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»Freder?« fragte die leise Marienstimme.
»Ja, du Geliebte! Sprich zu mir!«
»Wo sind wir?«
»Im Dom.«
»Ist es Tag oder Nacht?«
»Es ist Tag.«
»War nicht dein Vater eben noch bei uns?«
»Ja, Geliebte.«
»Seine Hand war auf meinem Haar?«
»Das hast du gefühlt?«
»Ach, Freder, mir war, während dein Vater hier stand, als hörte ich eine Quelle in einem Felsen rauschen. Eine Quelle mit salzschwerem Wasser und rot von Blut. Aber ich wußte auch: Wenn die Quelle stark genug ist, daß sie den Felsen durchbricht, dann wird sie süßer sein als Tau und weißer als das Licht.«
»Sei gesegnet für deinen Glauben, Maria.«
Sie lächelte. Sie verstummte.
»Warum tust du mir deine Augen nicht auf, Geliebte?« fragte Freders sehnsüchtiger Mund.
»Ich sehe«, antwortete sie. »Ich sehe, Freder. Ich sehe eine Stadt, die im Licht liegt.«
»Soll ich sie bauen?«
»Nein, Freder. Nicht du. Dein Vater.«
»Mein Vater?«
»Ja.«
»Früher, Maria, war nicht dieser Klang von Liebe in deiner Stimme, wenn du von meinem Vater sprachst.«
»Seitdem ist viel geschehen, Freder. Seitdem ist in einem Felsen eine Quelle lebendig geworden, schwer von Tränen und rot von Blut. Seitdem ist das Haar Joh Fredersens weiß geworden vor tödlicher Angst um seinen Sohn. Seitdem sind die, die ich meine Brüder nannte, schuldig geworden aus übergroßem Leid. Seitdem ist Joh Fredersen voll Leid geworden aus übergroßer Schuld. Willst du es beiden nicht gönnen, Freder – deinem Vater wie meinen Brüdern –, daß sie ihre Schuld begleichen und entsühnt werden und versöhnt?«
»Ja, Maria.«
»Willst du ihnen helfen, Mittler du?«
»Ja, Maria.«
Sie schlug die Augen auf und wandte ihm das sanfte Wunder ihrer Bläue zu. Tief über sie gebeugt, sah er mit frommem Staunen, wie sich in ihren zärtlichen Marienaugen das bunte Himmelreich der Heiligenlegenden spiegelte, das aus den schmalen, hohen Kirchenfenstern auf sie niederschaute.
Unwillkürlich hob er den Blick und wurde sich jetzt erst bewußt, wohin er das Mädchen, das er liebte, getragen hatte.
»Gott sieht uns an!« flüsterte er und nahm sie höher an sein Herz mit liebenden Armen. »Gott lächelt uns an, Maria.«
»Amen«, sagte das Mädchen an seinem Herzen.