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Joh Fredersen stand in dem Kuppelraum des Neuen Turms Babel und wartete auf den Schmalen. Der sollte ihm Nachricht bringen von seinem Sohn.
Eine gespenstische Dunkelheit lag über dem Neuen Turm Babel. Das Licht war erloschen, restlos, als sei es getötet worden in dem Augenblick, da mit einem Gebrüll wie aus den Kehlen von hunderttausend verwundeten Tieren das gigantische Rad der Herz-Maschine von Metropolis sich aus seinem Gefüge löste, noch um sich selber wirbelnd steil bis zur Decke emporgeschleudert wurde, mit zerschmetterndem Krach anschlug und zurückprallte und, dröhnend gleich einem Gong so groß wie der Himmel, auf die auseinandergefetzten Trümmer des einstigen Wunderwerkes aus Stahl niederkrachte und liegenblieb.
Joh Fredersen stand schon eine lange Zeit auf dem gleichen Fleck und wagte nicht, sich zu rühren.
Eine Ewigkeit schien ihm vergangen zu sein, seit er den Schmalen um Nachricht von seinem Sohn ausschickte. Und der Schmale wollte und wollte nicht kommen.
Joh Fredersen fühlte, daß sein ganzer Körper in einer eisigen Kälte gefroren war. Seine willenlos niederhängende Hand hielt die Taschenlampe umklammert.
Joh Fredersen warf einen Blick auf die Uhr. Aber die Zeiger der Riesin standen auf einer sinnlosen Zahl. Der Neue Turm Babel hatte sich selbst verloren. Wo in allen Tagen, fieberlos, das Toben der in ihn mündenden Straßen, das Gebrüll des Verkehrs von fünfzig Millionen, der zauberische Wahnsinn der Geschwindigkeit an ihm hinaufgebrandet waren, hockte nun eine Stille von durchdringender Entsetzlichkeit.
Da jagten stolpernde Schritte auf die Tür des Vorzimmers los.
Joh Fredersen richtete den Keil der Taschenlampe auf diese Tür. Sie flog angelweit auseinander. Der Schmale stand auf der Schwelle. Er taumelte. Er schloß geblendet die Augen. Im übergrellen Licht der starken Lampe erschien sein Gesicht bis in den Hals hinunter grünlichweiß.
Joh Fredersen wollte eine Frage stellen. Aber nicht der kleinste Laut kam ihm über die Lippen. Eine entsetzliche Dürre verbrannte ihm den Schlund. Die Lampe in seiner Hand begann zu zittern und zu tanzen. Zur Decke, zur Diele, an den Wänden hin torkelte der Lichtkeil …
Der Schmale lief auf Joh Fredersen zu. Der Schmale trug ein unauslöschbares Entsetzen in seinen weitklaffenden Augen.
»Ihr Sohn«, stammelte er, fast lallend, »Ihr Sohn, Herr Fredersen …«
Joh Fredersen blieb stumm. Er machte keine Bewegung; nur daß er sich ein wenig vorbeugte.
