Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Freder ging die Stufen zum Dom hinauf, zögernd; er ging den Weg zum erstenmal. Hel, seine Mutter, war oft in den Dom gegangen. Aber ihr Sohn noch nie. Nun sehnte er sich, ihn mit den Augen seiner Mutter zu sehen und mit den Ohren Hels, seiner Mutter, die Steingebete der Säulen zu hören, deren jede ihre besondere Stimme hatte.
Er trat in den Dom wie ein Kind, nicht fromm, doch nicht ohne Scheu, bereit zur Andacht, aber furchtlos. Er hörte wie Hel, seine Mutter, das Kyrie eleison der Steine und das Tedeum laudamus, das De profundis und das Jubilate. Und er hörte, gleich seiner Mutter, wie der gewaltig klingende steinerne Chor gekrönt wurde vom Amen des Kreuzgewölbes …
Er suchte Maria, die an der Treppe zum Glockenturm auf ihn warten wollte; aber er fand sie nicht. Er wanderte durch den Dom, der menschenleer schien. Einmal blieb er stehen, da stand er dem Tod gegenüber.
In einer Seitennische stand der gespenstische Spielmann, holzgeschnitten, in Hut und weitem Mantel, die Sense geschultert, am Gürtelstrick baumelnd das Stundenglas, und der Spielmann spielte auf einem Knochen wie auf einer Flöte. Die sieben Todsünden waren sein Gefolge.
Freder sah dem Tod ins Gesicht. Dann sprach er: »Wärest du früher gekommen, du hättest mich nicht erschreckt. Jetzt bitte ich dich: Bleibe mir und der Liebsten fern!«
Aber der grausige Flötenspieler schien auf nichts anderes zu hören als auf das Lied, das er spielte.
Freder ging weiter. Er kam in das Mittelschiff. Er sah, ausgestreckt vor dem Hochaltar, den der gekreuzigte Gottmensch überschwebte, eine dunkle Gestalt auf den Quadern liegen, niedergeworfen, die Hände zur Seite gekrallt, das Gesicht in die Kälte des Steines hineingepreßt, als sollten die Steine zerbersten am Druck der Stirn. Die Gestalt trug ein Mönchsgewand, der Kopf war geschoren. Von den Schultern bis zu den Fersen rüttelte ein unablässiges Zittern den mageren Körper, der wie im Krampf erstarrt schien.
Aber plötzlich bäumte der Körper sich auf. Eine weiße Flamme schlug hoch: ein Gesicht; schwarze Flammen darin: zwei lodernde Augen. Eine Hand fuhr empor, krallte hoch in die Luft gegen das Kruzifix, das den Altar überschwebte.
Und eine Stimme sprach wie die Stimme des Feuers: »Ich lasse dich nicht, Gott, Gott – du segnetest mich denn!«
Das Echo der Säulen gellte die Worte nach.
Der Sohn Joh Fredersens hatte den Mann nie gesehen. Aber er wußte, sobald das Weißflammengesicht die schwarzen Flammen der Augen vor ihm enthüllte: Das war Desertus, der Mönch, Feind seines Vaters …
Vielleicht, daß sein Atem zu laut geworden war. Jäh schlugen die schwarzen Flammen zu ihm hinüber. Der Mönch stand langsam auf. Er sagte kein Wort. Er streckte die Hand aus. Die Hand wies nach der Tür.
»Warum schickst du mich fort, Desertus?« fragte Freder. »Steht das Haus deines Gottes nicht allen offen?«
»Bist du hierhergekommen, um Gott zu suchen?« fragte die rauhe und heiße Stimme des Mönchs.
Freder zögerte. Er senkte den Kopf.
»Nein«, sagte er. Aber sein Herz wußte es besser.
»Wenn du Gott nicht suchst, hast du hier nichts zu suchen«, sagte der Mönch.
Da ging der Sohn Joh Fredersens.
Er ging aus dem Dom wie ein Mensch, der im Schlaf geht. Das Licht des Tages traf seine Augen hart. Gefoltert von Müdigkeit, vom Betrübtsein erschöpft, ging er die Stufen hinab und planlos geradeaus.
Das Gebrüll der Straße legte sich ihm wie ein Taucherhelm um die Ohren. Er ging in Betäubung, wie zwischen dicken, gläsernen Wänden. Er hatte keinen Gedanken außer dem Namen der Geliebten, kein Bewußtsein außer der Sehnsucht nach ihr. Frierend vor Müdigkeit, dachte er an die Augen und Lippen des Mädchens mit einem Gefühl, das sehr dem Heimweh glich.
