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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Ein letztes Opfer.

Napoleon ist entflohen! In Frankreich haben sie ihn wieder zum Kaiser gemacht! Der Krieg geht von neuem los! Das war der Schreckensruf, der durch Europa ging. Als die Berliner den alten Feldmarschall Blücher in seiner vollen Uniform unter den Linden einherschreiten sahen, da wußten sie, was die Glocke geschlagen hatte.

Von neuem brach die Bewegung los. Kaum wieder mit den alten Verhältnissen vertraut geworden, beeilten sich Männer und Jünglinge zu ihren Fahnen zurückzukehren, noch ehe der Ruf dazu an sie erging, und in wenigen Wochen stand die Armee kriegsbereit da. Wieder bluteten die Herzen im Trennungsschmerz, und wieder bewährte sich der alte Mut und die alte Standhaftigkeit; man empfand zu sehr die Notwendigkeit der zu bringenden Opfer, und niemand zeigte sich schwach. Diesmal behielt Meister Fisch einen Sohn zu Hause, aber Fritz hatte nie so sehr beklagt, daß er zum Invaliden geworden wie jetzt, und alle Trostgründe blieben ohne Erfolg. Endlich schlug ihm die Schulzen vor, daß er mit ihr ziehen solle, denn sie brauchte eine Unterstützung, und so ungern sie sich von Anton trennte, so sah sie doch ein, daß er nicht zu halten sein würde, für Fritz aber war es immerhin tröstlich, daß er nicht ganz daheim bleiben mußte, sondern auch die Hände für die Kameraden rühren durfte.

Anton war vielleicht der einzige Hohensteiner, der die Rückkehr des Kaisers Napoleon mit Freude begrüßte, da nun sein brennendes Verlangen, auch als streitbarer Krieger auszuziehen, in Erfüllung ging. Er trug den Kopf stolz aufgerichtet und pfiff den ganzen Tag den Dessauer Marsch; nur vermochte er eine leise Wehmut nicht zu unterdrücken, wenn er den Buzefel streichelte, der den Feldzug ohne seine Pflege mitmachen sollte. Doch auch dafür gab es einen Trost; Fritz würde schon für das gute Tier sorgen, und er selbst hoffte sehr, als Bursche zu seinem jungen Herrn zu kommen; wo der aber war, blieb auch die Schulzen nicht fern, und so würde er dem Buzefel doch noch manche Mußestunde widmen können.

Die trügerischen Schmeichelworte und Versprechungen Napoleons verhallten gleich unbeachtet, mit aller Energie wurde der Krieg fortgeführt, diesmal auf belgischem Boden. Es war am Morgen des 18. Juni. Düster und bleifarbig spannte sich der Himmel über die Erde, die wieder von frisch vergossenem Blute rauchte. Der Buzefel schleppte sich mühsam und traurig weiter; die Schulzen war ausgestiegen und führte ihn unter ermutigendem Zuspruch am Zügel, sogar Fritz humpelte schwerfällig neben dem Wagen her, um es dem armen Tiere zu erleichtern.

»Was hilft es uns, daß wir schon vor Mitternacht aufgebrochen sind,« murrte die Schulzen, »die Truppen hatten uns doch schon bald überholt.«

»Sie haben es auch eilig,« meinte Fritz, »der Marschall Vorwärts konnte es kaum aushalten; er sagte ja immer wieder, daß er dem englischen General versprochen hätte, rechtzeitig da zu sein, und nun macht der fürchterliche Regen die Wege grundlos.«

»Das ist's nicht allein,« sagte die Schulzen trübselig; »wenn wir vorgestern die Schlacht nicht verloren hätten, wäre uns allen anders zu Mute.«

»Werden auch schon wieder gewinnen,« tröstete Fritz.