»Ich habe Ihren Sohn nicht gefunden«, sagte der Schmale. Er wartete nicht darauf, was Joh Fredersen ihm erwidern würde. Sein langer, asketisch und grausam wirkender Körper, dessen Bewegungen im Dienst von Joh Fredersen allmählich die unbeteiligte Korrektheit einer Maschine gewonnen hatte, schien ganz aus den Fugen, willenlos durchrüttelt. Seine Stimme fragte, schrill und von einer tiefinnersten Raserei gepackt: »Wissen Sie, Herr Fredersen, was in Metropolis vor sich geht?«
»Was ich will«, antwortete Joh Fredersen. Die Worte klangen mechanisch und als seien sie schon tot gewesen, bevor sie noch gesprochen wurden. »Was heißt das: Sie haben meinen Sohn nicht gefunden?«
»Das heißt, was es heißt«, antwortete der Schmale mit seiner schrillen Stimme. Er trug einen grauenvollen Haß in den Augen. Er stand weit vorgebeugt, als wollte er sich auf Joh Fredersen stürzen, und seine Hände formten sich zu Krallen. »Es heißt, daß Freder, Ihr Sohn, nicht zu finden ist; es heißt, daß es ihn vielleicht gelüstet hat, mit eigenen Augen mit anzusehen, was mit dem Willen Joh Fredersens, seines Vaters, durch ein paar Wahnsinnige aus Metropolis gemacht wird; es heißt, wie mir die halb um den Verstand gekommenen Diener erzählt haben, daß Ihr Sohn in Begleitung eines Mannes, der die Tracht der Arbeiter von Metropolis trug, aus der Sicherheit seines Heimes auf und davon gegangen ist und daß er bis zu diesem Augenblick nicht zurückgekommen ist – und daß es wohl sehr schwer sein dürfte, Herr Fredersen, in dieser Stadt, über die kraft Ihres Willens der Wahnsinn hereingebrochen ist – der zerstörende Wahnsinn, Herr Fredersen, der vernichtende Wahnsinn, Herr Fredersen! –, und die nicht einmal mehr Licht hat, um ihren Wahnsinn zu beleuchten, nach Freder, Ihrem Sohn, zu suchen!«
Der Schmale wollte weitersprechen, aber er kam nicht dazu. Die rechte Hand Joh Fredersens machte eine sinnlos tastende Bewegung in die Luft hinein. Aus seiner Hand fiel die Lampe und brannte am Boden fort. Der mächtigste Mann von Metropolis drehte sich, als habe er einen Schuß bekommen, halb um sich selbst und krachte mit leeren Augen in den Stuhl am Schreibtisch nieder.
Der Schmale beugte sich vor, um Joh Fredersen ins Gesicht zu sehen. Er verstummte vor diesen Augen.
Zehn – zwanzig – dreißig Sekunden lang wagte er nicht, Atem zu holen. Seine entsetzten Blicke folgten den irren Bewegungen der Finger Joh Fredersens, die um sich tasteten, als suchten sie nach irgendeinem rettenden Hebel, den sie nicht finden konnten. Dann plötzlich hob sich die Hand ein wenig von der Tischplatte. Der Zeigefinger reckte sich auf, als wollte er zur Aufmerksamkeit mahnen. Joh Fredersen murmelte etwas. Dann lachte er. Es war ein kleines, müdes, trauriges Lachen, bei dessen Klang der Schmale zu fühlen meinte, wie sich auf seinem Kopf die Haare zu sträuben begannen.
Joh Fredersen sprach vor sich hin. Was sagte er? Der Schmale beugte sich über ihn. Er sah den Zeigefinger der rechten Hand Joh Fredersens langsam über die blanke Schreibtischplatte gleiten, als folge er buchstabierend den Zeilen eines Buches.
Die leise Stimme Joh Fredersens sagte: »Denn was der Mensch säet, das wird er ernten …«
Dann fiel die Stirn Joh Fredersens auf das glatte Holz, und seine leise Stimme rief unablässig und mit einem Ton, den außer seiner toten Frau niemals ein Mensch von Joh Fredersen gehört hatte, den Namen seines Sohnes.
Aber dieses Rufen blieb ohne Antwort.
Die Treppen des Neuen Turms Babel hinauf kroch ein Mensch. Es war selten in der großen Metropolis, Joh Fredersens zeitsparender Stadt, daß ein Mensch die Treppen benutzte. Sie waren der Überfüllung aller Fahrstühle und Paternoster vorbehalten, eine Stillegung jeder Fahrgelegenheit, dem Ausbruch von Feuer oder ähnlichen Katastrophen, unwahrscheinlichen Dingen in dieser vollkommenen Menschensiedlung. Aber das Unwahrscheinliche war eingetreten. Aufeinander getürmt, verstopften die abgestürzten Fahrstühle ihre Schächte, und die Zellen der Paternoster-Werke schienen von einer aus der Tiefe heraufschwelenden Höllenglut verborgen und angekohlt zu sein.