Ach, Stirn an Stirn mit ihr – dann Mund an Mund – geschlossene Augen – Atem …
Friede …
Komm, sagte sein Herz. Warum läßt du mich allein?
Er ging in einem Strom von Menschen und kämpfte gegen die Narrheit, inmitten dieses Stromes stehenzubleiben und jede einzelne Welle, die ein Mensch war, zu fragen, ob sie wisse, wo Maria sei und warum sie ihn vergebens habe warten lassen.
Er kam an das Haus des Magiers. Da blieb er stehen.
Er starrte ein Fenster an.
War er verrückt?
Da stand Maria hinter den trüben Scheiben. Das war ihr Gesicht, das war ihr Mund, der sich auf tat. Das waren ihre gebenedeiten Hände, ausgestreckt nach ihm, ein stummes Schreien: Hilf mir!
Dann war das Ganze rückwärts weggerissen, verschluckt von der Schwärze des Raumes hinter ihm, spurlos verschwunden, wie niemals gewesen. Stumm, tot und böse lag das Haus des Magiers da.
Freder stand unbeweglich. Er holte tief, tief Atem. Dann tat er einen Sprung. Er stand vor der Tür des Hauses.
Kupferrot glühte im schwarzen Holz der Tür das Siegel Salomonis, das Pentagramm.
Freder pochte.
Im Haus rührte sich nichts.
Er pochte zum zweiten Male.
Das Haus blieb stumm und verstockt.
Er trat zurück und sah zu den Fenstern empor.
Sie blickten in böser Trübheit über ihn fort.
Er sprang von neuem zur Tür. Er schlug mit den Fäusten dagegen. Er hörte das Echo seiner taumelnden Schläge gleich einem dumpfen Gelächter das Haus erschüttern.
Aber das kupferne Siegel Salomonis grinste ihn an von der unerschütterten Tür.
Er stand für Sekunden still. Seine Schläfen dröhnten. In einem Gefühl der äußersten Hilflosigkeit war er dem Weinen wie dem Fluchen gleich nahe.
Da hörte er eine Stimme, die Stimme seiner Geliebten: »Freder!« Und abermals: »Freder!«
Er sah Blut vor den Augen. Er wollte sich mit der vollen Wucht seiner Schultern gegen die Tür werfen …
Aber im selben Augenblick tat die Tür sich lautlos auf. Sie schwang rückwärts in gespenstischer Stille und gab den Weg ins Haus vollkommen preis.
Das war so unerwartet und so verstörend, daß Freder mitten im Schwung, der ihn gegen die Tür warf, beide Hände gegen die Pfosten stemmte und angeklammert stand. Er hatte die Zähne in die Lippen gegraben. Schwarz wie die Mitternacht war das Herz des Hauses …
Aber die Stimme Marias rief nach ihm aus dem Herzen des Hauses: »Freder!«
Er lief in das Haus hinein wie blind geworden. Die Tür fiel hinter ihm zu. Er stand in Schwärze. Er rief. Er bekam keine Antwort. Er sah nichts. Er tappte. Er fühlte Mauern, endlose Mauern. Treppenstufen. Er klomm die Stufen hinauf …
Eine bleiche Röte schwamm um ihn her wie der Widerschein eines fernen, düsteren Feuers.
Plötzlich – er blieb stehen und krallte die Hand ins Gestein hinter sich – kam ein Laut aus dem Nichts: das Weinen einer zu Tode betrübten Frau.
Es klang nicht laut, und dennoch war es, als strömte aus ihm der Ursprung aller Klage. Es war, als weinte das Haus, als sei jeder Stein der Mauer ein schluchzender Mund, aus ewiger Stummheit erlöst, um einmal ein einziges Mal ewige Qual zu klagen.
Freder schrie – er war sich bewußt, daß er nur schrie, um das Weinen nicht mehr zu hören: »Maria – Maria!«
Seine Stimme war hell und wild wie ein Schwur: Ich komme!
Er rannte die Treppen hinauf. Er kam ans Ende der Treppe. Ein Gang, kaum erhellt. Zwölf Türen mündeten da.
Im Holz einer jeden Tür glühte kupferrot das Siegel Salomonis, das Pentagramm.
Er sprang auf die erste zu. Noch ehe er sie berührte, schwang sie weit und lautlos vor ihm auf. Leere war hinter ihr. Ein kahler Raum. Die zweite Tür. Dasselbe.
Die dritte. Die vierte. Sie schwangen alle vor ihm auf, als bliese sein Atem sie aus den Schlössern.
