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»Wollt ihr mein Märchen denn nicht zu Ende hören?«
»Ja. Aber, Schwester, wenn es zu Ende ist, können wir dann nicht hinaus und essen gehen?«
»Freilich, sobald mein Märchen zu Ende ist … Also denkt euch: Füchslein ging spazieren, ging auf der schönen, bunten Wiese spazieren, hatte sein Sonntagsröckchen an und den buschigen, roten Schwanz kerzengrad' in der Höh' und rauchte sein Pfeifchen und sang auch mal zwischendurch – und dann hopfte er vor Vergnügen! Und Igel Sepp-Igel saß auf seinem kleinen Hügel und freute sich, daß seine Radieschen so gut gediehen, und seine Frau stand am Zaun und schwatzte mit Frau Maulwurf, die für den Herbst ein neues Pelzchen bekommen hatte.«
»Schwesterchen …«
»Ja?«
»Kann das sein, daß das Wasser von unten hinter uns dreinkommt?«
»Warum denn, Brüderchen?«
»Ich hör es glucksen …«
»Hör nicht auf das Wasser, Brüderchen. Hör lieber zu, was Frau Igel zu schwatzen hat!«
»Ja … Aber, Schwester, das Wasser schwatzt so laut. Das schwatzt viel lauter, glaub ich, als Frau Maulwurf.«
»Geh weg von dem dummen Wasser, Brüderchen … Komm her zu mir! Hier hörst du das Wasser nicht.«
»Ich kann nicht zu dir kommen, Schwesterchen! Ich kann mich gar nicht rühren, Schwesterchen. Kannst du nicht zu mir kommen und mich holen?«
»Mich auch, Schwesterchen! Ja, mich auch! Mich auch!«
»Das geht nicht, kleine Brüder, kleine Schwesterchen! Ich habe eure jüngsten Geschwister auf dem Schoß. Die sind eingeschlafen, und ich darf sie nicht wecken.«
»Ach, Schwester, kommen wir auch ganz bestimmt hinaus?«
»Warum fragst du so ängstlich, Brüderchen?«
»Der Boden zittert so sehr, und Steine fallen von der Decke!«
»Haben die dummen Steine dir weh getan?«
»Nein. Meine kleine Schwester liegt da und rührt sich nicht mehr.«
»Stör sie nicht, Brüderchen. Dein Schwester schläft!«
»Ja. Aber eben hat sie doch noch so sehr geweint?«
»Gönn es ihr, Brüderchen, daß sie dahin gegangen ist, wo sie nicht mehr weinen muß.«
»Wohin ist sie denn gegangen, Schwester?«
»Ich glaube, in den Himmel.«
»Ist denn der Himmel so nah?«
»Ach ja, ganz nahe! Ich kann von hier aus schon die Tür erkennen! Und wenn ich mich nicht täusche, steht Sankt Peter mit einem goldenen Schlüssel davor und wartet darauf, daß er uns aufschließen kann.«
»Ach, Schwester – Schwester! Jetzt kommt das Wasser herauf! Jetzt packt es mich bei den Füßen! Jetzt hebt es mich auf!«
»Schwester! Hilf mir, Schwester! Das Wasser ist da!«
»Gott kann euch helfen, der allmächtige Gott!«
»Schwester, ich furcht mich!«
»Fürchtest du dich davor, in den schönen Himmel zu kommen?«
»Ist es schön im Himmel?«
»Ach – wunderschön!«
»Ist Füchslein auch im Himmel – und Igel Sepp-Igel?«
»Das weiß ich nicht. Soll ich den heiligen Petrus mal fragen?«
»Ja, Schwester … Weinst du?«
»Nein. Warum sollte ich weinen? Sankt Peter! Sankt Peter!«
»Hat er's gehört?«
»Lieber Gott, wie kalt ist das Wasser …«
»Sankt Peter! Sankt Peter!«
»Schwester, hat er's gehört?«
»Wartet … Er weiß nicht, woher das Rufen kommt.«
»Ruf noch mal, Schwester, ja?«
»Sankt Peter! Sankt Peter!«
»Schwester, ich glaube, jetzt hat er Antwort gegeben.«
»Meinst du, Brüderchen?«
»Ja. Da hat jemand gerufen.«
»Ja, ich hab's auch gehört!«
»Ich auch …«
»Ich auch!«
»Still doch, Kinder, seid still!«
»Ach, Schwester, Schwester!«
»Seid still, ich bitte euch!«
»... Maria!«
»Freder!«
»Maria – bist du hier?«
»Freder – Freder – hier bin ich! Hier, Freder!«
»Auf der Treppe?«
»Ja!«
»Warum kommst du nicht?«
»Ich kann die Tür nicht heben!«
»Zehn Züge sind ineinandergefahren. Ich kann nicht zu dir! Ich muß erst Hilfe holen.«
»Ach, Freder, das Wasser ist schon dicht hinter uns!«
»Das Wasser?«
»Ja! Und die Mauern stürzen ein!«
»Bist du verletzt?«
»Nein, nein … Ach, Freder, wenn du die Tür so weit noch aufzwingen würdest, daß ich die schmalen Kinderkörper hinausdrängen könnte …«
Der Mann über ihr gab keine Antwort mehr.