Die Treppen des Neuen Turms Babel hinauf schleppte sich Josaphat. Er hatte in den letzten Viertelstunden fluchen gelernt, wie Grot zu fluchen pflegte, und er nutzte die neue Wissenschaft aus. Er brüllte den Schmerz an, der ihm die Glieder folterte. Er spuckte der Qual in seinen Knien ein Übermaß von Haß und Verachtung zu. Wild und sinnreich waren die Verwünschungen, die er jeder neuen Stufe, jedem Absatz, jeder neuen Biegung einer Treppe entgegenschleuderte. Aber er überwand sie alle – hundertundsechs Treppen, jede zu dreißig Stufen.
Er erreichte das Halbrund, auf das die Aufzüge mündeten. In den Winkeln vor der Tür zu Joh Fredersens Räumen ballten sich Knäuel von Menschen, dunkel zusammengedrückt von einem gemeinsamen Druck entsetzlicher Furcht.
Sie wandten die Köpfe und starrten dem Menschen entgegen, der über die Stufen emporkroch und sich an der Mauer emporzerrte.
Seine verwilderten Augen flogen über sie hin.
»Was soll das?« fragte er ohne Atem. »Was wollt ihr hier?«
Stimmen flüsterten gehetzt. Keiner wußte, wer sprach. Worte stürzten übereinander.
»Er hat uns hinuntergejagt in die Stadt, durch die der Tod läuft wie ein Amokläufer … Er hat uns ausgeschickt, Freder, seinen Sohn, zu suchen … Wir haben ihn nicht gefunden … Keiner von uns … Wir wagen uns nicht hinein zu Joh Fredersen … Niemand wagt, ihm die Nachricht zu bringen, daß wir seinen Sohn nicht gefunden haben …«
Eine Stimme schwang sich hoch und spitz aus dem Knäuel: »Wer kann in der Hölle einen einzelnen Verdammten finden?«
Hinter der Tür sprach eine Stimme, als röchelte das Holz: »Wo ist mein Sohn?«
Josaphat taumelte auf die Tür los. Ein keuchender Schrei von vielen wollte ihn hemmen. Hände streckten sich nach ihm aus.
»Nicht, nicht!«
Aber er hatte die Tür schon aufgestoßen. Er sah sich um.
Durch die riesenhaften Fenster quoll das erste Glühen des jungen Tages und lag auf den blanken Dielen wie Lachen von Blut. An der Mauer neben der Tür stand der Schmale, und hart vor ihm stand Joh Fredersen. Seine Fäuste waren rechts und links von dem Mann gegen die Mauer gestemmt und hielten ihn fest, als hätten sie ihn durchbohrt und gekreuzigt.
»Wo ist mein Sohn?« fragte Joh Fredersen. Er fragte, und seine Stimme überschlug sich erstickend: »Wo ist mein Kind?«
Der Kopf des Schmalen schlug gegen die Mauer zurück. Von den aschfarbenen Lippen kamen tonlose Worte: »Es werden morgen viele in Metropolis sein, die auch fragen: ›Joh Fredersen, wo ist mein Kind?‹«
Die Fäuste Joh Fredersens lösten sich. Der ganze Körper schlug herum. Nun sah der Mann, der Herr über die große Metropolis gewesen war, daß noch ein Mensch im Zimmer stand. Er stierte ihn an. Über sein Gesicht sickerte der Schweiß in kalten, langsamen, schweren Tropfen. Das Gesicht zuckte in einer grauenhaften Hilflosigkeit.