Freder stand still. Er schob den Kopf in die Schultern. Er hob den Arm und drückte ihn über die Stirn. Er sah sich um. Die offenen Türen klafften. Das traurige Weinen verstummte. Es wurde ganz still.
Doch aus der Stille kam eine Stimme, leise, süß und zärtlicher als ein Kuß: »Komm doch! Komm doch! Ich bin ja hier, mein Lieb …«
Freder rührte sich nicht. Er kannte die Stimme genau. Es war die Stimme Marias, die er liebte. Und doch war es eine fremde Stimme. Nichts auf der Welt konnte süßer sein als der Ton dieses letzten Lockens, und nichts auf der Welt war so bis zum Überströmen erfüllt mit einer dunklen, tödlichen Verruchtheit.
Freder fühlte die Tropfen auf seiner Stirn.
»Wer bist du?« fragte er tonlos.
»Kennst du mich nicht?«
»Du bist nicht Maria …«
»Freder!« klagte die Stimme, Marias Stimme.
»Willst du, daß ich den Verstand verliere?« fragte Freder zwischen den Zähnen. »Warum kommst du nicht zu mir?«
»Ich kann ja nicht kommen, Liebster …«
»Wo bist du?«
»Such mich!« sagte die süß lockende, die tödlich verruchte Stimme und lachte leise.
Aber mitten in das Lachen hinein klang eine andere Stimme – und war auch Marias Stimme, krank vor Furcht und Grauen:
»Freder! Hilf mir, Freder! Ich weiß nicht, was mit mir geschieht … Aber was geschieht, ist schlimmer als Mord. Meine Augen sind an …«
Jäh, wie zerschnitten, erstickte die Stimme. Aber die andere, die auch Marias Stimme war, lachte süß lockend weiter: »Such mich, Liebster!«
Freder begann zu laufen. Sinn- und verstandlos begann er zu laufen. An Wänden hin, an offenen Türen vorbei, Treppen hinauf, hinunter, aus Dämmerungen in Dunkelheiten, von jäh aufflammenden Lichtkegeln angezogen, geblendet, und wieder in Höllenfinsternis getaucht. Er lief wie ein blindes Tier, stöhnend, außer sich. Er merkte, daß er im Kreis lief, immer auf seiner eigenen Spur, aber er kam nicht los davon, kam nicht heraus aus dem verfluchten Kreis. Er lief in dem purpurnen Nebel seines eigenen Blutes, das ihm die Augen und die Ohren füllte, und hörte die Sturzwelle seines Blutes gegen das Hirn branden und hörte doch darüber wie Vogelsingen das süße, tödlich verruchte Lachen Marias:
»Suche mich, Liebster! Ich bin hier! Ich bin hier …«
Endlich fiel er. Seine Knie taumelten in der Dunkelheit gegen irgend etwas, das ihrer Blindheit im Wege war; er stolperte und fiel. Er fühlte Steine unter seinen Händen, kühle, harte Steine, ebenmäßig gequadert. Sein ganzer Körper ruhte, zerschlagen, gefoltert, auf dieser kühlen Hälfte von Quadersteinen. Er wälzte sich auf den Rücken. Er stemmte sich hoch, brach wieder zusammen und lag am Boden. Eine erstickende Decke senkte sich nieder. Sein Bewußtsein sackte weg, wie ersäuft …
Rotwang hatte ihn stürzen sehen. Er wartete, sachlich und wachsam, ob dieser junge Wilde, der Sohn Joh Fredersens und der Hel, nun endlich genug habe, oder ob er sich noch einmal aufraffen würde zum Kampf gegen nichts.
Aber es schien, er hatte genug. Er lag bemerkenswert still. Er atmete nicht einmal mehr. Er glich einem Toten.
Der große Erfinder verließ seinen Horcherposten. Auf lautlosen Schuhen durchschritt er das dunkle Haus. Er öffnete eine Tür und trat in den Raum. Er schloß die Tür und blieb an der Schwelle stehen. Mit einer Erwartung, die wußte, wie sinnlos sie war, sah er das Mädchen an, das den Raum bewohnte.
Er fand sie so, wie er sie immer fand. Im fernsten Winkel des Raumes, im hohen, schmalen Stuhl, die Hände rechts und links auf die Lehnen gelegt, steil aufgerichtet, mit Augen, die lidlos schienen. Nichts an ihr lebt außer diesen Augen. Der blasse Mund, noch herrlich in seiner Blässe, schien das Unsägliche in sich zu verschließen. Sie sah den Mann nicht an, sie sah über ihn fort.