»Gott geb's!« seufzte die Schulzen. »Mir ist so bange zu Sinn, wie noch nie, als wenn ein Unglück in der Luft läge!«

»Na, wenn die Schulzen den Kopf hängen läßt, was soll dann unser armer Buzefel thun,« meinte Fritz und klopfte das Pferd liebkosend. »Frisch, alter Bursche, daß wir nachkommen. Zur Viktoria müssen wir doch dabei sein.«

»Es ist nur gut, daß es unserem alten Blücher wieder so einigermaßen geht,« sagte die Schulzen; »was hätte das erst für ein Unglück gegeben, wenn sie ihn vorgestern bei Ligny tot unter seinem Pferde vorgezogen hätten! Braun und blau soll er auf dem ganzen Körper sein, aber das giebt sich schon wieder.«

So setzten sie ihren mühseligen Weg fort, der sie dicht an dem Schlachtfelde von Ligny vorbeiführte, denn die Armee hatte nach der Niederlage eine rückgängige Bewegung gemacht; scheu wandte sich der Blick ab von der Stätte, die noch die Verwüstung des stattgehabten Ereignisses zeigte, überall lagen tote Menschen und Pferdekörper, manche zerstampft durch die Hufe der fliehenden und nachsetzenden Reiter. Vor ihnen hatte Blücher mit seinem Heere den Ort passiert, und der durchweichte Boden war fast grundlos geworden. Dennoch war kein Geschütz zurückgeblieben. Jetzt schlug Kanonendonner an ihr Ohr, sie näherten sich also dem Kampfplatze; die Sonne brach durch die Wolken, der Regen hörte auf, vor ihnen lag die Gegend, aber in dichten Pulverdampf gehüllt, aus dem hier und da flammende Feuersäulen emporstiegen, von eingeäscherten Dörfern und Meilern herrührend. Als sie endlich anlangten, war die Schlacht beendigt; Siegesjubel umgab sie.

Aber die Schulzen vermochte heute nicht daran teilzunehmen. Fragend und forschend mußte sie weiter, sie mußte zu dem Korps, bei dem Walter stand, und von qualvoller Unruhe getrieben, hatte sie keinen Sinn für die Freude der Sieger und für die Schrecken, die sie umgaben. Endlich fand sie Walters Regiment; es war sehr im Feuer gewesen und hatte starke Verluste zu verzeichnen. Wo Leutnant Märtens geblieben, wußte niemand. Er hatte tapfer gekämpft; als der Hauptmann und die älteren Offiziere durch Tod oder Wunden kampfunfähig wurden, hatte er die Kompanie mit geschwungenem Säbel zum Angriff geführt; jetzt fehlte er. –

Der Junitag war zu Ende, die Nacht senkte sich auf das Schlachtfeld, von dem das Ächzen und Wimmern der Verwundeten zum Himmel stieg. Biwakfeuer flammten empor, auf der weiten Ebene bewegten sich Fackeln, bei deren Schein die Krankenträger ihr hilfreiches Amt ausübten; wer noch Lebenszeichen gab, wurde auf schnell hergestellten Bahren fortgeschafft, die Leblosen überließ man vorläufig ihrem Schicksal; an ihr Begräbnis konnte erst später gedacht werden.

Die Schulzen eilte von einem Trupp zum anderen, Georg, den die gleiche Angst umhertrieb, stieß zu ihr, und endlich gesellte sich auch Wilhelm, dessen Regiment in der Nähe stand, zu ihnen. Schreckliche, peinvolle Stunden vergingen, sie durchsuchten die schnell errichteten Lazarette, forschten auf den Verbandplätzen nach, fragten die Krankenträger, keine Spur von Walter war zu finden. Plötzlich stand Anton vor ihnen, eine breite Binde um die Stirn gewunden; durch einen Säbelhieb am Anfang der Attacke verwundet, hatte er die Besinnung verloren. Als er zu sich kam, lag er unter Toten und Sterbenden; die Schlacht wogte weiter. Er schleppte sich zum Verbandplatz, die Wunde war nicht schwer, wenn ihn auch der Blutverlust sehr abgemattet hatte; jetzt suchte er seinen Herrn. Immer geringer wurde die Hoffnung, immer peinvoller die Angst, immer größer die Erschöpfung der Männer, die nach dem langen Marsch und dem Kampf keine Minute der Ruhe gekannt hatten.