»Wo ist mein Sohn?« fragte Joh Fredersen lallend. Er streckte eine Hand aus. Die Hand fuhr ziellos tastend durch die Luft. »Weißt du, wo mein Sohn ist?«
Josaphat gab keine Antwort. Die Antwort schrie ihm in der Kehle, aber er konnte die Worte nicht formen. Da saß eine Faust an seiner Gurgel und schnürte sie ab … Gott, war das Joh Fredersen, der vor ihm stand?
Joh Fredersen tat einen irren Schritt auf ihn zu. Er beugte den Kopf vor, um ihn näher anzusehen. Er nickte. Er nickte wieder.
»Ich kenne dich«, sagte er tonlos. »Du bist Josaphat und warst mein Erster Sekretär. Ich habe dich entlassen. Ich war sehr hart gegen dich. Ich habe dich gekränkt und vernichtet … Ich bitte dich um Verzeihung … Es tut mir leid, daß ich jemals hart gegen dich oder irgendeinen Menschen war … Verzeih mir! … Verzeihen Sie mir, Josaphat … Seit zehn Stunden weiß ich nicht, wo mein Sohn ist … Seit zehn Stunden, Josaphat, jage ich alle Menschen, derer ich habhaft werden kann, hinunter in die verfluchte Stadt, um meinen Sohn zu suchen, und ich weiß, daß es sinnlos ist, daß es keinen Zweck hat, der Tag bricht an, und ich rede und rede und weiß, daß ich ein Narr bin, aber vielleicht, vielleicht wissen Sie, wo mein Sohn ist?«
»Gefangen«, sagte Josaphat, und es war, als fetze er sich das Wort aus dem Schlund und fürchte, daran zu verbluten. »Gefangen.«
Ein blödes Lächeln schwankte über Joh Fredersens Gesicht.
»Was heißt das, gefangen?«
»Die Masse hat ihn gefangen, Joh Fredersen!«
»Meinen Sohn?«
Ein sinnlos jämmerlicher, tierischer Laut kam aus dem Munde Joh Fredersens. Sein Mund stand offen, verzerrt – seine Hände hoben sich wie in kindischer Abwehr gegen einen Schlag, der schon gefallen war. Seine Stimme fragte, ganz hoch und kläglich: »Meinen Sohn?«
»Sie haben ihn gefangen«, riß Josaphat die Worte aus sich heraus, »weil sie ein Opfer suchten für ihre Verzweiflung und die Wut ihres unermeßlichen, unausdenkbaren Schmerzes.«
»Weiter!«
»Sie haben das Mädchen gefangen, dem sie die Schuld an allem Übel geben. Freder wollte sie retten, denn er liebt das Mädchen. Da haben sie ihn gefangen und zwingen ihn, zuzuschauen, wie die Geliebte stirbt. Sie haben den Scheiterhaufen vor dem Dom errichtet und tanzen um den Scheiterhaufen. Sie schreien: ›Wir haben Joh Fredersens Sohn und seine Liebste gefangen.‹ Und ich weiß, er wird es nicht überleben!«
Für die Dauer von Sekunden war in dem großen Raum eine so tiefe und vollkommene Stille, daß die stark und strahlend hervorbrechende Goldglut der Morgensonne wie ein gewaltiges Dröhnen wirkte. Dann drehte Joh Fredersen sich um, begann zu laufen. Er stürzte gegen die Tür. So gewaltsam und unwiderstehlich war diese Bewegung, daß es schien, als hätte selbst die verschlossene Tür sie nicht aufzuhalten vermocht.
Vorüber an den Menschenknäueln lief Joh Fredersen auf die Treppe zu und die Stufen hinunter. Sein Lauf war wie ein unaufhaltsamer Sturz von Sprüngen. Er fühlte die Stufen nicht. Er empfand die Höhe nicht. Mit vorgestreckten Händen lief er stürzend, und das Haar bäumte sich über seiner Stirn wie eine Flamme auf. Sein Mund stand weit offen, und zwischen den zerrissenen Lippen schwebte wie ein lautloser Schrei der ungeschriene Name: Freder!