Rotwang beugte sich vor. Er kam ihr nicht näher. Nur seine Hände, seine einsamen Hände tasteten durch die Luft, als wollten sie das Antlitz Marias umschließen. Seine Augen, seine einsamen Augen hüllten das Antlitz der Maria ein.
»Willst du nicht einmal lächeln?« fragte er. »Willst du nicht einmal weinen? Ich brauche beides, dein Lächeln und dein Weinen. So wie du jetzt bist, Maria, ist dein Bild in meine Netzhaut eingebrannt, unverlierbar. Ich könnte eine Meisterprüfung machen in deinem Abscheu und in deiner Starrheit. Der bittere Zug der Verachtung um deinen Mund ist mir ebenso vertraut wie der Hochmut deiner Brauen und deiner Schläfen. Aber ich brauche dein Lächeln und Weinen, Maria. Oder du machst mich zum Stümper an meinem Werk.«
Er schien zu der tauben Luft gesprochen zu haben. Stumm saß das Mädchen und blickte über ihn fort.
Rotwang nahm einen Stuhl; er setzte sich rittlings darauf, kreuzte die Arme über der Lehne und sah das Mädchen an. Er lächelte trübe.
»Ihr armen Kinder beide!« sagte er. »Daß ihr den Kampf mit Joh Fredersen gewagt habt! Dir kann man keinen Vorwurf daraus machen; du kennst ihn nicht und weißt nicht, was du tust. Aber der Sohn sollte seinen Vater kennen. Ich glaube nicht, daß es einen Menschen gibt, der sich rühmen könnte, Joh Fredersen besiegt zu haben. Ihr könntet leichter den unerforschlichen Gott, von dem es heißt, daß er die Welt regiere, nach eurem Willen beugen als Joh Fredersen.«
Das Mädchen saß wie ein Steinbild, unbeweglich.
»Was wirst du tun, Maria, wenn Joh Fredersen dich und deine Liebe so ernst nimmt, daß er zu dir kommt und sagt: ›Gib mir den Sohn zurück.‹?«
Das Mädchen saß wie ein Steinbild, unbeweglich.
»Er wird dich fragen: ›Was ist mein Sohn dir wert?‹ Und wenn du klug bist, gibst du ihm zur Antwort: ›Nicht mehr noch weniger, als er dir wert ist.‹ Er wird den Preis bezahlen, und das wird ein hoher Preis sein, denn Joh Fredersen hat nur einen Sohn.«
Das Mädchen saß wie ein Steinbild, unbeweglich.
»Was weißt du vom Herzen Freders?« fuhr der Mann fort. »Er ist jung wie der Morgen bei Sonnenaufgang. Dies morgenjunge Herz ist dein. Wo wird es am Mittag sein? Und wo am Abend? Weit fort von dir, Maria, weit, weit fort. Die Welt ist sehr groß und die Erde sehr schön. Sein Vater wird ihn rund um die Erde schicken. Über der schönen Erde wird er dich vergessen, bevor noch die Uhr seines Herzens auf Mittag steht.«
Das Mädchen saß wie ein Steinbild, unbeweglich. Aber um seinen blassen Mund, der einer Knospe der Schneerose glich, begann ein Lächeln aufzublühen, ein Lächeln von solcher Süße, solcher Tiefe, daß es schien, als sollte die Luft um das Mädchen her zu strahlen beginnen.
Der Mann sah das Mädchen an. Seine einsamen Augen waren verhungert und ausgedörrt wie die Wüste, die Tau nicht kennt. Mit einer heiseren Stimme sprach er weiter:
»Woher nimmst du deine heilige Zuversicht? Glaubst du, die erste zu sein, die Freder liebt? Hast du den ›Klub der Söhne‹ vergessen, Maria? Dort sind hundert Frauen – und alle sind sein. Diese kleinen, zärtlichen Frauen alle könnten dir von der Liebe Freders erzählen, denn sie wissen mehr davon als du, und du hast vor ihnen nur eines voraus: daß du weinen kannst, wenn er dich verläßt; denn das Weinen ist ihnen verboten worden. Wenn der Sohn Joh Fredersens Hochzeit hält, wird es sein, als hielte Metropolis Hochzeit. Wann? Das wird Joh Fredersen bestimmen. Mit wem? Das wird Joh Fredersen bestimmen. Aber du bist nicht die Braut, Maria! Am Tag seiner Hochzeit hat dich der Sohn Joh Fredersens vergessen.«
»Niemals!« sagte das Mädchen.
Und die schmerzlosen Tränen einer großen, treuen Zärtlichkeit fielen auf die Schönheit ihres Lächelns.