Endlich sagte die Schulzen kurz und entschlossen: »Ihr brecht zusammen, es geht nicht länger, bleibt bei meinem Wagen und dem Buzefel, ich suche mit Anton weiter.«

Sie wollten Einwendung erheben, doch die Schulzen blieb fest. »Sammelt erst Kräfte, mit solchen Jammerwürmern kann ich nichts anfangen. Ich schicke, sowie ich euch brauche. Kannst du wieder, Anton?«

Dieser bejahte. »Nimm einen ordentlichen Schluck Wein, von dem besten Tokayer, den wir haben,« befahl sie; »so, gieb mir auch davon. Die Flasche nehmen wir mit. Gieb mir die Laterne. Wickelt euch in die Decken,« gebot sie den anderen, »und ruht euch. Die Reihe kommt noch an euch.«

Sie schritt davon, von Anton gefolgt. Als sie an den Platz kam, wo Walters Regiment gefochten hatte, ging sie von Leichenhaufen zu Leichenhaufen; es war schauerlich, wenn sie die Laterne erhob und den bleichen, kalten Toten ins Antlitz leuchtete, aus dem die starren, weit geöffneten Augen sie grausig anblickten. Lange suchte sie vergebens. Endlich fand sie ihren Liebling in einem Knäuel von Leichen. Kein Klagelaut kam über ihre Lippen, als sie mit Löwenstärke den Körper aufhob und ihn aus der entsetzlichen Gemeinschaft loslöste. Sie legte ihn auf den Boden, riß die Kleider auf und suchte nach der Wunde; ein Schuß hatte ihn durchbohrt, unter dem Herzen war die kleine, aber unheilvolle Wunde, langsam tropfte das Blut heraus; das Herz stand still, der Puls war nicht mehr zu fühlen, kein Atemzug bewegte die Brust; er war tot, ihr Liebling, für den sie gelebt, den sie geliebt wie ihr eigenes Kind.

Anton weinte laut, ihr Schmerz fand keine erleichternde Thräne. Unbekümmert um Nässe und Kälte, die sie nicht einmal empfand, setzte sie sich auf den Boden und nahm den Toten auf ihren Schoß.

»Eile und hole die anderen, sie sollen alles Nötige mitbringen zum Transport,« sagte sie zu Anton. »Nimm die Laterne mit, ich brauche sie nicht. Dir kann sie von Nutzen sein.«

Er lief davon, der Laternenschein, der einem Glühwürmchen glich, verschwand in der Ferne. Es regnete nicht mehr, der Wind pfiff heulend über das Totenfeld, entferntes Wimmern, das Zurufen der Krankenträger, der Lärm des Biwaks schlug an ihr Ohr, sie achtete nicht darauf, ihr blieb nur der Gedanke an ihren Schmerz. Sie hatte ihn aufgerichtet, sein Kopf lag an ihrer Brust, das Antlitz war zu dem ihren emporgerichtet. Die alte Frau blickte in die geliebten Züge, welche der Mond beleuchtete, der jetzt zuweilen aus den zerrissenen Wolkenmassen hervortrat. Wie verändert waren sie, sonst voll sprühenden Lebensmutes, jetzt von den Schatten des Todes bedeckt. Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, wo sie den Neugeborenen in ihren Armen gehalten, seinen ersten Schrei vernommen hatte; wie hatte sie ihn gepflegt und gehegt, wie hatte er ihr bald alles ersetzt, was ihr der liebe Gott genommen. Sie dachte nicht bloß an sich; an den greisen Vater, dessen Stolz er gewesen, an die Schwester, die so innig an ihm hing, an den Freund, dem er so teuer war wie das eigene Leben.

So verrann die Zeit; die Nacht war kalt und ein schneidender Wind erhob sich; sie empfand nichts davon, ihre Seele war nur von ihrem Gram erfüllt; still brütend saß sie da wie eine Bildsäule.

