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20

»Freder! Grot! Freder!«

Josaphat schrie, daß ihm die Stimme überschlug, und raste mit Sprüngen eines gehetzten Wolfes durch Gänge, über Treppen des großen Pumpwerks. Sein Schreien wurde nicht gehört. Im Maschinenraum quälten sich verwundete Motoren, die gehorchen wollten und es nicht vermochten. Die Tür war verschlossen. Josaphat donnerte mit den Fäusten, mit den Füßen dagegen. Grot war's, der ihm aufmachte, in der Hand den Revolver.

»Was, im Namen der siedenden Hölle …«

»Mach, daß du wegkommst! Wo ist Freder?«

»Hier! Was ist denn?«

»Freder, sie haben Maria gefangen!«

»Was?«

»Sie haben Maria gefangen und bringen sie um!«

Freder taumelte. Josaphat riß ihn zur Tür. Grot stand wie ein Glotz mit hängenden Armen, mit lallendem Munde ihnen im Weg und glotzte.

»Das Weib, das meine Maschine umgebracht hat?«

»Halt's Maul, du Rindvieh – weg da!«

»Grot!« Ein Laut aus halbem Wahnsinn.

»Ja, Herr Freder!«

»Du bleibst bei den Maschinen!«

»Ja, Herr Freder!«

»Los, Josaphat!«

Und Laufen, Laufen, das sich spukhaft entfernte.

Grot drehte sich um. Er sah die gelähmten Maschinen. Er holte mit der Faust aus und schlug die Maschine mit voller Kraft seiner Faust, wie einer ein störrisches Pferd zwischen die Augen schlägt.

»Das Weib«, schrie er heulend, »das meine kleinen Kinder gerettet hat!« Und er warf sich mit knirschenden Zähnen auf die Maschine.

»Erzähle«, sprach Freder, fast leise. Es war, als wollte er nicht ein Atom an Kraft verschwenden. Sein Gesicht war ein weißer Stein, in dem zwei Augen flammten wie Juwelen. Er sprang ans Steuer des kleinen Wagens, mit dem Josaphat gekommen war. Denn das Pumpwerk lag am äußersten Ende der großen Metropolis.

Noch war es Nacht.

Der Wagen sprang lautlos an.

»Wir müssen einen bösen Umweg machen«, sagte Josaphat, den Sucher richtend, »viele Brücken zwischen den Häuserblöcken sind zersprengt.«

»Erzähle«, sagte Freder. Die Zähne schlugen ihm klirrend aufeinander, als fröre er.

»Ich weiß nicht, wer es entdeckt hat. Wahrscheinlich die Weiber, die an die Kinder dachten und nach Hause wollten. Es ist aus dem rasenden Volk nichts herauszubekommen. Aber gewiß ist: Als sie aus den Schächten der Tiefbahn das schwarze Wasser auf sich zustürzen sahen und als sie begriffen hatten, daß durch die Stillegung der Maschinen auch das Pumpwerk, der Schutz ihrer Stadt, zerstört worden war, da sind sie toll geworden in ihrer Verzweiflung. Es heißt, daß manche Mütter, blind und taub gegen alle Vorstellungen, wie Besessene versucht haben, durch die überschwemmten Schächte hinabzutauchen; erst durch die entsetzliche Vollkommenheit des Aussichtslosen jedes Rettungsversuches sind sie zu Bestien geworden und gieren nach Rache.«

»Rache an wem?«

»An dem Menschen, der sie verführt hat.«

»An dem Mädchen?«

»Ja.«

»Weiter.«

»Freder, das Tempo hält der Motor nicht durch.«

»Weiter!«

»Ich weiß nicht, wie es kam, daß ihnen das Mädchen geradewegs in die Hände gelaufen ist. Ich war auf dem Weg zu Ihnen und sah eine Frau mit fliegenden Haaren über den Domplatz rennen, und die brüllende Horde hinter ihr. In dieser Nacht war so schon die Hölle los. Die Gotiker ziehen, sich geißelnd, durch die Stadt und haben den Mönch Desertus ans Kreuz geschlagen. Sie predigen: der Jüngste Tag sei da, und es scheint, daß sie viele bekehrt haben, denn September hockt vor den rauchenden Trümmern von Yoshiwara. Eine Schar von Fackeltänzern hat sich dem Zug der Flagellanten angeschlossen und hat unter geifernden Flüchen auf die Mutter der Greuel, die große Hure Babylon, Yoshiwara bis auf den Grund ausgebrannt.«

