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3

Der Mann, der Joh Fredersens Erster Sekretär gewesen war, stand in einer Zelle des Paternoster-Werkes, das den Neuen Turm Babel als nie stillstehendes Schöpfrad durchschnitt – mit dem Rücken gegen die Holzwand gelehnt, machte er die Reise durch das weiße, sausende Haus von der Höhe der Kuppe zur Tiefe des Kellerraumes und wieder zur Höhe der Kuppe zum dreißigsten Male – und rührte sich nicht vom Fleck.

Menschen, gierig nach dem Gewinn von Sekunden, stürzten zu ihm herein und, Stockwerke höher, tiefer wieder hinaus. Keiner achtete seiner. Der eine, die andere erkannte ihn wohl. Aber noch deutete niemand die Tropfen an seinen Schläfen anders als gleiche Gier nach dem Gewinn von Sekunden. Gut, er wollte warten, bis man es besser wußte, bis man ihn packte und aus der Zelle stieß: Was nimmst du uns den Platz weg, Lump, der du Zeit hast? Krieche die Treppen hinunter oder die Feuerleitern …

Mit klaffendem Munde lehnte er da und wartete.

Jetzt, wieder aus der Tiefe tauchend, sah er mit seinen verstumpften Augen in den Raum hinein, der die Tür Joh Fredersens bewachte, und sah vor dieser Tür den Sohn Joh Fredersens stehen. Für den Bruchteil einer Minute starrten sie sich in die überschatteten Gesichter, aus denen die Blicke beider wie Notsignale von sehr verschiedener, aber gleich starker Not vorbrachen. Dann trieb das gleichgültige Pumpwerk den Mann in der Zelle aufwärts in die vollkommene Schwärze der Turmdecke, und als er, von neuem niedertauchend, wieder sichtbar wurde auf dem Wege nach unten, stand der Sohn Joh Fredersens vor der Öffnung der Zelle und mit einem Schritt bei dem Mann, dessen Rücken an die Holzwand genagelt schien.

»Wie heißen Sie?« fragte er leise.

Ein Zögern im Atemholen, und die Antwort, die wie ein Aufhorchen war: »Josaphat …«

»Was wollen Sie nun anfangen, Josaphat?«

Sie sanken, sie sanken. Als sie die große Halle durchschritten, von der die Riesenfenster breit nach der Straße der Brücken prahlten, sah Freder, die Augen wendend, im Schwarz des Himmels, halb schon verlöschend, das triefende Wort: Yoshiwara …

Er sprach, als strecke er beide Hände aus, und auch, als schließe er seine Augen beim Sprechen:

»Wollen Sie zu mir kommen, Josaphat?«

Eine Hand flatterte auf wie ein gescheuchter Vogel.

»Ich?« stöhnte der fremde Mensch.

»Ja, Josaphat!«

Die junge Stimme, die so voll Güte war …

Sie sanken, sie sanken. Helle – Dunkel – Helle – wieder Dunkel.

»Wollen Sie zu mir kommen, Josaphat?«

»Ja!«, sagte der fremde Mensch. Mit einer Inbrunst ohnegleichen: »Ja!«

Helle tauchte auf. Freder packte den Mann am Arm, riß ihn mit sich hinaus aus dem großen Pumpwerk des Neuen Turms Babel, hielt ihn, der unter dem Ruck wankte, fest.

»Wo wohnen Sie, Josaphat?«

»Neunzigster Block, Haus sieben, siebenter Stock.«

»Dann gehen Sie heim, Josaphat. Vielleicht komme ich selbst zu Ihnen, vielleicht schicke ich Ihnen einen Boten, der Sie zu mir holt. Ich weiß noch nicht, was in den nächsten Stunden sein wird … Aber ich will nicht, daß irgendein Mensch, den ich kenne und bei dem ich es verhindern kann, eine Nacht lang liegt und gegen die Decke starrt, bis sie auf ihn herabzukrachen scheint.«

»Was kann ich tun für Sie?« fragte der Mann.

Freder spürte den schraubenden Druck einer Hand. Er lächelte. Er schüttelte den Kopf.

»Nichts. Gehen Sie heim. Warten Sie. Seien Sie ruhig. Morgen ist wieder ein Tag. Und ich glaube, ein schöner.«

Der Mann löste die Hand und ging. Freder sah ihm nach. Der Mann blieb stehen und blickte auf Freder zurück. Ohne ihm näherzukommen, senkte er Nacken und Kopf mit einem Ausdruck des Ernstes und der Bedingungslosigkeit, daß auf dem Munde Freders das Lächeln erlosch.

