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Rotwang erwachte; aber er wußte genau, daß er gestorben war. Und dieses Bewußtsein erfüllte ihn mit tiefer Genugtuung. Sein schmerzender Körper ging ihn nichts mehr an. Das war vielleicht ein letzter Rest vom Leben. Aber etwas bekümmerte ihn ernstlich, als er sich mühevoll in die Höhe richtete und sich nach allen Seiten umsah: Hei war nicht da.
Hel aber mußte er finden.
Ein Dasein ohne Hel hatte er endlich überstanden. Ein zweites? Nein! Dann lieber gleich tot bleiben.
Er stellte sich auf die Füße. Das ging sehr schwer. Er mußte hübsch lange als Leiche gelegen haben. Auch war es Nacht. Aber draußen tobte ein Feuer, und es ging laut dabei zu. Gekreisch von Menschen …
Er hatte gehofft, sie los zu sein. Aber anscheinend kam der allmächtige Schöpfer nirgends ohne sie aus. Nun – einerlei. Er wollte nur seine Hel. Wenn er Hel gefunden hatte, würde er – das gelobte er sich – mit dem Vater der Dinge um nichts in der Welt mehr hadern.
Die Tür zur Straße stand offen und hing ganz schief in den Angeln. Sonderbar. Er trat vor das Haus und sah sich bedächtig um. Was er sah, schien eine Art Metropolis zu sein; aber eine ziemlich verrückte Art von Metropolis. Die Häuser standen da, wie im Veitstanz erstarrt. Und eine ungewöhnlich rohe und unliebenswürdige Sorte von Menschen tobte um einen flammenden Holzstoß herum, auf dem ein Geschöpf von seltener Schönheit stand, das Rotwang wunderlich vertraut erschien.
Ach – das war's, ja –, daß er in jenem Dasein, das Gott sei Dank weit hinter ihm lag, versucht hatte, für seine verlorene Hel eine andere zu schaffen; ein bißchen dem Schöpfer der Welt ins Handwerk zu pfuschen … Nicht übel, nicht übel für den Anfang … Aber, du lieber Gott, an Hel gemessen: was für ein Stückwerk! Welch eine Stümperei …
Die kreischenden Leute da unten hatten ganz recht, wenn sie das Wesen verbrannten. Obwohl es ihm vorkam, als sei es etwas viel Aufwand von Raserei, um seiner Probearbeit den Garaus zu machen. Aber vielleicht war das in diesem Dasein so Sitte der Menschen, und er wollte ganz gewiß nicht mit ihnen rechten. Er wollte Hel finden, seine Hel, sonst nichts.
Er wußte genau, wo er sie suchen mußte. Sie liebte den Dom so sehr, seine fromme Hel. Und wenn ihn das flackernde Licht des Feuers nicht täuschte – denn der grünliche Himmel gab keinen Schein –, stand seine Hei wie ein Kind, das sich fürchtet, in der Schwärze des Domportals, die schmalen Hände fest vor der Brust gefaltet, daß sie mehr noch als sonst einer Heiligen glich.
An den Menschen vorüber, die den Holzstoß umrasten, immer höflich bedacht, ihnen nicht im Weg zu sein, tappte Rotwang ruhig auf den Dom zu.
Ja, das war seine Hel. Sie wich in den Dom zurück. Er tappte die Stufen hinauf. Wie hoch das Portal schien … Wie ihn Kühle und schwebender Weihrauch empfing … Alle Heiligen in den Säulennischen hatten fromme und liebe Gesichter und lächelten sanft, als freuten sie sich mit ihm, weil er Hel, seine Hel, nun endlich wiederfinden sollte.
Sie stand am Fuß der Treppe zum Glockenturm. Sie erschien ihm sehr blaß und unaussprechlich rührend. Durch ein schmales Fenster fiel das erste zarte Licht des Morgens auf ihr Haar und ihre Stirn.
»Hel«, sagte Rotwang, und sein Herz strömte über; er streckte die Hände aus. »Komm zu mir, meine Hel … Wie lange, wie lange mußte ich ohne dich leben!«
Aber sie kam nicht. Sie wich vor ihm zurück. Das Gesicht voll Grauen, wich sie vor ihm zurück.
