Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Der Mann vor der Maschine, die Ganescha glich, dem Gott mit dem Elefantenkopf, war kein Mensch mehr. Nur noch ein triefendes Stück Erschöpfung, aus dessen Poren die letzte Willenskraft in großen Tropfen Schweißes wegtropfte. Überronnene Augen sahen das Manometer nicht mehr. Die Hand hielt den Hebel nicht, sie krallte sich an ihm fest als an dem letzten Halt, der das zerstampfte Mann-Geschöpf davor bewahrte, der Maschine in die zermalmenden Arme zu stürzen.

Das Paternoster-Werk des Neuen Turms Babel drehte seine Schöpfeimer in gemächlichem Gleichmaß. Das Auge der kleinen Maschine lächelte sanft und tückisch auf den Mann, der vor ihr stand und der nur noch ein Lallen war.

»Vater!« lallte der Sohn Joh Fredersens. »Heute zum ersten Male, seit Metropolis steht, hast du vergessen, deine Stadt und deine großen Maschinen rechtzeitig nach neuem Futter brüllen zu lassen … Ist Metropolis stumm geworden, Vater? Sieh uns an! Sieh deine Maschinen an! Deine Gott-Maschinen ekeln sich vor den zerkauten Bissen in ihrem Munde, vor dem zerstampften Futter, das wir sind … Warum würgst du ihre Stimme tot? Nehmen zehn Stunden niemals – niemals ein Ende? Vater unser, der Du bist im Himmel …«

Aber in dieser Sekunde hatte Joh Fredersen den Finger auf die kleine blaue Metallplatte gelegt, und die Stimme der großen Metropolis erhob ihren Behemot-Schrei, daß die Mauern bebten. Bis in den Grund seines Baues erbebte der Neue Turm Babel unter der Stimme der großen Metropolis.

»Danke, Vater!« sagte der zermalmte Mensch vor der Maschine, die Ganescha glich. Er lächelte. Er spürte Salzgeschmack auf seinen Lippen und wußte nicht, war es von Blut, Schweiß oder Tränen. Aus rotem Nebel, aus langgeflammten Schwaden schoben sich neue Menschen an ihn heran. Er ließ die Hand vom Hebel und sackte zusammen. Arme rissen ihn hoch und führten ihn weg. Er wandte den Kopf ab, um sein Gesicht zu bergen.

Das Auge der kleinen Maschine, das sanfte, tückische Auge, blinzelte hinter ihm drein.

»Auf Wiedersehen, Freund!« sagte die kleine Maschine.

Freders Kopf fiel zur Brust. Er fühlte sich weitergeschleppt, hörte das dumpfe Gleichmaß vorwärtstrottender Füße, fühlte sich selbst als ein Glied von zwölf Gliedern im Trott. Unter seinen Füßen begann der Boden zu rollen, wurde aufgespult und riß ihn mit nach unten.

Tore standen offen, zweigeflügelte. Ihnen entgegen kam ein Zug von Menschen.

Immer noch brüllte die große Metropolis.

Plötzlich verstummte sie, und in der Stille spürte Freder an seinem Ohr den Atem eines Menschen und eine Stimme, die – nur hauchend – fragte: »Sie hat gerufen … Kommst du mit?«

Er wußte nicht, was die Frage bedeuten sollte; aber er nickte. Er wollte die Wege derer kennenlernen, die wie er in blauem Leinen, in der schwarzen Kappe, in den harten Schuhen gingen.

Mit fest geschlossenen Lidern tappte er weiter, Schulter an Schulter mit einem Unbekannten.

Sie hat gerufen, dachte er, halb schlafend. Wer ist das, sie?

Er ging und ging in schwelender Müdigkeit. Der Weg nahm kein Ende. Er wußte nicht, wo er schritt. Er hörte das Trotten derer, die mit ihm gingen, wie das Geräusch von unablässig stürzendem Wasser.

Sie hat gerufen, dachte er. Wer ist das: sie, deren Stimme so mächtig ist, daß diese Menschen, von Müdigkeit bis auf den Tod erschöpft, freiwillig den Schlaf wegstoßen, der Müden das Süßeste ist, um ihr zu folgen, wenn ihre Stimme ruft?