Der Mann stand auf. Er blieb vor dem Mädchen stehen. Er sah es lange an. Er wandte sich ab. Als er über die Schwelle des nächsten Raumes schritt, fiel seine Schulter gegen den Pfosten der Tür.
Er warf die Tür ins Schloß. Er starrte geradeaus. Er sah auf das Wesen – sein Geschöpf aus Glas und Metall –, das, fast vollendet, den Kopf der Maria trug.
Seine Hände näherten sich dem Kopf, und je näher sie kamen, um so mehr hatte es den Anschein, als wollten diese Hände, diese einsamen Hände, nicht erschaffen, sondern zerstören.
»Stümper sind wir, Futura!« sagte er. »Stümper! Stümper! Kann ich dir das Lächeln geben, das die Engel mit Wollust in die Hölle stürzen läßt? Kann ich dir die Tränen geben, die den obersten Satan erlösen und seligsprechen würden? Parodie ist dein Name und Stümper der meine!«
In Glanz und Kälte strahlend stand das Wesen und sah seinen Schöpfer mit Augen des Rätsels an. Und als er die Hände auf seine Schulter legte, erklirrte ihr feiner Bau in geheimnisvollem Gelächter.
Als Freder wieder zu sich kam, war eine trübe Helle um ihn her. Die kam von einem Fenster, in dessen Rahmen ein blasser, grauer Himmel stand. Das Fenster war klein und erweckte den Eindruck, als sei es seit Jahrhunderten nicht geöffnet worden.
Freder ließ seine Augen durch den Raum wandern. Er begriff nichts, was er sah. Er erinnerte sich an nichts. Er lag mit dem Rücken auf Steinen, die kalt und glatt waren. Alle Glieder und Gelenke wurden von einem dumpfen Schmerz gepeinigt.
Er wandte den Kopf zur Seite. Er sah seine Hände an, die lagen seitwärts von ihm, wie nicht zu ihm gehörig, weggeworfen, entblutet.
Wundgeschlagene Knöchel, Hautfetzen, bräunliche Krusten … Waren das seine Hände?
Er starrte zur Decke auf. Die war schwarz, wie verbrannt. Er starrte die Mauern an; graukalte Mauern …
Wo war er? Durst quälte ihn und ein reißender Hunger. Aber schlimmer als Hunger und Durst war die Müdigkeit, die nach Schlafen lechzte und Schlaf nicht fand.
Maria fiel ihm ein.
Maria?
Er warf sich hoch und stand auf durchsägten Knöcheln. Seine Augen suchten nach Türen. Da war eine Tür. Er stolperte darauf zu. Die Tür war verschlossen, war klinkenlos, ließ sich nicht öffnen.
Sein Gehirn befahl: Wundere dich über nichts. Erschrick nicht. Überlege …
Da war ein Fenster. Das hatte keinen Rahmen. Es war eine Scheibe, in Steine eingefügt. Davor lag die Straße, eine der großen Straßen der großen Metropolis mit ihrem Gebrodel von Menschen.
Das Glas der Fensterscheibe mußte sehr stark sein. Nicht der leiseste Laut von der so nahen Straße drang in den Raum, in dem Freder gefangen war.
Freders Hände tasteten über die Scheibe. Eine durchdringende Kälte strömte von dem Glas aus, dessen Glätte an die saugende Schärfe einer Stahlklinge erinnerte. Freders Fingerspitzen glitten den Fugen nach, in denen die Scheibe ruhte.
Und blieben gekrümmt, wie verhext, in der Luft hängen. Er sah: Da unten ging Maria über die Straße.
Vom Hause herkommend, das ihn gefangen hielt, wandte sie ihm den Rücken zu und ging mit leichten, eiligen Schritten auf den Mahlstrom zu, den die Straße bildete.
Freders Fäuste schlugen gegen die Scheibe. Er schrie den Namen des Mädchens. Er brüllte: »Maria!« Sie mußte ihn hören. Es war unmöglich, daß sie ihn nicht hörte. Seiner wunden Knöchel nicht achtend, ließ er die Fäuste gegen die Scheibe toben.
Aber Maria hörte ihn nicht. Sie wandte den Kopf nicht zurück. Mit ihren sanften, aber eiligen Schritten tauchte sie in der Brandung aus Menschen unter wie in einem ihr sehr vertrauten Element.