Plötzlich kam Leben in sie; es war ihr, als hätte ein leiser Seufzer ihr Ohr getroffen – nein, es war nichts – sie mußte sich getäuscht haben, aber sie hoffte doch wieder. Von neuem fühlte sie den Puls, suchte sie nach dem Herzschlag, und ein freudiger Schauer durchrieselte sie. Noch wagte sie ihre Wahrnehmung nicht für Wirklichkeit zu halten, sie fürchtete, es sei der eigene Pulsschlag, der ihr in bebender Angst das Blut durch die Adern trieb und in ihren Schläfen hämmerte – aber doch – sein Herz schlug leise, unregelmäßig, aussetzend, die Brust hob sich von einem kaum bemerkbaren Atemzuge. Ein Dankgebet, zusammengepreßt in einem einzigen Seufzer der Erleichterung, entrang sich ihrer Brust und stieg zum Himmel empor. Sie bettete den Verwundeten in ihrem Schoß besser, sie hüllte ihn in ihre Kleidung, um ihn vor der Kälte zu schützen, sie wusch ihm Schläfe und Puls mit Wein und bemühte sich, ihm einige Tropfen davon einzuflößen.

Wie endlos erschienen ihr jetzt die Minuten, bis Beistand kam; jede derselben konnte den glimmenden Lebensfunken auslöschen, der der äußersten Pflege bedurfte, und sie war so hilflos, vermochte so wenig für ihn zu thun! Endlich tauchte ein Lichtschimmer in der Ferne auf, wie ein leuchtendes Pünktchen; er kam näher. Es waren Georg und Wilhelm, welche sie bei dem Laternenlicht erkannten.

Deren Freude war auch groß, als ihnen die Schulzen entgegenrief: »Er lebt, er ist nicht ganz tot!«

Nun galt es einen sorgsamen Transport. Sie hatten Decken, Stricke und mancherlei Geräte mitgebracht; aus den Trümmern eines Bagagewagens, der umgestürzt in der Nähe lag, stellten sie eine Tragbahre her, mit äußerster Sorgfalt wurde der schwach wimmernde Verwundete hinaufgelegt, voran die Schulzen mit der Laterne, ängstlich den Erdboden beleuchtend, um die Träger vor jedem Unfall, der eine Erschütterung des Kranken herbeiführen konnte, zu bewahren, und so setzte sich der kleine Zug langsam in Bewegung.

Anton und Fritz kamen ihnen schon mit dem Wagen entgegen; es wurde Halt gemacht, der Verwundete blieb vorläufig auf dem improvisierten Lager, und es galt nun einen Arzt zu beschaffen, denn sie wagten den schwer Getroffenen nicht weiter zu transportieren. Begleitet von Georg machte sich die Schulzen auf den Weg, die anderen sollten zurückbleiben und für Walter sorgen.

»Wenn ich den Doktor auch auf meinem Rücken hertragen soll, ich bringe ihn,« sagte sie entschlossen, aber die alten Beine zitterten unter ihr und oft glaubte sie, sie würde zusammenbrechen. Sie war in der ganzen Armee bekannt und beliebt, und so erreichte sie, was sonst unmöglich gewesen wäre; gerührt von ihrem Schmerz, begleitete sie einer der Ärzte vom Verbandplatze zu ihrem Pflegesohn.

In qualvoller Angst erwartete sie nun das Ergebnis der Untersuchung; die Kugel hatte den unteren Teil der Lunge berührt und war im Rücken stecken geblieben; die Sache war hoffnungslos, wenn ein größeres Blutgefäß zerrissen war, was sich noch nicht feststellen ließ; im günstigsten Falle galt es die höchste Lebensgefahr. Unbedingte Ruhe war für den Patienten erforderlich. Die Schulzen wollte ihn in ihrer Pflege behalten, und bei dem mangelhaften Zustande der schnell errichteten Lazarette, die noch dazu überfüllt waren, stimmte der Arzt gern zu. Ein zerschossenes Bauernhaus in der Nähe, das notdürftig Schirm gegen die Unbilden der Witterung gewährte, wurde ausgewählt, und dort richtete sich die Schulzen mit ihrem Pfleglinge ein. Georg und Wilhelm mußten zum Heere zurück, für Anton erhielt man um so leichter Urlaub, als durch die Schlacht der Krieg beendet war, da schon nach einigen Tagen die Gefangennahme des französischen Kaisers erfolgte.