Es kann nicht mehr sehr weit bis zum Mittelpunkt der Erde sein …

Noch tiefer? Noch immer tiefer hinab?

Kein Licht mehr ringsum, nur hier und da aufblitzende Taschenlampen in Menschenhänden.

Endlich, in weiter Ferne, ein matter Schimmer.

Sind wir so weit gewandert, um der Sonne entgegenzugehen, dachte Freder, und wohnt die Sonne im Nabel der Welt?

Der Zug geriet ins Stocken. Auch Freder blieb stehen. Er torkelte gegen trockenes und kühles Gestein.

Wo sind wir? dachte er. In einer Höhle? Wenn die Sonne hier wohnt, dann ist sie jetzt nicht zu Hause. Ich fürchte, wir haben den Weg umsonst gemacht. Wir wollen umkehren, Brüder … Wir wollen schlafen …

Er glitt an der Mauer entlang, fiel in die Knie, lehnte den Kopf ans Gestein. Wie lind das war …

Ein Murmeln von Menschenstimmen war um ihn her wie Rauschen von Bäumen, die der Wind bewegt.

Er lächelte friedlich. Schön ist's, müde zu sein …

Dann hob eine Stimme zu sprechen an.

Ach, süße Stimme, dachte Freder verträumt. Zärtlich geliebte Stimme. Deine Stimme, Jungfrau-Mutter! Ich bin eingeschlafen. Ja, ich träume! Deine Stimme träume ich, Geliebte!

Aber ein feiner Schmerz an seiner Schläfe ließ ihn denken: Ich lehne die Stirn an Stein! Ich bin mir der Kälte bewußt, die von dem Stein ausgeht. Ich spüre kalte Steine unter meinen Knien. Ich schlafe also nicht, ich träume nur … Oder, wenn das kein Träumen ist? Wenn das Wirklichkeit ist?

Mit einer Willensanstrengung, die ihn stöhnen machte, riß er die Augen auf und sah sich um.

Ein Gewölbe wie eine Gruft, Menschenköpfe, so dicht gedrängt, daß sie wie Schollen eines frisch gepflügten Ackers wirkten. Alle Gesichter zu einem Punkt gewandt: zu der Quelle eines gottmilden Lichts.

Kerzen brannten, die Flammen wie Schwerter geformt. Schmale leuchtende Schwerter des Lichts standen im Kreis um den Kopf eines Mädchens, dessen Stimme war wie das Atmen Gottes.

Die Stimme sprach, aber Freder hörte die Worte nicht. Er hörte nichts als einen Klang, dessen gebenedeiter Wohllaut von Süßigkeit gesättigt war wie die Luft eines Blütengartens mit Duft. Und plötzlich stürzte über diesen Wohllaut her das tosende Brausen seines Herzschlags. Die Luft dröhnte von Glocken. Die Wände bebten unter der Brandung einer unsichtbaren Orgel. Müdigkeit, Erschöpfung – ausgelöscht! Er fühlte seinen Körper vom Kopf bis zu den Füßen als ein einziges Instrument der Glückseligkeit, alle Saiten bis zum Zerreißen gespannt und doch zusammengestimmt in den reinsten, heißesten, strahlendsten Akkord, in dem sein ganzes Wesen dröhnend schwang.

Er sehnte sich danach, die Steine, auf denen er kniete, mit seinen Händen zu streicheln. Er sehnte sich danach, die Steine, an die er die Stirn lehnte, in grenzenloser Zärtlichkeit zu küssen. Gott – Gott!

schlug ihm das Herz in der Brust, und jeder Herzschlag war anbetende Dankbarkeit. Er sah das Mädchen an und sah es nicht. Er sah nur einen Schimmer; davor lag er auf den Knien.

Holdselige, formte sein Mund. Meine! Geliebte! Wie konnte die Welt bestehen, als du noch nicht warst? Wie muß das Lächeln Gottes gewesen sein, als er dich schuf? Du sprichst? Was sprichst du? Das Herz schreit in mir – ich kann deine Worte nicht fassen … Habe Geduld mit mir, Holdselige, Geliebte!