Freder stürzte zur Tür. Mit ganzem Körper, mit Schultern und Knien, hämmerte er gegen die Tür. Er schrie nicht mehr. Sein Mund stand klaffend offen. Sein Atem brannte ihm die Lippen grau. Er sprang ans Fenster zurück. Da draußen, keine zehn Schritte von diesem Fenster entfernt, stand ein Polizist, das Gesicht nach dem Hause Rotwangs gewandt. Das Gesicht des Mannes war ganz gleichgültig. Nichts schien ihm ferner zu liegen, als das Haus des Magiers zu beobachten. Aber auch seinem stumpfesten Blick konnte der Mensch nicht entgehen, der sich in diesem Hause mit blutenden Fäusten abmühte, eine Fensterscheibe zu zertrümmern.
Freder hielt inne. Er stierte auf das Gesicht des Polizisten mit einem verständnislosen Haß, dessen Ursprung die Angst war, Zeit zu verlieren, wo keine Zeit zu verlieren war. Er wandte sich um, riß den klobigen Schemel hoch, der neben dem Tisch stand. Er rammte den Schemel mit voller Wucht gegen das Glas der Fensterscheibe. Der Prall stauchte ihn rückwärts. Die Scheibe war unverletzt.
Schluchzende Wut quoll in Freders Kehle auf. Er schwang den Schemel und schleuderte ihn gegen die Tür. Der Schemel krachte zu Boden. Freder sprang auf ihn los, riß ihn von neuem hoch und stieß und stieß in einem roten, blinden Vernichtungswillen wieder und wieder gegen die dröhnende Tür.
Weiß splitterte Holz. Wie ein lebendiges Wesen kreischte die Tür, und Freder ließ nicht ab. Im Rhythmus seines eigenen kochenden Blutes raste er gegen die Tür, bis sie zitternd zerbrach.
Freder drang durch die Bresche. Er lief durch das Haus. Seine verwilderten Augen suchten in jedem Winkel nach einem Feind und neuen Hindernissen. Aber er fand das eine nicht, noch das andere. Unangefochten erreichte er die Tür, fand sie offen und stürzte hinaus auf die Straße.
Er lief in der Richtung Marias. Aber die Menschenbrandung hatte sie weggespült. Sie war verschwunden.
Fünf Minuten stand Freder wie gelähmt zwischen den jagenden Menschen. Eine sinnlose Hoffnung nebelte sein Hirn ein: Vielleicht, vielleicht kam sie wieder. Wenn er geduldig war und lange genug wartete …
Aber der Dom fiel ihm ein: vergebliches Warten – ihre Stimme im Hause des Magiers – Worte der Angst – ihr süßes, verruchtes Lachen …
Nein, nicht warten, nicht warten. Er wollte wissen.
Mit zusammengebissenen Zähnen lief er.
Da war ein Haus in der Stadt, da wohnte Maria. Ewig weit der Weg. Was fragte er danach? Mit unbedecktem Kopf, mit wunden Händen, mit Augen, die irr erschienen vor Müdigkeit, lief er nach seinem Ziel: der Wohnung Marias.
Er wußte nicht, um wieviel kostbare Stunden ihm der Schmale zuvorgekommen war.
Er stand vor den Menschen, bei denen Maria wohnen sollte: ein Mann, ein Weib – Gesichter verprügelter Hunde. Das Weib übernahm die Antwort. Ihre Augen zuckten. Sie hielt die Hände unter die Schürze verkrampft.
Nein, hier wohnte kein Mädchen, das Maria hieß, hatte nie hier gewohnt …
Freder starrte die Frau an. Er glaubte ihr nicht. Sie mußte das Mädchen kennen. Es mußte hier wohnen.
Halbbetäubt vor Angst, daß diese letzte Hoffnung, Maria wiederzufinden, auch trügen konnte, schilderte er das Mädchen, wie um dem Gedächtnis dieser armen Narren zu Hilfe zu kommen.
Sie hatte blondes Haar. Sie hatte sanfte Augen. Sie hatte die Stimme einer zärtlichen Mutter. Sie trug ein strenges, aber schönes Kleid …
Der Mann verließ seinen Posten neben dem Weib und duckte sich seitwärts, den Kopf in die Schultern ziehend, als könnte er es nicht ertragen, zuzuhören, wie der fremde, junge Mensch da an der Tür von dem Mädchen sprach, das er suchte. Kopfschüttelnd, in böser Ungeduld, daß er zu Ende kommen möchte, wiederholte die Frau die gleichen dürren Worte: Das Mädchen wohnte nicht hier, ein für allemal … Ob es noch nicht bald genug sei mit dem Fragen?
Freder ging. Grußlos ging er. Er hörte, wie eine Tür schmetternd ins Schloß geworfen wurde. Stimmen entfernten sich zankend. Endlose Treppen brachten ihn wieder zur Straße.
Was nun?
Ratlos stand er. Er wußte nicht ein noch aus.
