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Ein Gewölbe wie eine Gruft – Menschenköpfe so dicht gedrängt, daß sie wie Schollen eines frischgepflügten Ackers wirkten. Alle Gesichter zu einem Punkt gewandt: zu der Quelle eines gottmilden Lichts. Kerzen brannten, die Flammen wie Schwerter geformt. Schmale, leuchtende Schwerter des Lichts im Kreis um den Kopf eines Mädchens …
Freder stand in den Hintergrund des Gewölbes gedrückt, dem Mädchen so fern, daß er von ihrem Gesicht nichts als den Schimmer seiner Blässe gewahrte und das Wunder der Augen und den blutroten Mund. Seine Augen hingen an diesem blutroten Mund, als wäre er der Mittelpunkt der Welt, zu dem sein Blut nach ewigem Gesetz hinstürzen mußte. Peinvoll war dieser Mund … Alle sieben Todsünden hatten solch einen Mund … Das Weib auf dem rosenfarbenen Tier, das den Namen Babylon auf seiner Stirn trug, hatte solch einen Mund …
Er drückte beide Hände vor seine Augen, um diesen Todsünden-Mund nicht mehr zu sehen.
Nun hörte er deutlicher … Ja, das war ihre Stimme, sie klang, als könnte ihr Gott nichts abschlagen. War sie das wirklich? Die Stimme kam aus blutrotem Munde. Sie war wie eine Flamme, heiß und spitz. Sie war voll einer verruchten Süßigkeit.
Die Stimme sagte: »Meine Brüder …«
Aber von diesem Wort ging kein Frieden aus. Kleine, rote Schlangen züngelten durch die Luft. Kochendheiß war die Luft, eine Qual, sie zu atmen …
Tief aufstöhnend öffnete Freder die Augen.
Dunkle, heftig bewegte Wellen waren die Köpfe vor ihm. Diese Wellen brodelten, tosten und brausten. Hier, da und dort fuhr eine Hand durch die Luft. Worte flogen auf, Gischtfetzen der Brandung. Aber die Stimme des Mädchens war wie eine Feuerzange, zuckend, rufend, brennend über den Köpfen.
»Was ist köstlicher: Wasser oder Wein?«
»... Wein ist köstlicher!«
»Wer trinkt das Wasser?«
»... Wir!«
»Wer trinkt den Wein?«
»... Die Herren! Die Herren der Maschinen!«
»Was ist köstlicher: Fleisch oder trockenes Brot?«
»... Fleisch ist köstlicher!«
»Wer ißt das trockene Brot?«
»... Wir!«
»Wer ißt das Fleisch?«
»... Die Herren! Die Herren der Maschinen!«
»Was trägt sich köstlicher: Blauleinen oder weiße Seide?«
»... Weiße Seide trägt sich köstlicher!«
»Wer trägt Blauleinen?«
»... Wir!«
»Wer trägt die weiße Seide?«
»... Die Herren! Die Söhne der Herren!«
»Wo wohnt es sich köstlicher: auf oder unter der Erde?«
»... Auf der Erde wohnt es sich köstlicher!«
»Wer wohnt unter der Erde?«
»... Wir!«
»Wer wohnt auf der Erde?«
»... Die Herren! Die Herren der Maschinen!«
»Wo sind eure Frauen?«
»... Im Elend!«
»Wo sind eure Kinder?«
»... Im Elend!«
»Was tun eure Frauen?«
»... Sie hungern!«
»Was tun eure Kinder?«
»... Sie weinen!«
»Was tun die Frauen der Herren der Maschinen?«
»... Sie schwelgen!«
»Was tun die Kinder der Herren der Maschinen?«
»... Sie spielen!«
»Wer sind die Schaffenden?«
»... Wir!«
»Wer sind die Verprassenden?«
»... Die Herren! Die Herren der Maschinen!«
»Was seid ihr?«
»... Sklaven!«
»Nein – was seid ihr?«