Ohne daß er es wußte, von einem unsichtbaren, nicht zu zerreißenden Seil gezogen, schob er sich auf den Knien näher und näher dem Schimmer, der das Gesicht des Mädchens für ihn war. Zuletzt war er ihr so nahe, daß er mit ausgestreckter Hand den Saum ihres Kleides hätte berühren können.

»Sieh mich an, Jungfrau!« beteten seine Augen. »Mutter, sieh mich an!«

Aber ihre sanften Augen blickten über ihn fort. Ihre Lippen sagten: »Meine Brüder …«

Mit einer Gebärde schmerzlichen Gehorsams, bedingungsloser Unterwerfung senkte Freder den Kopf und legte seine glühenden Hände vor sein glühendes Gesicht.

»Meine Brüder«, sagte die holde Stimme über ihm.

Und verstummte, wie erschrocken.

Freder hob den Kopf. Es war nichts geschehen – nichts, was sich hätte sagen lassen. Nur daß die Luft, die durch den Raum hinstrich, plötzlich wie ein gesteigerter Atem hörbar geworden war, und daß sie kühl war, wie durch geöffnete Türen kommend.

Mit zartem Knistern beugten sich die Schwertflammen der Kerzen. Dann standen sie wieder still.

Sprich, meine Geliebte! sagte Freders Herz.

Ja, nun sprach sie. Dies war, was sie sprach:

»Wollt ihr wissen, wie der Turmbau zu Babel begann, und wollt ihr wissen, wie er endete? Ich sehe einen Menschen, der aus dem Morgenrot der Welt stammt. Er ist schön wie die Welt und hat ein brennendes Herz. Er liebt es, auf Bergen zu gehen und seine Brust dem Wind zu bieten und mit den Sternen zu sprechen. Er ist sehr stark und meistert alle Geschöpfe. Er träumt von Gott und fühlt sich ihm nah verwandt. Seine Nächte sind mit Gesichten angefüllt.

Eine heilige Stunde sprengt ihm das Herz. Der Sternenhimmel ist über ihm und seinen Freunden. Ach, Freunde! Freunde! ruft er und zeigt nach den Sternen. Groß ist die Welt und ihr Schöpfer! Groß ist der Mensch! Auf, lasset uns einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht! Und wenn wir auf seiner Spitze stehen und die Sterne über uns klingen hören, dann wollen wir unser Bekenntnis in goldenen Zeichen an die Spitze des Turms schreiben: Groß ist die Welt und ihr Schöpfer! Und groß ist der Mensch!

Und sie machten sich auf, eine Handvoll Männer, die einander vertrauten, und brannten Ziegel und huben die Erde aus. Nie haben Menschen eiliger geschafft, denn sie alle hatten einen Gedanken, ein Ziel und einen Traum. Wenn sie am Abend ruhten von ihrer Arbeit, wußte jeder, woran der andere dachte. Sie brauchten die Sprache nicht, um sich zu verständigen. Aber nach kurzer Zeit schon wußten sie: Das Werk war größer als ihre schaffenden Hände. Da warben sie neue Freunde für ihr Werk. Da wuchs das Werk. Da wuchs es übergewaltig. Da schickten die Bauenden ihre Boten nach allen vier Winden der Welt und warben um Hände, um schaffende Hände für ihr gewaltiges Werk.

Die Hände kamen. Die Hände schafften um Lohn. Die Hände wußten nicht einmal, woran sie schafften. Es kannte keiner von denen, die südwärts bauten, einen von denen, die gen Norden gruben. Das Hirn, das den Turmbau zu Babel geträumt, war denen, die ihn bauten, unbekannt. Hirn und Hände waren einander fern und fremd. Feindlich wurden sich Hirn und Hände. Lust des einen wurde Last des andern. Lobgesang des einen wurde Fluch des andern.

›Babel!‹ schrie der eine, und er meinte: Gottheit, Krönung, ewiger Triumph!