Während der zweite Pariser Friede geschlossen wurde, während der »Northumberland« Napoleon zu der einsamen Felseninsel trug, auf der er sein Grab finden sollte, pflegte die Schulzen in unermüdlicher Sorgfalt, unterstützt von ihren treuen Helfern, ihren Kranken. Die unmittelbare Lebensgefahr war vorüber, die Kugel hatte sich gesenkt und saß im Rücken fest, das Fieber hatte den heftigen Charakter verloren und war zu einem schleichenden geworden, das sein Bewußtsein ungetrübt ließ, aber alles, was vor ihm lag, war langes, tödliches Siechtum. Er täuschte sich nicht über das Hoffnungslose seines Befindens, und nach schweren Kämpfen hatte er gelernt, sich mit Ergebung in das Unabänderliche zu finden. Er hatte das Leben so geliebt, es hatte ihm so viel versprochen, der einzige Trost blieb, daß er es für das Vaterland und nicht umsonst dahin gab. Ein brennendes Verlangen aber verzehrte ihn, die Sehnsucht nach der Heimat, nach dem Vaterhause, und wenn der Arzt zu ihm kam, so blickten ihn die eingesunkenen Augen so flehend an, so streckte er ihm so bittend die abgezehrten Hände entgegen, daß dieser einwilligte. Was war auch zu wagen! Hier mangelte es dem schwer Leidenden an so vielem, der Winter mußte bald in seiner Strenge das schlecht verwahrte Obdach ganz ungenügend machen, die Kräfte der Schulzen versagten mehr und mehr und ließen auch für sie Schlimmes befürchten; Hoffnung hegte der Arzt ja nicht, höchstens konnte der Tod beschleunigt werden durch die Anstrengungen der weiten Reise, und das hieß ihm vielleicht viel Schmerz ersparen. Auch der arme Vater verlangte dringend nach seinem Sohne. Die Pflichten seines Amtes machten ihn auf seinem Posten unentbehrlich, und er hatte deshalb, so schwer es ihm wurde, darauf verzichtet, zu ihm zu eilen; aber es war eine furchtbare Prüfung in dieser Trennung.

So wurde also die Reise beschlossen; mit Polstern, Betten und Decken war der Wagen der Schulzen in Fülle ausgestattet, um es dem Kranken so behaglich wie möglich zu machen, und der Buzefel trat den Heimweg an, der behutsam und in kleinen Tagemärschen gemacht wurde. Es ging über Erwarten gut. Endlich langten sie in Hohenstein an. Das Wiedersehen war herzzerreißend. Zwar bewahrte der Oberbürgermeister äußerlich seine Fassung, als die bleiche, gebrochene Jammergestalt, die dem Tod in allernächster Zeit verfallen zu sein schien, aus dem Wagen ins Haus gebracht wurde, er sprach dem geliebten Sohn tröstend zu, sobald er aber durch dessen Gegenwart nicht mehr aufrecht gehalten wurde, brach er zusammen und lag mehrere Stunden in vollständiger Ohnmacht des Geistes und Körpers. Auch die Schulzen war am Ende ihrer Stärke. Auf Lottchen fiel nun die Aufgabe, den geliebten Bruder zu pflegen, und sie that es mit der ihr eigenen Ruhe und Umsicht; Anton und Fritz standen ihr treu zur Seite. Es war eine sehr schwere Zeit. Der an Verzweiflung grenzende Schmerz des Vaters, die tiefe Niedergeschlagenheit der Schulzen, die Leiden des Kranken, alles stürmte auf das arme Kind ein, dem nur das Vertrauen zu Gott und die Erinnerung an die Mutter, von deren unsichtbarer Nähe sie überzeugt war, Kraft verlieh. Walters Ergehen blieb dasselbe, die Kugel verursachte die heftigsten Schmerzen, er sehnte sich nach dem Tode als einer Erlösung von langen, hoffnungslosen Leiden.