»... Hunde!«
»Nein – Was seid ihr?«
»... Sage es uns! Sage es uns!«
»Narren seid ihr! Dummköpfe! Dummköpfe! In euren Morgen, euren Mittag, euren Abend, eure Nacht heult die Maschine nach Futter, nach Futter, nach Futter! Ihr seid das Futter! Ihr seid das lebendige Futter! Euch frißt die Maschine wie Häcksel und speit euch aus! Warum mästet ihr die Maschine mit euren Leibern? Warum schmiert ihr Maschinengelenke mit eurem Hirn? Warum laßt ihr nicht die Maschinen verhungern, ihr Narren? Warum laßt ihr sie nicht verrecken, Dummköpfe? Warum füttert ihr sie? Je mehr ihr sie füttert, desto mehr gieren sie nach eurem Fleisch, nach euren Knochen und Hirnen. Ihr seid zehntausend! Ihr seid hunderttausend! Warum werft ihr euch nicht – hunderttausend mordende Fäuste – auf die Maschinen und schlagt die Maschinen tot? Ihr seid die Herren der Maschinen, ihr! Nicht die anderen, die in der weißen Seide gehen! Dreht die Welt um! Stellt die Welt auf den Kopf! Werdet zu Mördern am Lebendigen und am Toten! Nehmt euch das Erbe von Lebendigen und von Toten! Ihr habt genug gewartet! Die Zeit ist da!«
Eine Stimme schrie aus der Menge: »Führe uns an, Maria!«
Eine Sturzwelle, brandeten alle Köpfe nach vorn. Der blutrote Mund des Mädchens lachte und flammte. Groß und grünschwarz flammten die Augen darüber. Es hob seine Arme mit einer unsäglich schweren, lastenhebenden, süßen, tollen Gebärde. Der schmale Leib wuchs auf und reckte sich hoch. Die Hände des Mädchens berührten sich über dem Scheitel. Über die Schultern, die Brüste, die Hüften, die Knie lief unablässig ein kaum merkbares Zittern. Es war wie das Zittern der feinen Rückenflossen eines leuchtenden Tiefseefisches. Es war, als würde das Mädchen von diesem Zittern immer höher getragen, obwohl es die Füße nicht regte.
Es sagte: »Kommt! Kommt! Ich will euch führen! Ich will den Tanz des Todes vor euch tanzen! Ich will den Tanz der Mörder vor euch tanzen!«
Die Masse stöhnte auf. Die Masse keuchte. Die Masse streckte ihre Hände aus. Die Masse beugte Kopf und Nacken tief, als sollten ihre Schultern, ihre Rücken zu einem Teppich für das Mädchen werden. Die Masse stürzte röchelnd auf die Knie, ein einziges, vom Beil gefälltes Tier. Das Mädchen hob den Fuß und trat dem hingestreckten Tier Masse auf den Nacken …
Eine Stimme schrie auf, schluchzend in Zorn und Schmerz: »Du bist nicht Maria!«
Die Masse wandte sich um. Die Masse sah im Hintergrund des Gewölbes einen Menschen stehen, dem war der Mantel von den Schultern gefallen. Unter dem Mantel trug er die weiße Seide. Der Mensch war bleicher als der Tod des Verblutens. Er streckte die Hand aus und deutete auf das Mädchen. Er wiederholte mit seiner gellenden Stimme:
»Du bist nicht Maria! Nein, du bist nicht Maria!«
Die Köpfe der Masse stierten den Menschen an, der ein Fremder war unter ihnen, der die weiße Seide trug.
»Du bist nicht Maria!« rief seine gellende Stimme. »Maria redet zum Frieden, nicht zum Mord!«
Die Augen der Masse begannen gefährlich zu glotzen.