›Babel!‹ schrie der andere, und er meinte: Hölle, Fron, ewige Verdammnis!

Gleiches Wort war Gebet und Lästerung. Gleiche Worte sprechend, verstanden die Menschen sich nicht.

Daß die Menschen sich nicht mehr verstanden – daß sich Hirn und Hände nicht mehr verstanden, das ist schuld daran, daß der Turm Babel der Zerstörung preisgegeben wurde, daß auf seiner Spitze nie in goldenen Zeichen die Worte dessen standen, der sie geträumt: Groß ist die Welt und ihr Schöpfer! Und groß ist der Mensch!

Daß sich Hirn und Hände nicht mehr verstehen, das wird einst den Neuen Turm Babel zerstören.

Einen Mittler brauchen Hirn und Hände. Mittler zwischen Hirn und Händen muß das Herz sein.«

Sie schwieg. Ein Atmen, das wie ein Seufzen war, kam von den stummen Lippen der Horchenden.

Dann stand einer langsam auf, stemmte die Fäuste auf die Schultern derer, die vor ihm kauerten, und fragte, das magere Gesicht mit den fanatischen Augen zu dem Mädchen erhebend: »Und wo ist unser Mittler?«

Das Mädchen sah ihn an, und über ihr süßes Gesicht ging das Leuchten einer grenzenlosen Zuversicht.

»Wartet auf ihn!« sagte sie. »Er kommt gewiß!«

Ein Murmeln ging durch die Reihen der Männer. Freder senkte den Kopf bis zu den Füßen des Mädchens. Seine ganze Seele sprach: »Ich will es sein …«

Aber sie sah ihn nicht und hörte ihn nicht.

»Habt Geduld, meine Brüder!« sagte sie. »Der Weg, den euer Mittler gehen muß, ist weit. Viele sind unter euch, die schreien: Kämpfen! Zerstören! Kämpft nicht, meine Brüder, denn das macht euch schuldig. Glaubt mir: Es wird einer kommen, der für euch spricht, der ein Mittler sein wird zwischen euch, den Händen – und dem Mann, dessen Hirn und Willen über euch allen ist. Er wird euch etwas schenken, das kostbarer ist als alles, was euch sonst ein Mensch zu schenken vermöchte: frei zu werden, ohne schuldig zu werden.«

Sie stand auf von dem Stein, auf dem sie gesessen hatte. Bewegung durchlief die zu ihr gewandten Köpfe. Eine Stimme wurde laut. Man sah den Sprecher nicht. Es war, als sprächen alle: »Wir werden warten. Aber nicht lange mehr!«

Das Mädchen schwieg. Mit ihren traurigen Augen schien sie den Sprecher unter der Menge zu suchen.

Ein Mann, der vor ihr stand, sprach zu ihr hinauf: »Und wenn wir kämpfen – wo wirst du dann sein?«

»Bei euch!« sagte das Mädchen, die Hände öffnend mit der Gebärde einer Opfernden. »Habt ihr mich jemals ungetreu gefunden?«

»Niemals!« sagten die Männer. »Du bist wie Gold. Wir werden tun, was du von uns erwartest.«

»Danke«, sagte das Mädchen, die Augen schließend. Mit gesenktem Kopf stand sie da, auf den Trott sich entfernender Füße horchend, Füße, die in harten Schuhen gingen.

Erst als es ganz stille um sie geworden war und der Hall des letzten Schrittes erstorben, seufzte sie und schlug die Augen auf.

Da sah sie einen Menschen, der das Blauleinen trug und die schwarze Kappe und die harten Schuhe, ihr zu Füßen auf den Knien liegend.

Sie bückte sich zu ihm. Er hob den Kopf. Sie sahen sich an. Und da erkannte sie ihn.

 

Hinter ihnen, in einer Totenkammer, die wie ein spitzes Teufelsohr geformt war, faßte die Hand eines Mannes nach eines andern Mannes Arm.

»Still! Sei still!« flüsterte eine Stimme, die lautlos war und doch wie Gelächter wirkte, wie das Gelächter schadenfrohen Hohns.

