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19

Sie hatten die Kinder ins »Haus der Söhne« gebracht, und Freders Augen suchten Maria, die mitten auf der Straße zwischen den letzten kniete und sie tröstete und ihr zärtliches Lächeln verstörten und weinenden Augen schenkte.

Freder lief auf sie zu und trug Maria ins Haus.

»Vergiß nicht«, sagte er, als er sie in der Eingangshalle vor dem lohenden Kamin hinbettete und ihre halb liegende, halb sitzende Gestalt, die sich ein wenig sträubte, in seinen sehnsüchtigen Armen gefangen hielt, »daß Tod und Wahnsinn und etwas wie Weltuntergang sehr nahe an uns vorbeigegangen sind – und daß du mich noch nicht ein einziges Mal freiwillig geküßt hast.«

»Liebster«, sagte Maria, sich zu ihm beugend, daß ihre reinen, von schmerzlosen Tränen gebadeten Augen ganz nahe vor ihm waren, während zugleich eine große, wachsame Ernsthaftigkeit ihre Lippen von den seinen fernhielt, »bist du ganz sicher, daß Tod und Wahnsinn schon vorübergegangen sind?«

»An uns, Geliebte, ja.«

»Und die anderen alle?«

»Schickst du mich fort, Maria?« fragte er zärtlich. Sie gab keine Antwort, zum wenigsten nicht mit Worten. Aber sie legte mit einer zugleich freimütigen und rührenden Gebärde die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund.

»Geh«, sagte sie und strich mit ihren jungfräulichen Mutterhänden über sein glühendes, betäubtes Gesicht. »Geh zu deinem Vater. Das ist dein heiligster Weg … Ich will zu den Kindern gehen, sobald meine Kleider ein wenig trockener geworden sind. Denn ich fürchte«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das Freder bis in die Augen rot werden ließ, »so viele Frauen auch hier im ›Haus der Söhne‹ wohnen und so gutwillig und hilfsbereit sie sein mögen, hat doch nicht eine ein Kleid, das sie mir leihen könnte.«

Freder stand über sie gebückt, mit gesenkten Augen. Die Flammen des großen Kamins überlohten sein schönes, offenes Gesicht, auf dem ein Ausdruck der Scham und der Traurigkeit lag. Aber als er die Blicke hob und den still auf ihn gerichteten Augen Marias begegnete, nahm er, ohne ein Wort zu sprechen, ihre Hände und drückte sie gegen seine Lider, sehr lange so verharrend.

Und für die Dauer dieser Zeit vergaßen sie beide, daß jenseits der starken Mauern, die sie schützten, eine große Stadt in grausigen Krämpfen zuckte und daß vieltausend Menschen, zwischen Trümmern selbst nur Trümmer, hin und her geschleudert, in der Folterung der Todesangst den Verstand verloren und verdarben.

Erst die Stimme des Erzengels Michael vom Dom rief sie zum Bewußtsein der Stunde zurück, und sie trennten sich hastig, wie auf Pflichtversäumnis ertappt.

Maria horchte den Schritten des Mannes nach. Dann wandte sie den Kopf und sah unruhig umher.

Was war das für ein seltsamer Klang in der Michaels-Glocke? So wütend rief die Glocke, so gehetzt, als wollte sie sich bei jedem Schwung überschlagen.

Das Herz Marias wurde zum Echo der Glocke. Es flatterte in seiner klagenden Angst, die keine Ursache hatte als die allgemeine Schwingung des großen Entsetzens über der Stadt. Selbst die wärmenden Flammen des Kaminfeuers ängstigten sie, als wüßten sie um Geheimnisse des Schreckens.

Sie setzte sich aufrecht und stellte die Füße zur Erde. Sie tastete nach dem Saum ihres Kleides. Er war noch feucht genug, aber nun wollte sie gehen. Sie tat ein paar Schritte durch den halbdunklen Raum. Wie braun die Luft vor den hohen Fenstern war … Sie öffnete zögernd die nächste Tür und horchte.

Sie stand in dem Raum, in dem sie damals gestanden hatte, als sie Freder zum ersten Male sah, als sie den Zug der kleinen grauen Kindergespenster zu den Frohen und Spielenden geführt, als sie Freders Herz gerufen hatte mit ihrem sanften: »Seht, das sind eure Brüder!«

Aber von den sehr geliebten Söhnen unermeßlich reicher Väter, denen dies Haus gehörte, war nicht einer zu sehen.