Als er im »Klub der Söhne« spielerisch im Ringkampf mit den Freunden seine Muskeln und Sehnen stählte, ahnte er wahrlich nicht, daß er sie einmal brauchen würde, sich durch verrenktes Gestänge, aufgereckte Kolben, gespreizte Räder verkämpfter Maschinen einen Weg zu der Frau, die er liebte, zu bahnen. Er drückte Kolben beiseite wie Menschenarme, griff in Stahl wie in weiches, weichendes Fleisch. Er kam in die Nähe der Tür und warf sich zu Boden.
»Maria? Wo bist du? Warum klingt deine Stimme so fern?«
»Ich will die Letzte sein, die du rettest, Freder. Ich trage die Kleinsten auf meinen Schultern und Armen …«
»Steigt das Wasser noch?«
»Ja.«
»Schnell oder langsam?«
»Schnell …«
»Mein Gott, mein Gott … Ich bekomme die Tür nicht frei! Die toten Maschinen liegen darauf wie ein Berg! Ich muß die Trümmer sprengen, Maria!«
»Tu's!« Die Stimme Marias klang, als lächelte sie. »Inzwischen kann ich mein Märchen zu Ende erzählen …«
Freder stürzte davon. Noch wußte er nicht, wohin ihn seine Füße tragen sollten. Er dachte unklar an Gott … Dein Wille geschehe … Erlöse uns von dem Übel … Denn dein ist die Kraft …
Von dem rußschwarzen Himmel fiel ein ängstlicher Schein von der Farbe geronnenen Blutes auf die Stadt, die in ihrer qualvollen Lichtlosigkeit wie ein Schattenriß aus zerfetztem Sammet erschien. Kein Mensch war zu sehen, und dennoch zuckte die Luft unter der unerträglichen Messerschärfe von Weiberschreien aus der Gegend von Yoshiwara, und während vom Dom her die Orgel schrillte und pfiff, als sei ihr gigantischer Leib bis zum Sterben verwundet, begannen die Fenster des Domes, von innen her erleuchtet, auf eine gespenstische Weise zu glühen.
Freder stolperte auf das Turmhaus zu, in dem das Herz der großen Maschinenstadt Metropolis lebendig gewesen war und das es, als es am Fieber der 12 sich selbst zu Tode raste, von oben bis unten zerriß, daß nun das Haus wie ein hochgezerrtes, klaffendes Tor erschien.
Da kroch ein Klumpen Mensch in den Trümmern herum und schien nach den Lauten, die er von sich gab, nichts anderes zu sein als ein einziger Fluch auf zwei Beinen. Was für ein Schrecken auch über Metropolis lag, er war das Paradies im Vergleich zu der letzten, grausamen Vernichtung, die der Klumpen Mensch aus der untersten, heißesten Hölle auf die Stadt und ihre Bewohner heraufbeschwor.
Er fand etwas in den Trümmern, hob es dicht vors Gesicht, erkannte es und brach in ein Heulen aus, das dem Heulen eines getretenen Hundes glich. Er wühlte den schluchzenden Mund auf das kleine Stück Stahl.