 

Das Gesicht des Mädchens war wie ein Kristall, der mit Schnee gefüllt ist. Sie hatte eine Bewegung zur Flucht gemacht. Aber die Knie waren ihr nicht gehorsam. Schilf, das in bewegtem Wasser steht, bebt nicht mehr, als ihre Schultern bebten.

»Wenn du zu uns gekommen bist, um uns zu verraten, Sohn Fredersens, dann wirst du wenig Segen davon haben«, sagte sie leise, aber mit klarer Stimme.

Er stand auf und blieb vor ihr stehen.

»Ist das all dein Glaube an mich?« fragte er ernsthaft.

Sie schwieg und sah ihn an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Du«, sagte der Mann. »Wie soll ich dich nennen? Ich weiß deinen Namen nicht. Ich habe dich immer nur ›Du‹ genannt. In allen schlimmen Tagen und schlimmeren Nächten, da ich nicht wußte, ob ich dich wiederfinden würde, hab' ich dich immer nur ›Du‹ genannt. Willst du mir nicht endlich sagen, wie du heißt?«

»Maria«, antwortete das Mädchen.

»Maria … So mußtest du wohl heißen. Du hast es mir nicht leichtgemacht, den Weg zu dir zu finden, Maria.«

»Warum hast du den Weg zu mir gesucht? Und warum trägst du die Blauleinentracht? Die verurteilt wurden, sie ein Leben lang zu tragen, wohnen in einer unterirdischen Stadt, die in allen fünf Erdteilen als ein Weltwunder gilt. Sie ist ein Wunder der Baukunst, das ist wahr! Sie ist sauber und strahlend hell und ein Muster an Ordnung. Nichts fehlt ihr als die Sonne – und der Regen – und der Mond in der Nacht – nichts als der Himmel. Davon haben die Kinder, die dort geboren werden, ihre Gnomengesichter. Willst du hinunter in diese Stadt unter der Erde, um dich dann doppelt an deiner Behausung zu freuen, die so hoch über der großen Metropolis im Licht des Himmels liegt? Trägst du die Tracht, die du heute trägst, zum Spiel?«

»Nein, Maria. Ich will sie nun immer tragen.«

»Als Sohn Joh Fredersens?«

»Er hat keinen Sohn mehr, außer du selbst gibst ihm den Sohn zurück.«

 

Hinter ihnen, in einer Totenkammer, die wie ein spitzes Teufelsohr geformt war, legte sich die Hand eines Mannes auf eines anderen Mannes Mund.

»Es steht geschrieben«, flüsterte ein Gelächter: »›Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und am Weibe hangen …‹«

 

»Willst du mich nicht begreifen?« fragte Freder. »Warum siehst du mich mit so strengen Augen an? Du willst, daß ich zwischen Joh Fredersen und denen, die du deine Brüder nennst, ein Mittler sein soll. Es kann keiner Mittler sein zwischen Himmel und Hölle, der nicht im Himmel und in der Hölle war. Ich habe bis gestern die Hölle nicht gekannt. Darum versagte ich gestern auch so kläglich, als ich bei meinem Vater für deine Brüder sprach. Bis du zum ersten Male vor mir standest, Maria, habe ich das Leben eines sehr geliebten Sohnes gelebt. Ich wußte nicht, was das war: ein unerfüllbarer Wunsch. Ich hab' keine Sehnsucht gekannt, denn alles war mein. Ich habe, so jung ich bin, die Lust der Erde bis auf den Grund erschöpft. Ich hatte ein Ziel – das war ein Spiel mit dem Tode: der Flug zu den Sternen … Und dann kamst du und zeigtest mir meine Brüder. Von diesem Tag an habe ich dich gesucht. Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt, daß ich gern und ohne Zögern gestorben wäre, wenn ein Mensch zu mir gesagt hätte, das sei der Weg zu dir. So aber mußte ich leben und einen andern Weg suchen.«