Spärliche Kerzen brannten und gaben dem mächtigen Raum eine innige Traulichkeit und warme Enge. Der Raum war erfüllt vom zarten Gezwitscher verschlafener Kinderstimmen, die wie Schwalben schwatzten, eh sie zu Neste fliegen.

Ihnen antworteten, nur wenig dunkler getönt, die Stimmen der schönen, brokatenen, geschminkten Frauen, die einst das Spielzeug der Söhne gewesen waren. Gleichermaßen erschreckt von dem Gedanken zu flüchten wie hier auszuharren, waren sie endlich aus Unentschlossenheit im »Haus der Söhne« geblieben, und zu ihnen hatte Maria die Kinder gebracht, weil sie keine bessere Zuflucht hätte finden können; denn durch den schönen und furchtbaren Zufall des Geschehens wurde aus einer Schar von kleinen, zärtlichen Dirnen eine Schar von kleinen, zärtlichen Müttern, die in Erfüllung ihrer neuen Pflichten in einem neuen Feuer brannten.

Unweit Marias kniete die Trankmischerin neben einer Schale mit warmem Wasser und war wohl eben im Begriff gewesen, Grots Tochter, die vor ihr stand, den mageren schmalgliedrigen Körper zu waschen. Aber das Kind hatte ihr den Schwamm aus der Hand genommen und wortlos, mit großer Ernsthaftigkeit, unternommen, das schöne geschminkte Gesicht der Trankmischerin nachdrücklich und unermüdlich abzuwaschen.

Das Mädchen kniete ganz still, mit geschlossenen Augen, und rührte sich auch nicht, als die Hände des Kindes mit rauhem Tuch ihr Gesicht zu trocknen begannen. Aber bei diesem Werk war die Tochter Grots nicht ganz erfolgreich; denn so oft sie auch die Wangen des Mädchens trocknete, immer wieder liefen die raschen, hellen Tropfen darüber. Bis die Tochter Grots das Tuch doch sinken ließ, um das Mädchen, das vor ihr kniete, fragend und nicht ohne Vorwurf zu betrachten. Worauf die Trankmischerin ihre Arme um das Kind schlang und ihre Stirn auf das Herz des kleinen Geschöpfes drückte und Worte der Zärtlichkeit zu diesem Herzen sprach, wie sie nie zuvor gefunden hatte.

Mit lautlosen Schritten ging Maria vorüber.

Als sie die Tür der Halle, in die kein Laut aus der lauten Metropolis zu dringen vermochte, von außen hinter sich schloß, schlug die erzene Stimme des Engels vom Dom ihr wie eine stählerne Faust vor die Brust, daß sie in Betäubung stehenblieb und die Hände zur Stirn hob.

Was schrie Sankt Michael so zornig und wild? Was mischte sich nun das Dröhnen Azraels, des Todesengels, so erschütternd ein?

Sie trat auf die Straße. Da lag die Dunkelheit wie eine dicke Rußschicht über der Stadt, und nur der Dom schimmerte geisterhaft als ein Wunder des Lichts, aber nicht der Gnade.

Die Luft war erfüllt von einer Gespensterschlacht sich streitender Stimmen. Es heulte, lachte und pfiff. Es war, als trotte ein Zug von Mördern und Plünderern vorüber – in Tiefen der Straße, die nicht zu erkennen waren. Dazwischen Gekreisch von Weibern, lustgekitzelt …

Marias Augen suchten den Neuen Turm Babel. Sie hatte nur einen Weg im Sinn: zu Joh Fredersen. Den wollte sie gehen. Aber sie ging ihn niemals.

Denn plötzlich war die Luft wie ein blutroter Strom, der sich flackernd ergoß, aus tausend Fackeln gebildet. Und die Fackeln tanzten in den Händen von Menschen, die aus den offenen Toren von Yoshiwara quollen. Die Gesichter der Menschen glänzten im Irrsinn, jeder Mund stand keuchend aufgerissen, und doch waren die Augen, die darüber lohten, die zerplatzenden Augen Erstickender. Jeder tanzte mit seiner eigenen Fackel, rasend um sich gewirbelt, den Totentanz, und zugleich ergab dieser Wirbel von Tänzern einen endlos in sich kreisenden Zug.