»Ja«, sagte er. »Ich nehme dich an, du Mensch!«

In seinem Rücken summte das Paternoster-Werk. Die Zellen – Schöpfeimer – faßten Menschen und gossen sie wieder aus. Aber der Sohn Joh Fredersens sah sie nicht. Unter all den Jägern nach dem Gewinn von Sekunden war er der einzige Stille und horchte nur, wie der Neue Turm Babel in Schwingungen dröhnte. Ihm schien das Dröhnen wie Klang einer Glocke vom Dom – wie die Erzstimme des Erzengels Michael. Aber hoch und süß schwebte ein Singen darüber. In diesem Singen frohlockte sein junges Herz.

»Hab' ich zum ersten Male in deinem Sinne gehandelt, du große Mittlerin – Mitleid du?« fragte er in das Dröhnen der Glockenstimme.

Doch er bekam keine Antwort.

Da ging er den Weg, den er gehen wollte, um eine Antwort zu finden.

Während der Schmale die Wohnung Freders betrat, um die Diener nach ihrem Herrn zu fragen, ging der Sohn Joh Fredersens die Treppen hinab, die in den Unterbau des Neuen Turms Babel führten. Während die Diener dem Schmalen kopfschüttelnd sagten, daß ihr Herr noch nicht heimgekommen sei, ging der Sohn Joh Fredersens leuchtenden Pfeilen nach, die ihm die Richtung wiesen. Während der Schmale mit einem Blick auf die Uhr sich zum Warten entschloß, zu vorläufigem Warten, schon beunruhigt, schon Möglichkeiten erwägend und wie ihnen zu begegnen sei –, trat der Sohn Joh Fredersens in den Raum, aus dem der Neue Turm Babel die Energien des eigenen Bedarfes schöpfte.

Er hatte lange gezögert, bevor er die Tür aufstieß. Denn hinter dieser Tür war unheimliches Leben lebendig. Es heulte. Es keuchte. Es pfiff. Es stöhnte der ganze Bau. Ein unablässiges Zittern durchrieselte Mauern und Boden. Und zwischen all dem war kein menschlicher Laut. Nur die Dinge brüllten und die wesenlose Luft. Wenn Menschen in diesem Raum jenseits der Tür lebten, dann hatten sie ohnmächtige und versiegelte Lippen. Aber um dieser Menschen willen war Freder gekommen.

Er stieß die Tür auf und beugte sich rückwärts, erstickt. Eine kochende Luft schlug ihm entgegen, tastete ihm nach den Augen, daß er nichts sah. Allmählich nur wurde er Herr seiner Blicke.

Der Raum war schwach erhellt, und die Decke, die aussah, als könnte sie das Gesamtgewicht des Erdballs tragen, schien in bewegter Luft ständig nach unten zu stürzen.

Ein leises Heulen machte das Atmen schwer erträglich. Es war, als tränke der Atem das Heulen mit.

Aus Mäulern von Röhren quoll die zur Tiefe gestampfte Luft, die schon verbraucht aus den Lungen der großen Metropolis kam. Durch den Raum geschleudert, wurde sie von den Mäulern jenseitiger Röhren gierig zurückgesaugt.

Mitten im Raum hockte die Paternoster-Maschine. Sie glich Ganescha, dem Gott mit dem Elefantenkopf. Sie glänzte von Öl. Sie hatte gleißende Glieder. Unter dem hockenden Körper, dem Kopf, der zur Brust geduckt war, stemmten gekrümmte Beine sich gnomhaft gegen die Plattform. Unbeweglich waren der Rumpf, die Beine. Aber die kurzen Arme stießen und stießen und stießen wechselseitig nach vorn, zurück, nach vorn. Ein feines, spitzes Licht funkelte auf dem Spiel der zarten Gelenke. Der Boden, der Stein war, fugenlos, zitterte unter den Stößen der kleinen Maschine, die kleiner war als ein fünfjähriges Kind.

Glut spie von den Mauern, in denen die Öfen kochten. Der Geruch des Öls, das vor Hitze pfiff, hing als dicker Schwaden schichtweise im Raum. Selbst die wilde Jagd der wandernden Luftmassen riß den stickigen Dunst des Öles nicht auf. Selbst das Wasser, das den Raum durchsprühte, kämpfte einen aussichtslosen Kampf gegen die Wut der hitzespeienden Mauern und verdampfte schon, öldunstgesättigt, bevor es die Haut der Menschen in dieser Hölle vor dem Geröstetwerden bewahren konnte.