»Zu mir – oder zu deinen Brüdern?«

»Zu dir, Maria. Ich will mich vor dir nicht besser machen, als ich bin. Ich will zu dir, Maria, und ich will dich. Ich liebe die Menschen nicht um ihretwillen, sondern um deinetwillen – weil du sie liebst. Ich will den Menschen nicht helfen um ihretwillen, sondern um deinetwillen – weil du es willst. Ich habe gestern zwei Menschen Gutes getan: Ich half einem, den mein Vater entlassen hat. Und ich tat die Arbeit für den, dessen Tracht ich trage. Das war der Weg zu dir. Gott segne dich …«

Die Stimme versagte ihm. Das Mädchen trat auf ihn zu. Sie nahm seine Hände in ihre beiden Hände. Sie wandte die Handflächen sanft nach oben und betrachtete sie, sah ihn an mit ihren Marienaugen und faltete ihre Hände sacht um die seinen, die sie behutsam ineinander legte.

»Maria«, sagte er ohne einen Laut.

Sie ließ seine Hände los und hob die ihren zu seinem Kopf. Sie legte ihre Finger an seine Wangen. Sie strich mit ihren Fingerspitzen über seine Brauen, über seine Schläfen, zweimal, dreimal.

Da riß er sie an sein Herz, und sie küßten sich.

Er fühlte die Steine unter den Füßen nicht mehr. Eine Woge trug ihn, ihn und das Mädchen, das er umklammert hielt, als wollte er daran sterben, und die Woge kam vom Grund des Ozeans und dröhnte, als sei das ganze Meer eine Orgel, und die Woge war Feuer und schlug bis zum Himmel hinauf.

Dann Sinken … Sinken … Endloses Niedergleiten bis in den Schoß der Welt, den Ursprung des Anfangs … Durst und erlösender Trank … Hunger und Sättigung … Schmerz und Befreiung davon … Tod und Wiedergeburt …

»Du«, sprach der Mann zu den Lippen des Mädchens, »du bist in Wahrheit die große Mittlerin. Alles Heiligste, das auf der Welt ist, bist du. Alle Güte bist du. Alle Gnade bist du … An dir irre werden, heißt: Irre werden an Gott … Maria – du hast mich gerufen, da bin ich!«

 

Hinter ihnen, in einer Totenkammer, die wie ein spitzes Teufelsohr geformt war, beugte ein Mann sich zum Ohr eines anderen Mannes.

»Du wolltest von mir das Gesicht der Futura haben. Da hast du das Vorbild.«

»Ist das ein Auftrag?«

»Ja.«

 

»Nun mußt du gehen, Freder«, sagte das Mädchen. Ihre Marienaugen sahen ihn an.

»Gehen – und dich hier lassen?«

Sie wurde ernst und schüttelte den Kopf.

»Mir geschieht nichts«, sagte sie. »Es ist kein Mensch unter denen, die diese Stätte kennen, dem ich nicht vertrauen könnte, als ob er mein leiblicher Bruder wäre. Aber was zwischen dir und mir ist, geht keinen an; es würde mich kränken, erklären zu müssen« (nun lächelte sie wieder), »was unerklärlich ist. Begreifst du das?«

»Ja«, sagte er. »Vergib mir.«

Ihre Marienhände hielten die seinen.

»Du weißt den Weg nicht. Ich will ihn dir zeigen, bis du dich nicht mehr irren kannst. Komm.«

Hinter ihnen, in einer Totenkammer, die wie ein spitzes Teufelsohr geformt war, löste sich ein Mann von der Mauer.

»Du weißt, was du zu tun hast«, sagte er halblaut.

»Ja«, kam die Stimme des andern träge, wie schläfrig aus der Dunkelheit. »Aber warte noch, Freund. Ich muß dich etwas fragen …«

»Nun?«

»Hast du dein eigenes Glaubensbekenntnis vergessen?«

»Was für ein Glaubensbekenntnis?«

Eine Sekunde lang blitzte eine Lampe durch den Raum, der einem Teufelsohr glich, und spießte das Gesicht des Mannes, der schon zum Gehen gewandt war, auf die spitze Nadel ihres Lichtscheins.