Auf den Tod erschöpft, vor Müdigkeit trunken, hörte er mit einem jähen Schauer, wie die Luft um ihn her sich erfüllte mit übermächtigem Laut.
Es war ein über alle Maßen herrlicher und hinreißender Laut, tief und dröhnend und gewaltiger als irgendein Laut in der Welt. Die Stimme des Ozeans, wenn er zornig ist, die Stimme von stürzenden Strömen, von sehr nahen Gewittern, wäre kläglich ertrunken in diesem Behemot-Laut. Er durchdrang, ohne grell zu sein, alle Mauern und alle Dinge, die, solange er währte, in ihm zu schwingen schienen. Er war allgegenwärtig, kam aus der Höhe und Tiefe, war schön und entsetzlich, war unwiderstehlich Befehl.
Er war hoch über der Stadt. Er war die Stimme der Stadt.
Metropolis erhob ihre Stimme. Die Maschinen von Metropolis brüllten: Sie wollten gefüttert sein.
Mein Vater, dachte Freder halb bewußtlos, hat den Druck seiner Finger auf die blaue Metallplatte gelegt. Das Hirn der großen Metropolis regelt das Leben der Stadt. Nichts in der großen Metropolis geschieht, wovon mein Vater nicht Kenntnis gewänne. Ich werde zu meinem Vater gehen und ihn fragen, ob der Erfinder Rotwang mit Maria und mit mir im Namen von Joh Fredersen gespielt hat …
Er wandte sich, um den Weg nach dem Neuen Turm Babel zu suchen. Er ging mit der Hartnäckigkeit eines Besessenen, mit verkrampften Lippen, scharfe Falten zwischen den Brauen, die Fäuste geballt an den willenlos schlenkernden Armen. Er ging, als wollte er den Steingrund unter sich zerstampfen. Es schien, als hätte sich jeder Tropfen Blutes aus seinem Gesicht allein in den Augen gesammelt. Er lief und hatte auf seinem endlosen Weg bei jedem Schritt das Gefühl: Das bin nicht ich, der da läuft. Ich laufe als Gespenst neben meinem eigenen Selbst her. Ich, das Gespenst, zwinge meinen Körper, vorwärts zu laufen, obwohl er erschöpft auf den Tod ist …
Die Blicke der Menschen, die ihn anstarrten, als er zum Neuen Turm Babel kam, schienen nicht ihn, nur ein Gespenst zu sehen.
Er wollte das Paternoster-Werk betreten, das als ein Menschenschöpfrad den Neuen Turm Babel durchpumpte. Aber ein plötzlicher Schauer stieß ihn davon weg. Hockte nicht unten, tief unter der Sohle des Neuen Turms Babel, eine kleine, gleißende Maschine, die Ganescha glich, dem Gott mit dem Elefantenkopf? Unter dem hockenden Körper, dem Kopf, der zur Brust geduckt war, stemmten gekrümmte Beine sich gnomenhaft gegen die Plattform. Unbeweglich waren der Rumpf, die Beine. Aber die kurzen Arme stießen und stießen wechselseitig nach vorn, zurück, nach vorn.
Wer stand jetzt vor der Maschine und fluchte das Vaterunser, das Vaterunser der Paternoster-Maschine?
Frierend vor Grauen lief er die Treppe hinauf.
Treppen und immer Treppen … Das nahm und nahm kein Ende … Die Stirn des Neuen Turms Babel hob sich sehr nahe zum Himmel. Es brauste der Turm wie ein Meer. Er heulte tief wie der Sturm. Es dröhnte in seinen Adern der Sturz eines Wasserfalls.
»Wo ist mein Vater?« fragte Freder die Diener.
Sie wiesen auf eine Tür. Sie wollten ihn melden. Er schüttelte den Kopf. Er grübelte: Was sahen ihn diese Menschen so sonderbar an?
Er öffnete eine Tür. Der Raum war leer. Jenseits eine zweite Tür, nur angelehnt. Dahinter Stimmen. Die Stimme seines Vaters und eine andere …
Freder stand plötzlich still. Seine Füße schienen an den Boden genagelt. Sein Oberkörper neigte sich steif nach vorn. An willenlosen Armen baumelten die Fäuste, die nicht mehr die Möglichkeit zu haben schienen, sich aus dem eigenen Krampf zu lösen. Er horchte, im weißen Gesicht die Augen voll Blut und die Lippen offen, als formten sie einen Schrei.