Menschen glitten als schwimmende Schatten vorbei. Ihre Bewegungen, ihr unhörbares Sichvorüberschieben hatte das schwere Gespenstertum von Tiefseetauchern. Ihre Augen standen offen, als schlössen sie sich nie.

Neben der kleinen Maschine inmitten des Raumes stand ein Mann, der trug die Tracht der Arbeiter aller von Metropolis: vom Hals zu den Knöcheln das dunkelblaue Leinen, an den nackten Füßen die harten Schuhe, straff das Haar umschließend die schwarze Kappe. Der gejagte Strom der wandernden Luft spülte um seine Gestalt und machte die Falten der Leinwand flattern. Der Mann hielt die Hand am Hebel und hielt die Blicke auf eine Uhr geklebt, deren Zeiger wie Magnetnadeln bebten.

Freder tastete sich zu dem Mann hin. Er starrte ihn an. Er konnte sein Gesicht nicht sehen. Wie alt war der Mann? Tausend Jahre? Oder noch keine zwanzig? Er sprach vor sich hin mit plappernden Lippen. Was schwatzte der Mann? Und hatte der Mann auch das Gesicht von Joh Fredersens Sohn?

»Sieh mich an, du!« sagte Freder, sich vorbeugend.

Aber die Blicke des Mannes ließen nicht von der Uhr. Ständig fieberte seine Hand am Hebel. Seine Lippen schwatzten und schwatzten gehetzt.

Freder lauschte. Er fing die Worte auf. Fetzen von Worten, im Luftstrom zerrissen.

»Pater noster … das heißt: Vater unser! … Vater unser, der du bist im Himmel! Wir sind in der Hölle, Vater unser! … Geheiligt werde dein Name! … Wie ist dein Name? Heißest du Pater noster, Vater unser? Oder Joh Fredersen? Oder Maschine? … Sei uns geheiligt, Maschine, Pater noster! … Dein Reich komme … Dein Reich komme, Maschine … Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden … Was ist dein Wille mit uns, Maschine, Pater noster? Bist du auch im Himmel, wie du auf Erden bist? … Vater unser, der du bist im Himmel, werden wir, wenn du uns in den Himmel rufst, dort die Maschinen deiner Welt bewachen – die großen Räder, die deinen Kreaturen die Glieder zerbrechen – die großen Schwungräder, an denen sich deine schönen Sterne drehen – das große Karussell, das Erde heißt? … Dein Wille geschehe, Pater noster! … Unser täglich Brot gib uns heute … Mahle, Maschine, Mehl für unser Brot! Aus dem Mehl unsrer Knochen wird uns das Brot gebacken … Und vergib uns unsre Schuld … Welche Schuld, Pater noster? Die Schuld, ein Hirn zu haben und ein Herz, das du nicht hast, Maschine …? Und führe uns nicht in Versuchung … Führe uns nicht in Versuchung, gegen dich aufzustehen, Maschine, denn du bist stärker als wir, du bist tausendmal stärker, und du bist immer im Recht, wir sind immer im Unrecht, weil wir schwächer sind als du bist, Maschine … Sondern erlöse uns von dem Übel, Maschine … Erlöse uns von dir, Maschine … Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen … Pater noster, das heißt: Vater unser … Vater unser, der du bist im Himmel …«

Freder rührte den Arm des Mannes an. Der Mann fuhr zusammen, verstummte.

Seine Hand löste sich von dem Hebel und prallte in die Luft wie ein Vogel, der einen Schuß bekommen hat. Der Mund des Mannes schien im Krampf zu klaffen. Eine Sekunde lang war in dem steifen Gesicht das Weiße der Augen schreckhaft sichtbar. Dann fiel der Mann zusammen wie ein Tuch, und Freders Arme fingen ihn auf.

Freder hielt ihn fest. Er sah sich um. Niemand achtete auf ihn und den andern. Schwaden von Dampf und Dunst waren um sie wie Nebel. Eine Tür war nahe. Freder trug den Mann, stieß die Tür auf. Sie führte zur Werkzeugkammer. Eine Kiste bot einen harten Sitz. Freder ließ den Mann darauf niedergleiten.

Stumpfe Augen hoben sich zu ihm auf. Das Gesicht, zu dem sie gehörten, war fast noch das eines Knaben.

»Wie heißt du?« fragte Freder.