»Das Mädchen, Josaphat!«

»Es hat den Dom, in den es sich flüchten wollte, nicht erreicht, Freder. Sie haben es auf der Treppe eingeholt, weil es stürzte auf den Stufen, denn das Kleid hing ihm in Fetzen vom Leibe nieder. Ein Weib, dem der Wahnsinn in weißen Augen glühte, schrie wie eine vom Geist des Sehertums Ergriffene: ›Seht! Seht, die Heiligen sind von den Postamenten gestiegen und lassen die Hexe nicht in den Dom hinein.‹«

»Und?«

»Und sie schichten vor dem Dom einen Scheiterhaufen, um die Hexe darauf zu verbrennen …«

Freder sagte nichts. Er beugte sich tiefer. Der Wagen stöhnte und sprang.

Josaphat krampfte die Hände in Freders Arm.

»Halt, um Gottes willen!«

Der Wagen stand.

»Wir müssen weiter nach links, sehen Sie nicht? Da fehlt die Brücke!«

»Die nächste Brücke?«

»Ist unpassierbar!«

»Horch …«

»Was soll ich hören?«

»Das Schreien … das ferne Schreien …«

»Ich höre nichts.«

»Aber das mußt du doch hören!«

»Wollen Sie nicht weiterfahren, Freder?«

»Und siehst du nicht, daß die Luft da drüben hellrot wird?«

»Von Fackeln, Freder.«

»Die brennen doch nicht so hell!«

»Freder, warum verlieren wir hier Zeit!«

Freder antwortete nicht. Er starrte auf die Fetzen der Eisenbrücke, die in die Schlucht der Straße hinunterbaumelten. Er mußte hinüber; ja, er mußte hinüber, um auf kurzem Wege zum Dom zu gelangen.

Der Gitterträger eines zerrissenen Turmes war diesseits der Straße bis auf die andere Seite hinübergestürzt und gleißte metallen im unbestimmten Licht der schwingenden Nacht.

»Steig aus«, sagte Freder.

»Warum?«

»Steig aus, sag ich dir!«

»Ich will wissen, warum!«

»Weil ich da hinüber will …«

»Wo hinüber?«

»Über den Gitterträger.«

»Hinüberfahren?«

»Ja.«

»Das ist Selbstmord, Freder!«

»Ich habe dich nicht gebeten, mich zu begleiten. Steig aus!«

»Das dulde ich nicht! Das ist lichterloher Wahnsinn!«

»Lichterloh brennt da drüben der Scheiterhaufen, Mensch!«

Die Worte schienen nicht aus dem Munde Freders zu kommen. Jede Wunde der sterbenden Stadt schien aus ihnen zu brüllen.

»Fahr zu!« sagte Josaphat mit verbissenen Zähnen. Der Wagen tat einen Sprung. Er kletterte. Mit einem bösen, tückisch-gleißnerischen Laut empfingen die schmalen Eisen die saugenden, rutschenden Räder.

Von den Lippen Freders sickerte Blut.

»Nicht bremsen, nicht bremsen – um Gottes willen nicht bremsen!« kreischte der Mann neben ihm und tat einen Griff des Wahnsinns über Freders Hände hin. Der Wagen, schon halb im Schleudern, schoß wieder vorwärts. Ein Spalt im Gitterwerk – hinüber, hinüber. Hinter ihnen krachte das tote Gitterwerk mit einem schreienden Laut ins Bodenlose.

Sie erreichten jenseits die Straße mit einem Anlauf, der nicht mehr zu hemmen war. Die Räder sausten in Schwärze und Nichts. Der Wagen überschlug sich. Freder stürzte und sprang wieder auf. Der andere blieb liegen.

»Josaphat!«

»Lauf! Es ist nichts. Bei Gott, es ist nichts!« Über weißem Gesicht ein verzerrtes Lächeln. »Denk an Maria, lauf!«

Und Freder rannte.

Josaphat wandte den Kopf. Er sah die Schwärze über den tiefen Straßen hellrot zuckend. Er hörte das Schreien von Tausenden. Er dachte dumpf, mit einem Hieb der Faust ins Leere: Jetzt möchte ich Grot sein, um richtig fluchen zu können.