»Die stinkende Pest soll euch fressen, ihr Hühnerläuse! Im Kot sollt ihr sitzen bis an die Augen! Gas sollt ihr saufen statt Wasser und täglich zerplatzen – zehntausend Jahre lang – und immer wieder …«
»Grot!«
»Dreck!«
»Grot! Gott sei Dan … Grot, kommen Sie hier!«
»Wer ist da?«
»Ich bin Joh Fredersens Sohn.«
»Aaah – Himmel-Hölle! Du hast mir gerade gefehlt! Komm her, Rotzkröte! Ich muß dich zwischen meinen Fäusten haben! Dein Vater war mir zwar lieber, aber du bist auch ein Stück von ihm und besser als gar nichts! Komm her, komm hierher, wenn du Mut hast! Ah – Junge, ich möchte dich fressen! Ich möchte dich von oben bis unten mit Senf beschmieren und fressen! Weißt du, was dein Vater getan hat?«
»Grot!«
»Laß mich ausreden, hörst du? Weißt du, was er getan hat? Er hat mich meine Maschine … Er hat mich meine Maschine preisgeben lassen!«
Und wieder das klägliche Heulen eines getretenen Hundes.
»Grot, hören Sie mich an!«
»Grot, in die unterirdische Arbeiterstadt ist das Wasser gedrungen!«
Sekundenlange Stille .Und dann ein brüllendes Lachen, und auf dem Trümmerhaufen der Tanz eines vierschrötigen Klumpens, der johlend die Beine warf, in die Hände klatschte.
»So ist es richtig! Halleluja, Amen!«
»Grot!« Freder packte den tanzenden Klumpen fest und rüttelte ihn, daß ihm die Zähne klirrten. »Das Wasser hat die Stadt ersäuft! Die Förderwagen stehen still! Das Wasser ist über die Treppen gestiegen! Und auf der Tür – auf der einzigen Tür liegen die tausend Zentner der ineinander gejagten Tiefbahnzüge!«
»Ersaufen sollen die Mäuse!«
»Die Kinder, Grot!«
Grot stand wie gelähmt.
»Ein Mädchen«, fuhr Freder fort und grub die Hände in die Schultern des Mannes, »ein Mädchen«, sagte er schluchzend und beugte den Kopf, als wollte er ihn in die Brust des Mannes wühlen, »ein Mädchen hat die Kinder zu retten versucht und ist nun mit ihnen gefangen und kann nicht heraus …«
Grot fing zu rennen an.
»Wir müssen die Trümmer wegsprengen, Grot!«
Grot stolperte, kehrte um und rannte wieder. Freder ihm nach, näher als sein Schatten …
»... Aber das Füchslein wußte ganz genau, daß Sepp-Igel kommen würde, um ihm aus der Falle zu helfen, und er war nicht ein bißchen ängstlich und wartete ganz getrost, obgleich es recht lange dauerte, bis Sepp-Igel – der brave Sepp-Igel! – wiederkam …«
»Maria!«
»Jesus … Freder?«
»Erschrick nicht, hörst du?«
»Freder, bist du in Gefahr?«
Keine Antwort. Stille. Ein Knistern. Dann eine Kinderstimme: »Und ist dann Sepp-Igel gekommen, Schwester?«
»Ja –«
Aber das Ja ging verloren unter dem Zerreißen von tausend stählernen Seilen, dem Brüllen von zehntausend Felsen, die an die Glocke des Himmels geschleudert wurden, die Glocke zum Bersten brachten und sausend sanken, mit ihrem Sturz die Erde wanken machten.
Nachrieselndes Knirschen. Grau, träge Schwaden. Gepolter, fern. Und Schritte. Kinderweinen. Und droben die Tür, die aufgewuchtet wurde: »Maria!«
Geschwärzt ein Gesicht, das sich niederbeugte; zerschundene Hände, die sich greifend streckten.
»Maria!«
»Hier bin ich, Freder! Hol erst die Kinder … Die Mauer senkt sich.«
Grot kam herbeigestolpert und warf sich zu Boden, dicht neben Freder, und griff in den Schacht hinab, aus dem die Kinder schreiend nach oben quollen. Er packte die Kinder beim Haar, beim Hals, beim Kopf und zerrte sie aufwärts, wie man Radieschen auszieht. Die Augen quollen ihm vor Angst aus dem Kopf. Er schleuderte die Kinder über sich weg, daß sie purzelten und kläglich kreischten. Er fluchte wie hundert Teufel: »Hört das noch immer nicht auf?«
»Vater, Vater!« schluchzten zwei Stimmen tief unten.