»11 811.«

»Ich will wissen, wie deine Mutter dich nannte.«

»Georgi.«

»Georgi, kennst du mich?«

In die stumpfen Augen kam das Bewußtsein zurück und das Erkennen.

»Ja, ich kenne dich. Du bist der Sohn von Joh Fredersen … von Joh Fredersen, der unser aller Vater ist …«

»Ja. Darum bin ich dein Bruder, Georgi, hörst du? Ich habe dein Vaterunser gehört.«

Mit einem Schwung warf sich der Körper hoch.

»Die Maschine!« Er sprang auf die Füße. »Meine Maschine!«

»Laß sie, Georgi, und hör mir zu.«

»Es muß ein Mensch an der Maschine sein!«

»Es wird ein Mensch an der Maschine sein; aber nicht du.«

»Wer sonst?«

»Ich.«

Starrende Augen als Antwort.

»Ich«, wiederholte Freder. »Bist du imstande, mir zuzuhören, und wirst du dir merken können, was ich dir sage? Es ist sehr wichtig, Georgi!«

»Ja«, sagte Georgi gelähmt.

»Wir werden jetzt unsere Leben tauschen, Georgi. Du nimmst das meine, ich das deine. Ich nehme deinen Platz an der Maschine. In meinen Kleidern gehst du ruhig fort. Man hat mich nicht bemerkt, als ich hierher kam. Man wird dich nicht bemerken, wenn du fortgehst. Du mußt nur die Nerven bewahren und ruhig bleiben. Und halte dich dort, wo die Luft wie ein Nebel braut. Hast du die Straße erreicht, dann nimm dir ein Auto. Geld findest du mehr als genug in meinen Taschen. Wechsle den Wagen drei Straßen weiter. Und noch einmal nach wiederum drei Straßen. Dann fährst du zum neunundneunzigsten Block. An der Ecke lohnst du den Wagen ab und wartest, bis der Fahrer sich entfernt hat, daß er dich nicht mehr sieht. Dann suchst du im siebenten Hause den siebenten Stock. Dort wohnt ein Mann, der heißt Josaphat. Zu dem gehst du. Sag ihm, ich schickte dich. Wartet auf mich oder auf Botschaft von mir. Hast du mich gut verstanden, Georgi?«

»Ja.«

Aber das Ja war leer und schien auf etwas ganz anderes Antwort zu geben als auf Freders Frage.

Eine Weile später stand der Sohn Joh Fredersens, des Herrn über die große Metropolis, vor der kleinen Maschine, die Ganescha glich, dem Gott mit dem Elefantenkopf.

Er trug die Tracht der Arbeiter aller von Metropolis: vom Hals bis zu den Knöcheln das blaue Leinen, an den nackten Füßen die harten Schuhe, fest das Haar umschließend die schwarze Kappe. Er hielt die Hand am Hebel und den Blick auf die Uhr gerichtet, deren Zeiger wie Magnetnadeln bebten.

Der gejagte Strom der wandernden Luft umspülte ihn und machte die Falten der Leinwand flattern.

Dennoch fühlte er, wie langsam, würgend, von dem unablässig zitternden Boden her, von den Mauern, darin die Feuer pfiffen, von der Decke, die in einem ewigen Sturz begriffen schien, von den Stößen der kurzen Maschinenarme, ja von dem steten Sichstemmen des gleißenden Rumpfes her Angst an ihm hochquoll bis zur Gewißheit des Todes.

Er fühlte – und sah es zugleich –, wie aus ziehenden Schwaden der lange und weiße Elefantenrüssel des Gottes Ganescha von dem zur Brust geduckten Kopf sich löste und sanft, mit ruhigem, nicht irrendem Finger nach seiner, Freders Stirn tastete. Er spürte die Berührung dieses Saugers fast kühl und gar nicht schmerzhaft, doch entsetzlich. Genau im Zentrum über dem Nasenbein saugte der gespenstische Rüssel sich fest, war kaum ein Schmerz und bohrte doch als feiner, treffsicherer Bohrer nach dem Zentrum seines Gehirns …

Wie an das Uhrwerk einer Höllenmaschine angeschlossen, begann sein Herz zu pochen. Pater noster … Pater noster … Pater noster …

»Ich will das nicht«, sagte Freder und riß den Kopf zurück, um den verfluchten Kontakt zu zerreißen. »Ich will das nicht … ich will … ich will das nicht …«

Er fuhr, da er den Schweiß von seinen Schläfen tropfen fühlte wie Blutstropfen, nach allen Taschen der fremden Tracht, die er trug, und spürte in einer ein Tuch und zog es heraus. Die Stirn abtrocknend, fühlte er die scharfe Kante eines festen Papiers, das er zugleich mit dem Tuch gefaßt hielt.