Das Mädchen stand aufgereckt im Nacken der Masse. Es kam ins Wanken. Es schien, als sollte es stürzen, vornüberstürzen auf sein weißes Gesicht, in dem der blutrote Mund, der Todsünden-Mund wie das höllische Feuer flammte.
Aber es stürzte nicht. Es hielt sich aufrecht. Es schwankte leise, aber es hielt sich aufrecht. Es streckte den Arm aus und deutete auf Freder und rief mit einer Stimme, die klang wie Glas. »Seht da! Der Sohn Joh Fredersens! Der Sohn Joh Fredersens ist unter euch!«
Die Masse schrie. Die Masse warf sich herum. Die Masse wollte den Sohn Joh Fredersens packen.
Er wehrte sich nicht. Er stand, an die Mauer gedrückt. Er starrte das Mädchen an mit einem Blick, in dem der Glaube an die ewige Verdammnis zu lesen war. Es schien, als sei er schon gestorben und als taumle sein entseelter Körper gespenstisch auf die Fäuste derer zu, die ihn ermorden wollten.
Eine Stimme brüllte: »Hund im weiß-seidnen Fell!«
Ein Arm fuhr hoch, ein Messer blitzte auf …
Auf dem wogenden Nacken der Masse stand das Mädchen. Es war, als käme das Messer aus seinen Augen geflogen.
Aber ehe das Messer in die weiße Seide fahren konnte, die das Herz des Sohnes von Joh Fredersen deckte, warf sich ihm ein Mensch wie ein Schild vor die Brust, und das Messer fetzte Blauleinen auf. Blaues Leinen färbte sich purpurrot …
»Brüder!« sagte der Mann. Er deckte mit ganzem Leibe, sterbend, doch aufrecht stehend, den Sohn Joh Fredersens. Er wandte den Kopf ein wenig, um Freders Blick zu erhaschen. Er sagte mit einem Lächeln, das sich in Schmerzen verklärte: »Bruder …«
Freder erkannte ihn. Es war Georgi. Es war die Nummer 11811, die hier auslosch und ihn auslöschend schützte.
Er wollte sich an Georgi vorüberdrängen. Aber der Sterbende stand wie ein Gekreuzigter, mit ausgebreiteten Armen und die Hände in die Ränder der Nischen gekrallt, die hinter ihm waren. Er hielt seine Augen, die wie Juwelen waren, starr auf die Masse gerichtet, die gegen ihn stürmte.
»Brüder …«, sagte er.
»Mörder … Brudermörder!« sagte der sterbende Mund.
Die Masse ließ von ihm ab und rannte weiter. Auf den Schultern der Masse tanzte das Mädchen und sang. Es sang mit dem blutroten Todsünden-Mund:
»Wir haben den Maschinen das Urteil gesprochen!
Wir haben die Maschinen zum Tode verurteilt!
Die Maschinen müssen sterben, zur Hölle mit ihnen!
Tod! Tod! Tod den Maschinen!«
Wie das Rauschen von tausend Flügeln durchbrauste der Schritt der Masse die schmalen Gänge der Totenstadt. Die Stimme des Mädchens verscholl. Die Schritte verschollen. Georgi löste die Hände und fiel vornüber. Freder fing ihn auf. Er sank in die Knie. Der Kopf Georgis fiel ihm gegen die Brust.
»Warnen … warnen … die Stadt …«, sagte Georgi.
»Du stirbst!« gab Freder zur Antwort. Seine verstörten Augen liefen an den Mauern entlang, in deren Nischen die tausendjährigen Toten schliefen. »Es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt!«
»Tiefste Gerechtigkeit …«, sagte Nummer 11 811. »Aus Schwäche – Schuld … Aus Schuld – Sühne … Warnen – die Stadt! Warnen …«
»Ich lasse dich nicht allein.«
»Ich bitte dich – bitte dich!«
Freder erhob sich, Verzweiflung in den Augen. Er lief auf den Gang zu, in dem die Masse verschollen war.