Endlosigkeit der Treppen … Zerklüftung … Risse in Mauern … gestürzte Quadern … verkrümmtes Eisen … Chaos … Vernichtung … Untergang …
Die Straße …
Rot strömte der Tag auf die Straße hinab.
Geheul in der Luft. Und Flammenschein. Und Rauch.
Stimmen … Geschrei, doch nicht frohlockendes Schreien … Schreie der Angst, des Entsetzens, der furchtbar gesteigerten Spannung …
Endlich: der Domplatz!
Der Scheiterhaufen. Die Masse … Männer, Weiber, unübersehbare Massen … Aber sie blickten nicht nach dem Scheiterhaufen, auf dem in qualmender Glut ein Geschöpf aus Metall und Glas mit dem Kopf und Körper eines Menschen schwelte.
Aller Augen waren nach oben gewandt, nach der Höhe des Doms, dessen Dach in der Morgensonne funkelte.
Joh Fredersen blieb stehen, als habe er einen Hieb vor die Knie bekommen.
»Was …«, stammelte er. Er hob die Augen, er hob die Hände ganz langsam zur Höhe des Kopfes; seine Hände legten sich über sein Haar.
Lautlos, wie hingemäht, brach er auf die Knie nieder.
Auf der Höhe des Domdaches, ineinander verschlungen, ineinander verkrampft, mit der Inbrunst tödlichen Kampfes rangen Freder und Rotwang, gleißend in der Sonne.
Sie rangen Brust gegen Brust und Knie gegen Knie gestemmt. Es brauchte niemand mehr scharfe Augen zu haben, um zu sehen, daß Rotwang der weitaus Stärkere war. Die schmale Gestalt des Jungen in der zerfetzten weißen Seide bog sich unter dem würgenden Griff des großen Erfinders weit und immer weiter rückwärts. Wie ein furchtbar-wundervoller Bogen spannte sich die schmale weiße Gestalt, den Kopf zurück, die Knie vorgebogen. Und die Schwärze Rotwangs ragte plump wie ein Berg über dem seidenen Weiß und drückte es nieder. An der schmalen Galerie des Turmes knickte Freder wie ein Sack zusammen, lag im Winkel, rührte sich nicht mehr. Über ihm gereckt, doch vorgebeugt, Rotwang, auf ihn starrend, dann sich wendend …
An dem schmalen First des Daches hin, auf ihn zu – nein, auf das matte Bündel weißer Seide zu, taumelte Maria. Ihre Stimme flatterte im Licht des herrlich und gebietend auferstandenen Morgens wie die Klage eines armen Vogels:
»Freder, Freder!«
Über dem Domplatz wachte Raunen auf. Köpfe wandten sich, und Hände zeigten.
»Seht – Joh Fredersen! Seht da – Joh Fredersen!«
Eine Frauenstimme gellte auf: »Siehst du nun selbst, Joh Fredersen, wie es ist, wenn einem das einzige Kind gemordet wird?«
Josaphat sprang vor den Mann hin, der auf den Knien lag und nichts von allem merkte, was um ihn vorging.
»Was wollt ihr?« schrie er. »Was wollt ihr denn? Eure Kinder sind ja gerettet! Im ›Haus der Söhne‹! Maria und der Sohn Joh Fredersens, die haben eure Kinder gerettet!«
Joh Fredersen hörte nichts. Er hörte den Schrei nicht, der plötzlich aus dem Mund der Masse wie ein gebrühtes Gebet zu Gott hinauf schrie.
Er hörte das Rauschen nicht, mit dem sich die Masse neben ihm, weit um ihn her auf die Knie warf. Er hörte weder das Weinen der Weiber noch das Keuchen der Männer, nicht Gebet noch Dank, nicht Stöhnen noch Geloben.