»Maohee!« flogen schrille Schreie darüber. »Tanzen – tanzen tanzen – Maohee!«

Angeführt aber wurde der flammende Zug von einem Mädchen. Das Mädchen war Maria. Und das Mädchen schrie mit der Stimme Marias: »Tanzen – tanzen – tanzen – Maohee!«

Sie kreuzte die Fackeln wie Schwerter über dem Kopf. Sie schwang sie nach rechts und nach links und schüttelte sie, daß Regenschauer von Funken den Weg umtrieften. Zuweilen schien es, als ritte sie auf den Fackeln. Dann hob sie die Knie zur Brust mit einem Gelächter, das alle Tänzer im Zug stöhnen machte.

Aber einer der Tänzer lief vor den Füßen des Mädchens her wie ein Hund und schrie unaufhörlich: »Ich bin Jan! Ich bin der getreue Jan! Erhöre mich endlich, Maria!« –

Das Mädchen aber schlug ihm die sprühende Fackel ins Gesicht.

Seine Kleider fingen Feuer. Er lief eine Weile als lebende Fackel neben dem Mädchen her. Seine Stimme klang schrill aus dem Lohen: »Maria! Maria!«

Dann schwang er sich auf die Brüstung der Straße und stürzte, ein Feuerstreifen, in die Tiefe.

»Maohee!« rief das Mädchen und schüttelte seine Fackeln.

Kein Ende nahm der Zug. Schon war die Straße, so weit das Auge reichte, mit kreisenden Fackeln bedeckt. Das Kreischen der Tänzer mischte sich spitz und schrill in die zornigen Stimmen der Erzengel-Glocken vom Dom. Und hinter dem Zug taumelte, wie von einem unsichtbaren, einem unzerreißbaren Seil nachgezerrt, ein Mädchen, dem der feuchte Kleidersaum um die Knöchel peitschte, dessen Haare sich lösten unter den krallenden Fingern, mit denen es seinen Kopf zusammenpreßte, dessen Lippen in wirkungsloser Beschwörung einen Namen lallten: »Freder … Freder …«

Die Schwaden der Fackeln schwebten wie graue Flügel von Geistervögeln über dem tanzenden Zug. Da wurden die Tore des Domes weit aufgetan. Da kam aus der Tiefe das Brausen der Orgel. Da mischte sich in den Vierklang der Erzengel-Glocken, in das Brausen der Orgel, das Kreischen der Tänzer ein ehern einherschreitender, gewaltiger Chor.

Die Stunde des Mönches Desertus war gekommen.

Der Mönch Desertus führte die Seinen an.

Zu zwei und zwei schritten, die seine Jünger waren. Sie schritten auf nackten Füßen, in schwarzen Kutten. Sie hatten die Kutten von ihren Schultern gestreift. Sie trugen die schweren Geißeln in beiden Händen. Sie schwangen die schweren Geißeln in beiden Händen nach rechts, nach links, nach rechts, nach links über die nackten Schultern. Blut tropfte von den gegeißelten Rücken nieder. Die Gotiker sangen. Sie sangen im Takt ihrer Füße. Im Takt ihrer Geißelhiebe sangen sie.

Der Mönch Desertus führte die Gotiker an.

Die Gotiker trugen ein schwarzes Kreuz vor sich her. Das war so schwer, daß zwölf Männer es keuchend schleppten. Es schwankte, an dunklen Stricken hochgezerrt.

Und an dem Kreuz hing der Mönch Desertus.

In dem Weißflammengesicht die schwarzen Flammen der Augen waren auf den Zug der Tänzer gerichtet. Der Kopf erhob sich. Der bleiche Mund tat sich auf.

»Seht!« schrie der Mönch Desertus mit einer Stimme, die den Vierklang der Erzengel-Glocken, das Brausen der Orgel, den Chor der Geißelschwinger und das Kreischen der Tänzer allmächtig übertönte: »Seht, die große Babylon! Die Mutter der Greuel! Der Jüngste Tag bricht an! Weltuntergang!«

»Der Jüngste Tag bricht an! Weltuntergang!« dröhnte der Chor der Seinen gewaltig ihm nach.