»Nicht dorthin!« sagte Georgi. »Da kommst du nicht mehr durch!«
»Ich weiß keinen anderen Weg.«
»Ich werde dich führen.«
»Du stirbst, Georgi! Der erste Schritt ist dein Tod!«
»Willst du die Stadt nicht warnen? Willst du mitschuldig werden?«
»Komm!« sagte Freder.
Er hob Georgi auf. Die Hand auf die Wunde gedrückt, begann der zu laufen.
»Nimm deine Lampe und komm!« sagte Georgi. Er lief, daß Freder ihm kaum zu folgen vermochte. In den tausendjährigen Staub der Totenstadt tropfte das Blut, das aus frischer Quelle quoll. Er hielt Freders Arm umklammert und riß ihn vorwärts.
»Eile!« sagte er murmelnd. »Eile tut not!«
Gänge – Kreuzungen – Gänge – Stufen – Gänge – eine Treppe, die steil nach oben führte … An der ersten Stufe stürzte Georgi. Freder wollte ihn halten. Er stieß ihn zurück.
»Eile!« sagte er. Sein Kopf wies nach der Treppe. »Hinauf! Du kannst nicht mehr irren. Beeile dich!«
»Und du, Georgi?«
»Ich«, sagte Georgi und wandte den Kopf nach der Mauer, »ich gebe dir nun auf nichts mehr Antwort.«
Freder ließ die Hand Georgis los. Er begann, die Stufen hinaufzulaufen. Nacht empfing ihn, die Nacht von Metropolis – diese lichtertolle, trunkene Nacht.
Noch war alles wie sonst. Noch deutete nichts auf den Sturm hin, der aus dem Innern der Erde unter Metropolis losbrechen sollte zum Mord an der Stadt der Maschinen.
Aber es war dem Sohn Joh Fredersens, als gäben die Steine nach unter seinen Füßen, als hörte er in der Luft das Rauschen von Flügeln, das Rauschen der Flügel seltsamer Ungeheuer: Wesen mit Frauenleibern und Schlangenköpfen, Wesen, halb Stier, halb Engel, Teufel, mit Kronen geschmückt, menschengesichtige Löwen …
Ihm war, als sähe er auf dem Neuen Turm Babel den Tod in Hut und weitem Mantel sitzen, wie er die aufgestemmte Sense wetzte …
Er erreichte den Neuen Turm Babel. Es war alles wie sonst. Die Dämmerung kämpfte den ersten Kampf mit der Frühe. Er suchte seinen Vater. Er fand ihn nicht. Niemand wußte zu sagen, wohin Joh Fredersen um Mitternacht gegangen war.
Die Hirnschale des Neuen Turms Babel war leer.
Freder wischte sich den Schweiß von der Stirn, der ihm tropfend über die Schläfen lief.
»Ich muß meinen Vater finden«, sagte er. »Ich muß ihn rufen, koste es, was es wolle!«
Menschen mit Dieneraugen sahen ihn an, Menschen, die nichts als blinden Gehorsam kannten, die nicht raten konnten, noch weniger helfen …
Der Sohn Joh Fredersens trat an den Platz seines Vaters, an den Tisch, wo sein großer Vater zu sitzen pflegte. Er war weiß wie die Seide, die er trug, als er die Hand ausstreckte und den Druck seiner Finger auf die kleine, blaue Metallplatte legte, die nie ein Mensch berührte außer Joh Fredersen.
Da begann die große Metropolis zu brüllen. Da erhob sie die Stimme, ihre Behemot-Stimme. Aber sie schrie nicht nach Futter, sie brüllte: Gefahr!
Über der riesigen Stadt, über der schlummernden Stadt brüllte die Urtier-Stimme: Gefahr! Gefahr!
Ein fast unmerkliches Zittern durchlief den Neuen Turm Babel, als schauderte die Erde, die ihn trug, von einem Traum geängstigt, zwischen Schlaf und Erwachen …