»Hel«, bat der Mann, »warum fürchtest du dich vor mir? Ich bin kein Gespenst, obwohl ich gestorben bin. Ich mußte ja sterben, um zu dir zu kommen. Ich habe mich immer und immer nach dir gesehnt. Du hast kein Recht, mich jetzt noch allein zu lassen! Ich will deine Hände! Gib sie mir!«
Aber seine tappenden Finger griffen ins Leere. Aufwärts über die Stufen der steinernen Treppe, die zum Glockenturm führte, hasteten Schritte.
Etwas wie Zorn überkam das Herz von Rotwang. Tief in seiner Seele, die dumpf und gequält war, lag das Erinnern an einen Tag, da Hel auch so vor ihm flüchtete – zu einem andern … Nein, nicht denken … Nicht daran denken … Das gehörte in sein erstes Dasein, und es wäre doch ganz sinnlos, noch einmal das gleiche zu erleben in der anderen und, wie die Menschheit allgemein erhoffte, besseren Welt.
Warum also flüchtete Hel vor ihm?
Er tappte ihr nach. Er kletterte Treppe um Treppe. Immer blieb vor ihm das hastende, angstvolle Laufen. Und je höher die Frau vor ihm floh, je wilder sein Herz schlug in diesem gewaltsamen Klettern, desto röter füllten sich Rotwangs Augen mit Blut, desto grimmiger kochte der Zorn in ihm auf. Sie sollte nicht vor ihm fliehen – sie sollte nicht! Wenn er sie nur bei einer Hand erwischte, er würde sie niemals, niemals wieder lassen! Er würde mit seiner metallenen Hand einen Ring um ihr Handgelenk schmieden, dann sollte sie nur versuchen, ihm noch einmal zu entkommen, zu einem andern!
Sie hatten beide den Glockenstuhl erreicht. Sie jagten sich unter den Glocken. Den Weg zur Treppe vertrat er ihr. Er lachte, traurig und böse.
»Hel, meine Hel, du entkommst mir nicht mehr.«
Sie tat einen jähen, verzweifelten Sprung und hing im Seil der Glocke, die Sankt Michael hieß. Sankt Michael erhob seine erzene Stimme, aber sie klang wie zerbrochen und klagte wild. Rotwangs Gelächter fuhr in den Glockenklang. Sein metallener Arm, dies Wunderwerk eines Meisters, reckte sich wie der Gespensterarm eines Gerippes weit aus dem Ärmel des Rocks und haschte das Glockenseil.
»Hel, meine Hel, du entkommst mir nicht mehr!«
Das Mädchen taumelte auf die Brüstung zurück. Es sah sich um. Es zitterte wie ein Vogel. Zur Treppe hinunter konnte es nicht. Es konnte auch nicht mehr höher. Es war gefangen. Es sah die Augen Rotwangs und sah seine Hände. Und ohne zu zögern, ohne zu überlegen, mit einer Wildheit, die als scharlachne Lohe über die Blässe ihres Gesichtes flog, schwang sie sich aus dem Fenster des Glockenturms und hing in dem stählernen Seil des Blitzableiters.
»Freder!« schrie sie mit gellender Stimme. »Hilf mir!«
Unten, tief unten neben dem flammenden Holzstoß lag ein zertretener Mensch mit der Stirn im Staub. Aber der Schrei aus der Höhe traf ihn so jäh, daß er auffuhr wie gepeitscht und suchte und sah …
Und alle, die um den Scheiterhaufen der Hexe den tobenden Ringelreihen getanzt hatten, sahen erstarrend, versteinernd wie er: das Mädchen, das, einer Schwalbe gleich, an den Turm des Doms geklammert hing, während die Hände Rotwangs sich nach ihm reckten.
Und alle hörten, wie in dem Antwortschrei: »Ich komme, Maria, ich komme!« alle Erlösung und alle Verzweiflung aufschrie, die das Herz eines Menschen erfüllen können, wenn ihm Hölle und Himmel gleich nahe sind.