Er steckte das Tuch ein und betrachtete das Papier.

Es war nicht größer als die Hand eines Mannes, zeigte nicht Druck noch Schrift, war über und über mit der Zeichnung eines sonderbaren Symbols und halb zerstört erscheinenden Planes bedeckt.

Freder versuchte, daraus klug zu werden, aber es glückte ihm nicht. Von allen Zeichen, die der Plan wies, war ihm keines bekannt. Wege schienen vermerkt, die Irrwegen glichen, aber alle zu einem Ziele führten: einer Stätte, die mit Kreuzen gefüllt war.

Ein Symbol des Lebens? Sinn im Unsinn?

Als Sohn Joh Fredersens war Freder gewöhnt, alles, was Plan hieß, rasch und rein zu erfassen. Er steckte den Plan ein, doch er blieb ihm im Blick.

An dem beschäftigten, nicht unterjochten Gehirn, das grübelte, zergliederte und suchte, glitt der Sauger des Elefantenrüssels Ganeschas, der Maschine, ab, wie gelähmt. Der gebändigte Kopf duckte sich wieder zur Brust. Gehorsam und eifrig arbeitete die kleine Maschine, die das Paternoster-Werk des Neuen Turms Babel trieb.

Ein kleines, glimmendes Licht spielte auf den zarten Gelenken, fast über dem Scheitel, und war wie ein schmales, tückisches Auge.

Die kleine Maschine hatte Zeit. Es würden noch viele Stunden vergehen, bis der Herr über die große Metropolis, bis Joh Fredersen das Futter, das seine Maschinen eben zerkauten, seinen starken Maschinen aus den Zähnen reißen würde.

Ganz weich, fast lächelnd, blickte das glänzende Auge, das tückische Auge der zierlichen Maschine auf den Sohn Joh Fredersens, der vor ihr stand …

Georgi aber hatte den Neuen Turm Babel durch mancherlei Türen unangefochten verlassen, und die Stadt empfing ihn, die große Metropolis, die im Lichttanz schwang und eine Tänzerin war.

Er stand auf der Straße und trank die trunkene Luft. Er spürte weiße Seide an seinem Körper. Er spürte Schuhe, die weich und zärtlich waren. Er atmete tief, und die Fülle des eigenen Atems erfüllte ihn mit höchst berauschendem Rausch.

Er sah eine Stadt, die er niemals gesehen hatte. Er sah sie als ein Mensch, der er niemals gewesen war. Er ging nicht im Strom der andern: Zwölf Glieder breit war der Strom … Er trug nicht Blauleinen, nicht harte Schuhe, nicht Kappe. Er ging nicht zur Arbeit: Arbeit war abgetan, ein anderer Mensch tat seine Arbeit für ihn.

Ein Mensch war gekommen und hatte zu ihm gesagt: Wir werden jetzt unsere Leben tauschen, Georgi, du nimmst das meine, ich das deine …

Hast du die Straße erreicht, nimm dir ein Auto.

Geld findest du mehr als genug in meinen Taschen …

Georgi sah auf die Stadt, die er nie gesehen hatte.

Oh – Rausch des Lichts! Ekstase der Helligkeit! Oh, tausendgliedrige, große Stadt Metropolis, aus Quadern von Licht gebaut! Türme des Strahlens! Steile Gebirge aus Glanz! Aus dem samtenen Himmel über dir stürzt sich goldner Regen unerschöpflich, wie in den offenen Schoß der Danae.

Oh – Metropolis! Metropolis!

Ein Berauschter, tat er die ersten Schritte, sah ein Flammen, das zum Himmel zischte. Eine Rakete schrieb an den samtenen Himmel aus Lichttropfen das Wort: Yoshiwara …

Georgi lief über die Straße, erreichte die Treppe, nahm drei Stufen auf einmal, erreichte den Fahrdamm. Weichgeschmeidig, ein schwarzes, dienstwilliges Tier, kam ein Wagen heran, hielt vor seinen Füßen.