Dann riß er die tauben Füße vom Boden los, stolperte auf die Tür zu, stieß sie auf …
Mitten im Raum, der voll schneidender Helle war, stand Joh Fredersen und hielt eine Frau in den Armen. Und die Frau war Maria. Sie wehrte sich nicht. Weit zurückgebeugt im Arm des Mannes, bot sie ihm ihren Mund, ihren lockenden Mund, dieses tödliche Lachen …
»Du!« schrie Freder.
Er sprang auf das Mädchen los. Er sah seinen Vater nicht. Er sah nur das Mädchen, nein, auch das Mädchen nicht, nur ihren Mund – nur ihren Mund und ihr süßes verruchtes Lachen.
Joh Fredersen wandte sich breit und drohend um. Er ließ das Mädchen los. Er deckte es mit der Wucht seiner Schultern, mit dem mächtigen Schädel, der, blutdurchflammt, die starken Zähne wies und die unbesieglichen Augen.
Aber Freder sah seinen Vater nicht. Er sah nur ein Hindernis zwischen sich und dem Mädchen.
Er rannte das Hindernis an. Das stieß ihn zurück. Scharlachner Haß gegen das Hindernis machte ihn röcheln. Seine Augen flogen umher. Sie suchten ein Werkzeug, ein Werkzeug, das sich als Sturmbock brauchen ließ. Er fand keins. Da warf er sich selbst wie ein Sturmbock vor. Seine Finger krallten in Stoff. Er biß in den Stoff. Er hörte sein eigenes Atmen wie ein Pfeifen, ganz hoch, ganz still.
Und doch war in ihm nur ein Laut, nur ein Rufen: »Maria!« Stöhnend, beschwörend: »Maria!«
Aus Träumen der Hölle schreit kein Mensch gefolterter als er.
Und immer noch zwischen ihm und dem Mädchen der Mann, der Felsblock, das Hindernis, lebendige Mauer …
Er warf seine Hände vor. Ah … Da war ein Hals! Er packte den Hals. Wie Fangeisen schnappten seine Finger zu.
»Warum wehrst du dich nicht?« schrie er und stierte den Mann an. »Ich will dich töten, du! Ich will dich umbringen! Ich will dich ermorden!«
Aber der Mann vor ihm hielt seinem Würgen stand. Von der Raserei Freders hin und her gerissen, beugte sein Körper sich bald nach rechts, bald nach links. Und sooft dies geschah, sah Freder wie durch einen dünnziehenden Nebel das lächelnde Antlitz der Maria, die, am Tisch lehnend, dem Kampf zwischen Vater und Sohn aus Meerwasseraugen zusah.
Seines Vaters Stimme sagte: »Freder …«
Er sah dem Mann ins Gesicht. Er sah seinen Vater. Er sah die Hände, die den Hals seines Vaters umkrallten. Es waren seine, waren die Hände des Sohnes.
Seine Hände lösten sich wie abgeschnitten. Und er starrte auf seine Hände und stammelte etwas, das halb wie Verwünschung klang und halb wie das Weinen eines Kindes, das sich allein auf der Welt glaubt.
Die Stimme seines Vaters sagte: »Freder …«
Er fiel auf die Knie. Er streckte die Arme aus. Sein Kopf fiel vornüber in die Hände des Vaters. Er brach in Tränen aus, in verzweifeltes Schluchzen.
Eine Tür glitt ins Schloß.
Er warf den Kopf herum. Er sprang auf die Füße. Er jagte die Augen durchs Zimmer …
»Wer?«
»Sie, die hier war –«
»Niemand war hier, Freder.«
Die Augen des Jungen verglasten sich.
»Was sagst du?« stammelte er.
»Hier war kein Mensch, Freder, außer dir und mir.«
Freder drehte den Kopf in den Nackenwirbeln. Er zerrte das Hemd vom Hals. Er sah in die Augen seines Vaters wie in Brunnenschächte.
»Du sagst, kein Mensch war hier? Ich habe dich nicht gesehen, wie du Maria in deinen Armen hieltest? Ich habe geträumt? Ich bin verrückt, nicht wahr?«
»Ich gebe dir mein Wort«, sagte Joh Fredersen, »hier war, als du zu mir kamst, weder eine Frau noch sonst ein anderer Mensch.«
Freder blieb stumm. Seine ganz verstörten Augen suchten noch immer an allen Wänden entlang.
»Du bist krank, Freder«, sagte die Stimme seines Vaters.
Freder lächelte. Dann fing er zu lachen an. Er warf sich in einen Stuhl und lachte und lachte. Er krümmte sich, beide Ellbogen auf die Knie stemmend und den Kopf zwischen Hände und Arme wühlend. Er beugte sich hin und her und schrie vor Lachen.
Joh Fredersens Augen waren über ihm.