»In die Hölle mit euch, ihr Raben!« brüllte der Mann. Seine Fäuste räumten die Kinder beiseite, als schaufle er Müll auf den Kehricht. Dann schluchzte er schnaufend und packte zu und hatte zwei Kinder am Hals hängen, naß und erbärmlich zitternd, aber am Leben, und ihre Glieder waren durch seine tastenden Fäuste mehr in Gefahr als zuvor durch Wasser und Steinbruch.
Die Kinder in beiden Armen, wälzte sich Grot auf die Seite. Er setzte sich aufrecht und stellte die zwei vor sich hin.
»Ihr gottverdammtes Gesindel!« sagte er weinend. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und wandte sich um. Und sprang, die Kinder wegschleudernd wie zwei Heumännlein, mit dem Wutgebrüll eines Löwen auf die Füße und zu der Tür hin, aus deren Tiefe, von Freders Armen gehalten, Maria mit geschlossenen Augen tauchte.
»Aas, blutiges!« heulte er, riß Freder weg, stieß das Mädchen zurück in die Tiefe, warf die Falltür zu und sich selbst mit vollem Leib darüber, mit geballten Fäusten den Takt seines Gelächters trommelnd.
Eine grimmige Anstrengung hatte Freder auf den Füßen gehalten. Er stürzte außer sich auf den tobenden Menschen los, um ihn von der Falltür wegzuzerren, rollte über ihn hin und wälzte sich mit ihm in einer tobsüchtigen Umschlingung zwischen den Trümmern der Maschinenteile.
»Laß mich los, Hund, räudiger!« heulte Grot und versuchte, nach den zornigen Fäusten, die ihn hielten, zu beißen. »Das Weib hat meine Maschine umgebracht! Das verdammte Weib hat die Horde angeführt! Das Weib allein hat den Hebel auf 12 gerückt! Ich hab's gesehen, als sie mich niedertrampelten! Das Weib soll ersaufen da unten! Das Weib bring' ich um!«
In einer unerhörten Anspannung all seiner Muskeln stemmte Grot sich auf und zerrte Freder, der an ihm hing, mit hoch. Aber Freder sah seinen Vorteil und stieß sich mit einem Ruck von dem Rasenden weg mit so erbitterter Kraft, daß Grot im Bogen unter die Kinder flog.
Inbrünstig fluchend, raffte er sich wieder auf; aber obwohl er unverletzt war, vermochte er doch kein Glied zu rühren. Er stak als ohnmächtiger Löffel in einem Brei von Kindern, die ihm an Armen, Beinen und Fäusten klebten. Keine stählerne Fessel hätte ihn so zur Hilflosigkeit verurteilen können, als es die kleinen, kalten und nassen Hände taten, die ihre Retterin verteidigten. Ja, seine eigenen Kinder standen vor ihm und trommelten zornig auf seine geballten Fäuste, ungeschreckt durch die blutunterlaufenen Augen, mit denen der Riese auf die ihn knebelnden Zwerge glotzte.
»Das Weib hat meine Maschine umgebracht!« heulte er endlich, weit mehr klagend als grimmig, und sah das Mädchen an, das in Freders Armen lag, als erwartete er von ihr, daß sie ihn rechtfertige.
»Was meint er?« fragte Maria. »Was ist geschehen?«
Und sie schaute mit Augen, deren Entsetztheit nur durch die tiefste Erschöpfung gemildert wurde, auf die Zerstörung ringsum und auf den schnaufenden Grot.
Freder gab keine Antwort.
»Komm!« sagte er. Und er hob sie auf seine Arme und trug sie hinaus, und die Kinder folgten ihnen wie eine Herde Lämmer, und es blieb dem grimmigen Grot nichts anderes übrig, als in den Spuren der winzigen Füße zu laufen, wohin ihn die kleinen, zerrenden Hände zogen.