»Daß Schuld und Leiden Zwillingsschwestern sind. Du willst an zwei Menschen schuldig werden, Freund.«

»Was geht das dich an?«

»Nichts. Oder wenig: Freder ist der Sohn der Hel.«

»Und meiner.«

»Ja.«

»Den will ich nicht verlieren.«

»Lieber noch einmal schuldig werden?«

»Ja.«

»Und –«

»Leiden. Ja.«

»Gut, Freund.« Und, mit einer Stimme, die ein unhörbares Gelächter des Hohns war: »Dir geschehe nach deinem Glauben!«

Das Mädchen schritt durch die Gänge, die ihm vertraut waren. Die kleine, helle Lampe in seiner Hand streifte die Decke aus Stein, die steinernen Mauern, wo in Nischen die tausendjährigen Toten schliefen.

Nie hatte das Mädchen Furcht vor den Toten gekannt; Ehrfurcht nur und Ernst vor ihrem Ernste. Heute sah sie Steinwand und Tote nicht. Sie ging und lächelte und wußte nicht, daß sie's tat. Ihr war zum Singen zumute. Mit einem Ausdruck des Glücks, das noch ungläubiger war und doch vollkommen, sprach sie den Namen des Liebsten vor sich hin.

»Freder …«

Und hob aufhorchend den Kopf, verhielt den Schritt.

Hauchend kam es zurück: ein Echo? Nein.

Fast unhörbar hauchte es: »Maria?«

Sie wandte sich um, selig erschreckt. War es möglich, daß er zurückkam?

»Freder!« rief sie. Lauschte.

Keine Antwort.

»Freder!«

Nichts.

Doch plötzlich, kühl, ein Luftzug, der das Haar in ihrem Nacken zittern machte und an ihrem Rücken niederstrich, eine Hand aus Schnee. Qualvoll tief ein Seufzen, das kein Ende nahm.

Das Mädchen stand ganz still. Die kleine, helle Lampe, die es in der Hand hielt, ließ ihren Schein mit einem Zittern um seine Füße spielen.

»Freder?«

Jetzt war ihre Stimme auch nur ein Hauch.

Keine Antwort. Aber hinter ihr, in der Tiefe des Ganges, den sie durchschreiten mußte, ließ sich ein sachtes, gleitendes Schleichen vernehmen: Füße in weichen Schuhen, auf rauhen Steinen …

Das war … Ja, das war seltsam. Diesen Weg ging nie ein Mensch außer ihr. Hier konnte kein Mensch sein. Und wenn einer hier war, dann war es kein Freund …

Sicher kein Mensch, dem sie gern begegnen würde.

Sollte sie ihn vorüberlassen? Ja.

Ihr zur Linken öffnete sich ein zweiter Gang. Sie kannte ihn nicht genau. Aber sie wollte ihm ja auch nicht folgen. Sie wollte in ihm nur warten, bis der Mensch da draußen – der Mensch hinter ihr vorübergegangen war.

Sie drückte sich gegen die Wand des fremden Ganges und hielt sich still und wartete, ganz lautlos. Sie atmete nicht. Sie hatte die Lampe gelöscht. Sie stand in völliger Finsternis, unbeweglich.

Sie hörte: Die schleichenden Füße näherten sich. Sie gingen im Dunkeln, wie sie im Dunkeln stand. Jetzt waren sie da. Jetzt mußten sie – mußten sie doch vorübergehen … Aber sie gingen nicht. Sie standen ganz still: Vor der Mündung des Ganges, in den sie sich duckte, standen die Füße still und schienen zu warten.

Worauf? Auf sie?

In der vollkommenen Lautlosigkeit hörte das Mädchen plötzlich sein eigenes Herz. Wie ein Pumpwerk hörte sie ihr Herz, immer schneller, immer dröhnender. Diesen Herzschlag, der ein Dröhnen war, mußte auch der Mensch hören, der die Mündung des Ganges bewachte. Und wenn er nicht mehr da stand … Wenn er hereinkam … Sie konnte sein Kommen nicht hören, so dröhnte ihr Herz.

Sie griff mit tastender Hand an der Steinwand entlang. Ohne zu atmen, setzte sie Fuß vor Fuß! Nur fort von dem Eingang, fort von der Stelle, wo der andere stand.

