippen, »aber kein Spuk.«
»Kein Spuk? Ich will dir eine andere Geschichte erzählen: Ein Mann und eine Frau von fünfzig und vierzig, reich und sehr glücklich, haben einen Sohn. Du kennst ihn, aber ich will nicht Namen nennen …
Der Sohn hat das Mädchen gesehen. Er ist wie irre. Er bestürmt das Haus. Er bestürmt den Vater des Mädchens: ›Gib mir das Mädchen! Ich verblute nach ihr!‹ Der Alte lächelt, zuckt die Achseln, schweigt, bedauert: Das Mädchen ist unerreichbar.
Der junge Mensch will sich an dem Alten vergreifen und wird, er weiß nicht von wem, aus dem Haus gewirbelt und auf die Straße geworfen. Man bringt ihn nach Hause. Er fällt in Krankheit und ist dem Tode nahe. Die Ärzte zucken die Achseln.
Der Vater, der ein stolzer, aber gütiger Mensch ist und seinen Sohn mehr als irgend etwas auf Erden liebt, beschließt, den Alten selber aufzusuchen. Man läßt ihn ohne Schwierigkeiten vor. Er findet den Alten und bei ihm das Mädchen. Er sagt zu dem Mädchen: ›Retten Sie meinen Sohn!‹
Das Mädchen sieht ihn an und sagt mit einem Lächeln der holdesten Unmenschlichkeit: ›Du hast keinen Sohn …‹
Er versteht den Sinn dieser Worte nicht. Er will mehr wissen. Er dringt in das Mädchen. Das gibt immer die gleiche Antwort. Er dringt in den Alten, der hebt nur die Schultern. Er hat ein perfides Lächeln um den Mund …
Plötzlich begreift der Mann. Er geht nach Hause. Er wiederholt der Frau die Worte des Mädchens. Sie bricht zusammen und gesteht ihre Schuld, die nach zwanzig Jahren noch nicht verjährt ist. Aber ihr eigenes Schicksal kümmert sie nicht. Sie hat keinen anderen Gedanken als ihren Sohn. Schande, Verlassenwerden, Einsamkeit – das alles ist nichts; aber der Sohn ist alles.
Sie geht zu dem Mädchen und fällt vor ihm auf die Knie: ›Ich bitte dich um der Barmherzigkeit Gottes willen, rette meinen Sohn!‹ Das Mädchen sieht sie an, lächelt und sagt: ›Du hast keinen Sohn …‹ Die Frau glaubt, eine Wahnsinnige vor sich zu haben. Aber das Mädchen hatte recht. Der Sohn, der heimlich Zeuge der Unterredung zwischen dem Mann und der Mutter gewesen war, hatte seinem Leben ein Ende gemacht.«
»Marnius?«
»Ein grausiger Zufall, Jan, aber kein Spuk.«
»Zufall? Kein Spuk? Und wie nennst du das, Freder«, fuhr Jan fort und sprach ganz nahe am Ohr Freders, »daß dieses Mädchen an zwei Orten zu gleicher Zeit erscheinen kann?«
»Das ist Narrheit.«
»Nicht Narrheit, Wahrheit, Freder! Man hat das Mädchen am Fenster vom Hause Rotwangs stehen sehen – und um dieselbe Stunde tanzte sie ihren verruchten Tanz in Yoshiwara.«
»Das ist nicht wahr!« sagte Freder.
»Es ist wahr!«
»Du hast das Mädchen in Yoshiwara gesehen?«
»Du kannst sie selber sehen, wenn du willst.«
»Wie heißt das Mädchen?«
»Maria.«
Freder legte die Stirn in seine Hände. Er krümmte sich ganz zusammen, als litte er einen Schmerz, dem Gott sonst nicht erlaubt, die Menschen zu treffen.
»Du kennst das Mädchen?« fragte Jan und beugte sich vor.
»Nein!« antwortete Freder.
»Aber du liebst sie«, sagte Jan, und hinter seinen Worten stand sprungbereit der Haß.
Freder nahm seine Hand und sagte: »Komm!«
»Aber«, fuhr Freder fort und richtete seine Augen auf Josaphat, der in sich versunken dasaß, während der Regen leiser wurde wie gestilltes Weinen, »da stand der Schmale plötzlich neben mir und sagte: ›Wollen Sie nicht nach Hause gehen, Herr Freder?‹«
Josaphat schwieg sehr lange. Auch Freder schwieg. Im Rahmen der offenen Tür, die auf den Altan hinausführte, stand schwebend das Bild des Uhrenungeheuers am Neuen Turm Babel, von weißem Licht gebadet. Der große Zeiger rückte auf die Zwölf.
Da erhob sich über Metropolis ein Laut …
Es war ein über alle Maßen herrlicher und hinreißender Laut, tief und dröhnend und gewaltiger als irgendein Laut in der Welt. Die Stimme des Ozeans, wenn er zornig ist, die Stimme von stürzenden Strömen, von sehr nahen Gewittern, wären kläglich ertrunken in diesem Behemot-Laut. Er durchdrang, ohne grell zu sein, alle Mauern und alle Dinge, die, solange er währte, in ihm zu schwingen [schienen]. Er war allgegenwärtig, kam aus der Höhe und Tiefe, war schön und entsetzlich, war unwiderstehlich Befehl.
Er war hoch über der Stadt. Er war die Stimme der Stadt.
Metropolis erhob ihre Stimme. Die Maschinen von Metropolis brüllten: Sie wollten gefüttert sein.
Freders und Josaphats Augen begegneten sich.
»Jetzt«, sagte Josaphat langsam, »gehen viele Menschen hinunter in eine Stadt der Toten und warten auf eine, die auch Maria heißt und die sie treu wie Gold gefunden haben.«
»Ja«, sagte Freder, »du bist ein Freund und hast recht. Ich werde mit ihnen gehen.«
Und zum ersten Male in dieser Nacht war etwas wie Hoffnung im Klang seiner Stimme.