Georgi sprang in den Wagen, fiel in die Kissen, und lautlos bebte der Motor des starken Wagens. Eine Erinnerung machte den Körper des Mannes zum Krampf: War nicht irgendwo in der Welt – und gar nicht sehr weit – unter der Sohle des Babelturms ein Raum, den unablässiges Zittern durchrieselte? Stand nicht mitten in diesem Raum eine kleine, zierliche Maschine, glänzend von Öl, mit starken, gleißenden Gliedern? Unter dem hockenden Körper, dem Kopf, der zur Brust geduckt war, stemmten gekrümmte Beine sich gnomenhaft gegen die Plattform. Unbeweglich waren der Rumpf, die Beine. Aber die kurzen Arme stießen und stießen und stießen wechselseitig nach vorn, zurück, nach vorn. Der Boden, der Stein war, fugenlos, zitterte unter den Stößen der kleinen Maschine, die kleiner war als ein fünfjähriges Kind.

Die Stimme des Fahrers fragte: »Wohin, mein Herr?«

Georgi deutete mit der Hand geradeaus. Irgendwohin.

Ihm hatte ein Mensch gesagt: »Wechsle den Wagen nach der dritten Straße …«

Aber der Rhythmus des Fahrens umfing ihn zu süß. Dritte Straße … sechste … zwölfte Straße … bis zum neunundneunzigsten Block war es noch sehr weit. Wohligkeit des Gewiegtseins erfüllte ihn, Rausch des Lichts, Lustschauer der Bewegung.

Je weiter er sich mit dem lautlosen Gleiten der Räder vom Neuen Turm Babel entfernte, desto weiter schien er sich auch vom Bewußtsein des eigenen Ichs zu entfernen.

Wer war er? Hatte er nicht eben noch in schmieriger und geflickter Blauleinentracht in einer siedenden Hölle gestanden, mit von ewiger Wachsamkeit zermalmtem Gehirn, mit Knochen, denen der ewig gleiche Takt von ewig gleichen Griffen das Mark aussaugte, mit von unerträglicher Glut geröstetem Gesicht, in dessen Haut der salzige Schweiß seine fressenden Furchen riß?

Wohnte er nicht in einer Stadt, die tiefer unter der Erde lag als die Untergrundbahnhöfe von Metropolis mit ihren tausend Schächten – in einer Stadt, deren Häuser sich ebenso hochgestockt um Plätze und Straßen reihten wie droben im Licht die übereinander getürmten Häuser von Metropolis?

Hatte er je etwas anderes gekannt als die grauenhafte Nüchternheit dieser Häuser, in denen nicht Menschen wohnten, sondern Nummern, kenntlich an riesigen Tafeln neben den Haustüren?

Hatte sein Leben je einen anderen Sinn gehabt, als aus diesen von Nummerntafeln umrahmten Haustüren zur Arbeit zu gehen, wenn die Sirenen von Metropolis nach ihm heulten – und zehn Stunden später, zermalmt und müde auf den Tod in das Haus zu taumeln, an dessen Tür seine Nummer stand?

War er selbst etwas anderes als eine Nummer – Nummer 11 811 –, eingedruckt in seine Wäsche, seine Kleider, seine Schuhe, seine Kappe? Hatte sich ihm die Nummer nicht auch in die Seele gedruckt, ins Gehirn und ins Blut, daß er sich sogar auf seinen eigenen Namen besinnen mußte?

Und jetzt?

Sein Körper, erfrischt von reinem, kühlem Wasser, das ihm den Arbeitsschweiß heruntergespült hatte, fühlte mit einer unerhörten Süßigkeit das nachgebende Schlaffwerden aller seiner Muskeln. Mit einem Schauder, der alle seine Gelenke schwach machte, empfand er die liebkosende Berührung der weißen Seide auf der bloßen Haut seines Körpers, und während er sich völlig widerstandslos dem sanften und gleichmäßigen Rhythmus des Fahrens hingab, übermannte ihn das Bewußtsein erstmaliger und völliger Erlöstheit von allem, was marternder Druck auf seinem Leben war, mit einer so überwältigenden Kraft, daß er unter hemmungslos stürzenden Tränen in das Gelächter eines Narren ausbrach.

Heftig, doch in herrlicher Heftigkeit, drängte sich ihm die große Stadt entgegen, die wie ein Meer war, das um Gebirge brauste.

Der Arbeiter Nr. 11 811, der Mann, der in einem gefängnisähnlichen Hause unter der Tiefbahn von Metropolis wohnte, der keinen anderen Weg kannte als von dem Schlafloch, in dem er hauste, zur Maschine und von der Maschine zurück in sein Schlafloch, der sah zum ersten Male in seinem Leben das Weltwunder von Metropolis: die in Millionen und Abermillionen von Lichtern erstrahlende nächtliche Stadt.