Dann fiel sein Kopf zurück in den Schutt der Straße, und jedes Bewußtsein schwand außer dem des Schmerzes.

Freder aber lief, wie er noch nie gelaufen war. Es waren nicht seine Füße, die ihn trugen. Es war sein rasendes Herz, es waren seine Gedanken.

Straßen und Treppen und Straßen und endlich der Domplatz. Schwarz im Hintergrund der Dom, entgöttert, lichtlos, der Platz vor den breiten Stufen von Menschen wimmelnd, und inmitten der Menschen, umkläfft von Gelächter irrer Verzweiflung, umheult von Wutgesängen, umschwelt von Fackeln und Bränden, hoch auf dem Holzstoß …

»Maria!«

Freder fiel auf die Knie, als hätte man ihm die Sehnen durchgehackt.

Das Mädchen, das er für Maria hielt, hob den Kopf. Es suchte ihn. Es fand ihn mit dem Blick. Es lächelte, lachte.

»Tanze mit mir, mein Liebster!« flog seine Stimme scharf wie ein blitzendes Messer durch den Aufruhr.

Freder raffte sich auf. Die Masse erkannte ihn. Die Masse schwappte ihm schreiend und johlend entgegen.

»Hoooo – oh! Joh Fredersens Sohn! Joh Fredersens Sohn!«

Sie wollten ihn packen. Er hielt sie wild von sich ab. Er warf sich mit dem Rücken gegen die Straßenbrüstung.

»Warum wollt ihr sie töten, ihr Teufel? Sie hat eure Kinder gerettet!«

Ein brüllendes Gelächter antwortete ihm. Weiber schluchzten im Lachen und bissen sich selbst in die Fäuste.

»Jawohl, jawohl – sie hat unsere Kinder gerettet! Mit dem Lied von den toten Maschinen hat sie unsere Kinder gerettet! Mit dem eisigen schwarzen Wasser hat sie unsere Kinder gerettet! Hoch soll sie lebenhoch und dreimal hoch!«

»Lauft doch zum ›Haus der Söhne‹, da sind eure Kinder!«

»Im ›Haus der Söhne‹ sind unsere Kinder nicht! Da wohnt die Brut, die das Geld ausgebrütet hat – Söhne von deiner Art, du Hund mit weißseidenem Fell!«

»So hört doch, um Gottes willen – hört mich doch an!«

»Nichts wollen wir hören!«

»Maria, Liebste! Liebste!«

»Plärre nicht, Joh Fredersens Sohn! Sonst stopfen wir dir das Maul!«

»Tötet mich, wenn ihr töten müßt, aber laßt sie leben!«

»Eins nach dem andern, Joh Fredersens Sohn! Erst sollst du zusehen, wie deine schöne Liebste eines schönen, heißen, prächtigen Todes stirbt!«

Ein Weib, das Weib von Grot, riß sich einen Fetzen vom Rock herunter und fesselte Freders Hände. Mit Stricken band man ihn an der Brüstung fest. Er wehrte sich wie ein wildes Tier und schrie, daß ihm die Adern am Halse zu platzen drohten. Gefesselt, ohnmächtig, warf er den Kopf in den Nacken und sah den Himmel über Metropolis in einem reinen, zarten, grünlichen Blau, denn es wollte Morgen werden nach dieser Nacht.

»Gott!« schrie er und versuchte, sich in seinen Fesseln auf die Knie zu werfen. »Gott, wo bist du?«

Ein wilder roter Schein fiel in seine Augen. Der Holzstoß flammte in langen Flammen auf. Die Männer, die Weiber faßten sich an den Händen und rasten, schneller, schneller, immer schneller, in weiter und weiter werdenden Ringelreihen, lachend, schreiend, mit den Füßen stampfend: »Hexe! Hexe!«, um den Scheiterhaufen.

Freders Fesseln zerrissen. Er stürzte vornüber auf sein Gesicht, den Tanzenden zwischen die Füße.

Und das letzte, das er von dem Mädchen sah, während ihr Kleid und ihr Haar als Feuermantel um sie lohend standen, war das zärtliche Lächeln und das Wunder der Augen – und ihr Todsünden-Mund, der in den Flammen lockte:

»Tanze mit mir, mein Liebster! Tanze mit mir!«


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