»Tanzen – tanzen – tanzen – Maohee!« schrie die Stimme des Mädchens, das die Tänzer führte. Und es schwang seine Fackeln wie Geißeln über die Schultern und schleuderte sie weit von sich und riß das Gewand von Schultern und Brüsten, und stand, eine weiße Fackel, und reckte die Arme und lachte, die Haare schüttelnd: »Tanze mit mir, Desertus – tanze mit mir!«

Da fühlte Maria, die sich am Ende des Tänzerzuges schleppte, wie das Seil, das unsichtbare Seil, an dem sie hing, zerriß. Sie drehte sich um sich selbst mit geschlossenen Augen, und, ohne zu wissen, wohin, begann sie zu laufen – nur fort, nur fort –, gleichgültig, wohin!

Die Straßen tobten in Wirbeln an ihr vorbei. Sie lief und lief, kam tiefer und immer tiefer und sah zuletzt, auf der Sohle der Straße laufend, weit vor sich einen wirren Haufen von Menschen, die ihr entgegenliefen, und sah, daß es Männer in der Blauleinentracht waren, und schluchzte erlöst: »Brüder – Brüder!«

Und streckte die Hände aus.

Aber ein wütendes Brüllen antwortete ihr. Wie eine stürzende Mauer wälzte der Haufen sich her, löste sich auf und begann laut brüllend zu rennen.

»Da ist sie, da ist sie! Die Hündin, die schuld ist an allem! Packt sie! Packt sie!«

Und Weiberstimmen kreischten: »Die Hexe! Schlagt die Hexe tot! Verbrennt sie, bevor wir alle ersaufen!«

Das Getrampel von rennenden Füßen erfüllte die tote Straße, durch die Maria floh, mit dem Getöse der losgebrochenen Hölle.

Die Häuser tobten in Wirbeln an ihr vorbei. Sie kannte sich in der Dunkelheit nicht aus. Sie hastete vorwärts, sinnlos rennend in einem blinden Schrecken, der um so tiefer war, als sie seine Ursache nicht begriff.

Steine, Knüppel, Stahlbrocken flogen hinter ihr drein. Die Masse brüllte mit nicht mehr menschlicher Stimme: »Ihr nach! Ihr nach! Sie entkommt uns! Schneller! Schneller!«

Maria fühlte ihre Füße nicht mehr. Sie wußte nicht, ob sie auf Steinen lief oder auf Wasser. In kurzen, rauhen Lauten keuchte ihr der Atem über die Lippen, die offenstanden wie die einer Ertrinkenden. Straßen auf, Straßen ab … Quirlender Lichterglanz taumelte weit von ihr quer über den Weg … Fern, am Ende des riesigen Platzes, an dem auch das Haus von Rotwang lag, lastete die Wucht des Domes schwer und dunkel auf der Erde und zeigte doch einen zarten, tröstlichen Schimmer, der durch die bunten Heiligenfenster aus dem offenstehenden Portal in die Finsternis fiel.

In jähes Schluchzen ausbrechend, warf Maria sich vorwärts mit ihrer letzten, verzweifelten Kraft. Sie stolperte die Stufen des Domes hinauf, stolperte durch das Portal, spürte den Duft von Weihrauch, sah kleine, fromme, fürbittende Kerzen vor dem Bildnis einer sanften Heiligen, die lächelnd litt, und brach auf den Fliesen zusammen.

Sie sah nicht mehr, wie an der Doppelmündung der Straße, die zum Domplatz führte, der Zug der Tänzer und Tänzerinnen aus dem Yoshiwara jäh in den brüllenden Zug der Arbeitermänner und -frauen prallte, hörte nicht das tierhafte Aufkreischen der Weiber beim Anblick des Mädchens, das auf den Schultern seines Tänzers ritt und heruntergerissen wurde und überrannt und eingeholt und zu Boden getreten – sah nicht den kurzen, grausigen und aussichtslosen Kampf der Männer im Frack mit den Männern in blauem Leinen, nicht die lächerliche Flucht der halbnackten Weiber vor den Krallen und Fäusten der Arbeiterfrauen.

Sie lag in tiefem Nichtsmehrwissen in der großen, milden Feierlichkeit des Domes, und aus der Tiefe ihrer Bewußtlosigkeit vermochte nicht einmal die brüllende Stimme der Masse sie aufzuwecken, die für die Hexe vor dem Dom den Scheiterhaufen errichtete.


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