Er sah den Ozean von Licht, der die unendlichen Straßenzüge mit einem silbernen und blitzenden Gleißen erfüllte. Er sah das irrlichternde Gefunkel der Lichtreklamen, die sich in einer Ekstase der Helligkeit, stets unerschöpflich, verschwendeten. Er sah Türme aufragen, die aus Quadern von Licht gebaut erschienen, und er fühlte sich ergriffen, bis zur Schwäche überwältigt von diesem Lichterrausch, fühlte, wie dieser funkelnde Ozean mit hunderttausend spritzenden Wellen nach ihm griff, ihm den Atem vom Munde nahm, ihn durchdrang, erstickte …

Und er verstand, daß diese Stadt der Maschinen, diese Stadt der Nüchternheit, diese Fanatikerin der Arbeit in der Nacht das mächtige Gegengewicht für die Besessenheit der Tagesarbeit suchte – daß diese Stadt in ihren Nächten wie eine Rasende, wie eine völlig Sinnberaubte sich an die Trunkenheit eines Genießens verlor, das zu allen Gipfeln hinaufreißend, in alle Tiefe hinunterschleudernd, maßlos beseligend und maßlos vernichtend war.

Georgi zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Und doch war es eigentlich kein Zittern, das seinen widerstandslosen Körper gepackt hielt. Es war, als seien alle Glieder angeschlossen an den lautlosen Gleichlauf des Motors, der sie vorwärtstrug. Nein, nicht an den einzelnen Motor, der das Herz des Wagens war, in dem er saß – an alle diese Hunderte und Tausende von Motoren, die einen endlos gleitenden Doppelstrom glänzender und erleuchteter Wagen durch die Straße der nächtlich fiebernden Stadt jagten. Und zugleich wurde sein Körper durchzuckt von dem Feuerwerk funkensprühender Räder, zehnfarbiger Schriften, schneeweißer Fontänen überlasteter Lampen, hochzischender Raketen, eiskalt lodernder Flammentürme.

Da war ein Wort, das immer wiederkam. Aus unsichtbaren Quellen schoß eine Lichtgarbe hoch, sprühte auf ihrem höchsten Punkt auseinander und ließ in allen sieben Farben des Regenbogens Buchstaben niedertropfen aus dem sammetschwarzen Himmel von Metropolis.

Die Buchstaben formten sich zu dem Wort: Yoshiwara …

Was hieß das: Yoshiwara?

Im Gitterwerk einer Hochbahnüberführung hing ein gelbhäutiger Kerl, den Kopf nach unten, sich in den Kniekehlen wiegend, und ließ ein Schneegestöber weißer Blätter auf die Doppelreihe der Autos niederschneien.

Die Blätter gaukelten und fielen. Der Blick Georgis erhaschte das eine. In großer, verzerrter Schrift stand darauf: Yoshiwara.

An einer Straßenkreuzung stoppte der Wagen ab. Gelbhäutige Kerle in bunten, gestickten Seidenjacken wanden sich, geschmeidig wie Aale, durch die zwölffachen Reihen der wartenden Autos. Einer von ihnen schwang sich auf das Trittbrett des schwarzen Wagens, in dem Georgi saß. Eine Sekunde lang starrte die gelbgrinsende Fratze in das junge, weiße, ratlose Gesicht.

Ein Stapel von Blättern wurde durch das Fenster geschleudert, fiel auf die Knie Georgis und vor seine Füße. Mechanisch bückte er sich und hob auf, wonach seine Finger griffen.

Auf diesen Zetteln, denen ein durchdringender, bittersüßer und erschlaffender Duft entströmte, stand in großen, wie verhext wirkenden Buchstaben das Wort: Yoshiwara …

Die Kehle Georgis war trocken wie Sand. Er netzte die spröden Lippen mit der Zunge, die ihm schwer und wie verdorrt im Munde lag.

Eine Stimme hatte zu ihm gesagt: »Geld findest du mehr als genug in meinen Taschen.«

Geld genug – wozu? Um diese Stadt – um diese große Himmel-Höllen-Stadt zu sich herzureißen, sie mit beiden Armen, beiden Schenkeln zu umschließen, an der Unmacht, ihrer Herr zu werden, zu verzweifeln, sich ihr hinzuwerfen – nimm mich! Die volle Schale an den Lippen zu spüren – schlürfen, schlürfen ohne Atemholen, in den Rand der Schale festgebissen – ewige, ewige Unersättlichkeit mit dem ewigen Überfließen, Überströmen der Schale des Rausches zu messen …

Oh, Metropolis! Metropolis!