Nur seine Augen hatten noch Leben übrig. Seine Augen, die keine Lider zu haben schienen, hingen am Dach des Domes.
Maria hatte das weiße Bündel erreicht, das zwischen Turm und Dach im Winkel verkrümmt lag. Auf den Knien rutschte sie zu ihm hin, streckte die Hände nach ihm, vom Jammer geblendet.
»Freder … Freder …«
Mit einem wütenden Knurren, wie eines Raubtieres Knurren, haschte Rotwang nach ihr. Sie wehrte sich schreiend. Er hielt ihr die Lippen zu. Mit einem Ausdruck verzweifelten Nichtbegreifens starrte er dem Mädchen ins überströmte Gesicht.
»Hel, meine Hel … Warum wehrst du dich gegen mich?«
Er hielt sie mit seinen eisernen Armen wie eine Beute, die ihm nichts und niemand mehr entreißen sollte. Hart am Turm aufwärts führte eine Leiter zum Dachfirst hinauf. Mit dem tiefen tierischen Knurren des zu Unrecht Verfolgten klomm er die Leiter hinauf, das Mädchen im Arm schleppend.
Dies war das Bild, das in Freders Augen fiel, als er sie aufschlug und sich der halben Betäubung entraffte. Er stemmte sich auf und stürzte zur Leiter hin. Er klomm die Leiter hinauf, fast laufend, mit der blindsicheren Geschwindigkeit der Angst um die Geliebte. Er erreichte Rotwang, der Maria losließ. Sie stürzte. Sie stürzte, aber im Stürzen hielt sie sich und zog sich hinauf und erreichte die goldene Sichel des Mondes, auf der die sterngekrönte Jungfrau stand. Sie streckte die Hand aus, um nach Freder zu greifen. Aber im selben Augenblick warf sich Rotwang von oben her gegen den Tieferstehenden, und engumschlungen rollten sie über das Dach des Domes hinunter in wütendem Anprall gegen das schmale Geländer der Galerie.
Kreischend kam aus der Tiefe der Angstschrei der Masse. Weder Rotwang noch Freder hörten ihn. Mit einem grauenhaften Fluch raffte Rotwang sich auf. Er sah über sich, scharf in der Bläue des Himmels, die Teufelsfratze eines Wasserspeiers. Sie grinste ihm ins Gesicht. Die lange Zunge bleckte ihm hohnvoll entgegen. Er raffte sich auf und schlug mit geballter Faust nach der grinsenden Fratze …
Die Fratze zerbrach.
Unter der Wucht des Schlages verlor er das Gleichgewicht und stürzte, hielt sich aber noch, mit einer Hand hängend, am gotischen Zierat des Domes.
Und aufwärts schauend in die unendliche Bläue des Morgenhimmels, sah er das Antlitz Hels, die er geliebt hatte, und es glich dem Antlitz des schönen Todesengels und lächelte ihm zu und neigte die Lippen auf seine Stirn.
Große schwarze Schwingen breiteten sich aus, stark genug, eine verlorene Welt in den Himmel zu tragen.
»Hel …«, sagte der Mann. »Meine Hel … Endlich …«
Und seine Finger lösten sich, freiwillig …
Joh Fredersen sah den Sturz nicht, noch hörte er den Schrei der zurückweichenden Masse. Er sah nur eines: den weißleuchtenden Menschen, der aufrecht und unverletzt, mit den ruhigen Schritten derer, die nichts fürchten, am Dach des Domes entlangging und das Mädchen in seinen Armen trug.
Da neigte sich Joh Fredersen so tief vornüber, daß seine Stirn die Steine des Domplatzes berührten. Und die ihm nah genug waren, hörten das Weinen, das aus seiner Brust heraufquoll wie Quellwasser aus einem Felsen.
Doch als er die Hände von seinem Kopf löste, sahen alle, die um ihn her standen, daß Joh Fredersens Haar schneeweiß geworden war.