Täuschte sie sich? Oder kamen die Füße ihr nach? Weiche, schleichende Schuhe auf rauhen Steinen? Jetzt: das qualvoll tiefe Atemholen, schwerer noch und näher, kalter Atem ihr im Nacken. Dann –

Nichts mehr. Lautlosigkeit. Und Warten. Und Bewachen. Auf-der-Lauer-Liegen …

War es nicht, als ob sich ein Geschöpf, wie die Welt noch keins gesehen hatte: rumpflos, nichts als Arme, Beine, Kopf … aber welch ein Kopf! Gott im Himmel! … vor ihr auf den Boden kauerte, bis zum Kinn die Knie hochgezogen und die feuchten Arme rechts und links neben ihren Hüften an die Steinwand stemmend, daß sie wehrlos, eingefangen stand? Sah sie nicht den Gang vom bleichen Schimmer aufgehellt – und ging der Schimmer nicht von dem Quallenkopf des Wesens aus?

Freder, dachte sie. Sie biß den Namen zwischen ihren Kiefern fest und hörte doch den Schrei, mit dem ihr Herz ihn schrie.

Sie warf sich vorwärts, fühlte: sie war frei – noch war sie frei – lief und stolperte, riß sich wieder hoch und taumelte von Steinwand zu Steinwand, stieß sich blutig, griff jäh ins Leere, stürzte, schlug zu Boden, fühlte: Da lag etwas … Was? Nein!

Längst war ihr die Lampe aus der Hand gefallen. Sie hob sich zu den Knien auf und schlug die Fäuste vor die Ohren, nur um nicht zu hören, wie die Füße, die schleichenden Füße wieder näherkamen. Sie wußte sich eingekerkert in Finsternis und riß doch die Augen auf, weil sie die Feuerkreise, die Flammenräder hinter ihren geschlossenen Lidern nicht mehr ertrug.

Und sah ihren eigenen Schatten riesengroß an die Steinwand vor sich geworfen; hinter ihr war Licht, und vor ihr lag ein Mensch.

Ein Mensch? Das war kein Mensch. Das waren Überbleibsel von einem Menschen, mit dem Rücken halb gegen die Wand gelehnt, halb niedergerutscht, und an den Knochenfüßen, die fast an die Knie des Mädchens rührten, staken die schmalen Schuhe spitz und purpurrot.

Mit einem Schrei, der ihr die Gurgel zerriß, warf sich das Mädchen rückwärts in die Höhe – und vorwärts, vorwärts, ohne umzuschauen … Gejagt von dem Licht, das ihr den eigenen Schatten in wilden Sprüngen vor die Füße peitschte, gejagt von langen, weichen, federnden Füßen, die in roten Schuhen gingen, vom Eishauch, der ihr in den Nacken blies.

Sie rannte, schrie und rannte: »Freder!«

Sie röchelte. Sie fiel.

Da war eine Treppe, bröckelnde Stufen … Sie stemmte die blutenden Hände rechts und links an das Gemäuer, an die Steine der Treppe. Sie zerrte sich hinauf. Sie taumelte, Stufe um Stufe … Da war das Ende.

In steinerner Falltür endete die Treppe.

Das Mädchen stöhnte: »Freder …«

Es reckte beide Hände über sich. Es stemmte Kopf und Schultern gegen die Falltür. Da hob sich die Tür, schlug krachend rückwärts. Unten tief ein Gelächter.

Das Mädchen schwang sich über den Rand der Falltür. Es lief mit ausgestreckten Händen hierhin, dorthin. Es lief an Wänden hin und fand keine Tür. Es sah den Lichtschein, der aus der Tiefe quoll. Es sah im Licht eine Tür, die war klinkenlos. Die hatte nicht Riegel noch Schloß.

Im düstern Holz glühte, kupferrot, das Siegel Salomonis, das Pentagramm.

Das Mädchen wandte sich um.

Es sah einen Mann auf dem Rande der Falltür sitzen und sah sein Lächeln. Da war es, als lösche sie aus, und sie stürzte ins Nichts.


 << zurück weiter >>