Geld mehr als genug …

Ein sonderbarer Laut kam aus der Kehle Georgis, und es war darin etwas vom Röcheln eines Menschen, der weiß, daß er träumt und aufwachen möchte – und auch etwas vom Kehllaut der Raubtiere, wenn sie Blut wittern. Seine Hand warf die Zettel fort und raffte sie wieder auf. Sie knüllte sie zusammen zwischen glühenden und krampfhaften Fingern.

Er wandte den Kopf hin und her, als suche er einen Ausweg, den zu finden er doch befürchtete.

Dicht neben seinen Wagen glitt ein anderer lautlos heran, ein großer und schwarzglänzender Schatten, ein auf vier Räder gestellter, blumengeschmückter, von matten Lampen erhellter Ruheplatz einer Frau. Georgi sah die Frau sehr deutlich. Und die Frau sah ihn an. In den Kissen des Wagens mehr kauernd als sitzend, hatte sie sich ganz in den strahlenden Mantel gewickelt, aus dem sich eine nackte Schulter mit der matten Weiße einer Schwanenfeder hob.

Sie war auf eine verwirrende Art geschminkt, so, als wollte sie nicht Mensch, nicht Weib sein, sondern ein fremdartiges, vielleicht zum Spiel, vielleicht zum Morden aufgelegtes Tier.

Den Blick des Mannes ruhevoll festhaltend, ließ sie ihre rechte Hand, die von Steinen funkelte, und den schmalen Arm, der ganz nackt und mattweiß wie die Schulter war, sacht aus der Hülle des Mantels schlüpfen und begann, sich auf lässige Art mit einem der Blätter zu fächeln, auf denen das Wort Yoshiwara stand.

»Nein!« sagte der Mann. Er keuchte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Kühle entquoll dem feinen, fremden Stoff, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn abtrocknete.

Augen starrten ihn an. Verschwimmende Augen. Eines geschminkten Mundes allwissendes Lächeln.

Mit einem keuchenden Laut wollte Georgi die Tür aufstoßen, um auf die Straße zu springen. Doch die Bewegung des Wagens warf ihn in die Kissen zurück. Er ballte die Fäuste und drückte sie vor beide Augen. Ganz nebelhaft, ganz umrißlos schoß ihm ein Bild durch den Kopf: eine kleine, starke Maschine, nicht größer als ein fünfjähriges Kind. Ihre kurzen Arme stießen und stießen und stießen wechselseitig nach vorn, zurück, nach vorn … Grinsend hob sich der zur Brust geduckte Kopf …

»Nein!« schrie der Mann, schlug in die Hände und lachte. Er war frei geworden von der Maschine. Er hatte sein Leben getauscht.

Getauscht – mit wem?

Mit einem, der zu ihm gesprochen hatte: »Geld findest du mehr als genug in meinen Taschen …«

Der Mann im Wagen beugte den Kopf in den Nacken und stierte die Decke an, die über ihm hing.

An der Decke flammte das Wort: Yoshiwara …

Das Wort Yoshiwara wurde zu Lichtraketen, die ihn umsprühten, die seine Glieder bannten. Er saß unbeweglich, mit kaltem Schweiß bedeckt. Er krallte die Fingerspitzen in das Leder der Kissen. Sein Rücken war steif, als wäre die Wirbelsäule aus kaltem Eisen gemacht. Seine Kinnladen schnatterten.

»Nein!« sagte Georgi, die Fäuste niederreißend. Aber vor seinen ins Leere starrenden Augen flammte das Wort: Yoshiwara …

Musik war in der Luft, von ungeheuerlichen Lautsprechern in die nächtlichen Straßen geschleudert. Frech war die Musik, von heißestem Rhythmus, von schreiender und peitschender Fröhlichkeit.

»Nein!« keuchte der Mann. Blut quoll in großen Tropfen aus seinen zerbissenen Lippen.

Eine Rakete stieg auf und schrieb an den Himmel über Metropolis: Yoshiwara …

Georgi stieß das Fenster auf. Die herrliche Stadt Metropolis, die im Lichtrausch tanzte, warf sich ihm stürmisch entgegen, als sei er, er allein der Einziggeliebte, Einzigerwartete. Er beugte sich aus dem Fenster und schrie: »Yoshiwara!«

Er fiel in die Kissen zurück. Der Wagen bog in weicher Kurve in neue Richtung ein.

Eine Rakete stieg auf und schrieb an den Himmel über Metropolis: Yoshiwara …


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