Fröhlich und stolz waren die lorbeergeschmückten Sieger heimgekehrt und hatten den jubelnden Dank ihres Volkes empfangen, dann hatten sie sich wieder eingestellt in die Reihen ihrer Mitbürger zu tüchtiger Arbeit und neuem Streben. Das Wiedersehen der beiden Freunde war tief ergreifend gewesen; Georg in der vollsten Lebensfrische, mit neuen Auszeichnungen geschmückt, neben ihm der dem Tode verfallene Kamerad. Er hatte sehr gewünscht, bei ihm zu bleiben und an seiner Pflege teil zu nehmen; Walter lehnte es aber ab und bestand darauf, er solle zu seinen Studien zurückkehren.

»Es geht sehr langsam mit mir,« sagte er mit trübem Lächeln, »ich darf dich nicht so egoistisch aufhalten. Mein armer Vater verliert in mir den Träger aller Hoffnungen; ich glaube nicht, daß ich sie erfüllt hätte, und ich bin in mein Schicksal ergeben; aber für ihn ist der Schlag noch schwerer; die Lebensjahre, die ihm bleiben, werden sehr traurige sein. Du mußt ihm meine Stelle ersetzen, Georg. Er hat sich in den letzten Jahren daran gewöhnt, dich fast wie einen zweiten Sohn zu betrachten; ich denke,« fügte er mit einem Anfluge seines früheren munteren Lächelns hinzu, »die Zeit wird nicht mehr fern sein, wo du in der That Sohnesrechte an ihn gewinnst, und da wird er durch dich auch in seinem Stolz Befriedigung finden.«

Georg war tief bewegt. Erst nach langem Widerstreben gab er dem Drängen des Freundes nach und reiste zur Universität ab. Auch seine Brüder waren jetzt wieder in ihrem Handwerk thätig, Wilhelm in der Werkstatt des Vaters und Fritz bei seinem alten Meister; doch brachte dieser letztere jede Freistunde in Walters Pflege zu, da er ihm sehr ergeben war.

Als die Wogen der Bewegung sich allmählich glätteten, als das kriegerische Treiben verstummte und das bürgerliche wie das Staatsleben wieder in die Bahnen ruhiger Entwickelung einlenkten, als in die stille Krankenstube nicht mehr die Kunde von neuen welterschütternden Ereignissen drang, vollzog sich in dem Befinden des Leidenden selbst eine Änderung. Die ruhige Geduld und die sanftmütige Ergebung, womit er bisher alle Leiden und die Aussicht auf einen frühen Tod ertragen hatte, verlor sich, er wurde ungeduldig, heftig, quälte sich und die Seinen und erschwerte die Pflege oft.

Die Ärzte verdoppelten ihre Aufmerksamkeit und Sorgfalt, ohne daß sie sich über ihre Vermutungen aussprachen; auf die Fragen der Angehörigen hatten sie nur ein Achselzucken und ausweichende Antworten. Endlich verlangten sie die Zuziehung eines berühmten Professors. Dies geschah natürlich sofort. Eine sorgfältige, äußerst genaue Untersuchung des Patienten und eine lange Beratung der Herren fand statt, dann teilte der Professor dem angstvoll harrenden Vater mit, daß eine neue Aussicht auf Rettung sich für den Verwundeten eröffnet habe, zwar unsicher und von höchster Gefahr, aber doch im Bereich der Möglichkeit liegend. Die heutige Untersuchung hätte die Vermutung der Ärzte bestätigt; die Kugel hatte sich so weit nach hinten gesenkt, daß man die Hoffnung hegen konnte, sie durch einen operativen Eingriff zu entfernen. Dadurch war eine teilweise Heilung der beschädigten Lunge nicht ausgeschlossen. Die Operation war eine gefahrvolle und sehr schmerzliche zu einer Zeit, wo man die Betäubungsmittel nicht kannte; bis jetzt weigerte sich der Kranke, sich ihr zu unterwerfen.

Doch dem armen Vater klang dies wie eine Engelsbotschaft; er sollte seinen einzigen geliebten Sohn, den er schon verloren gegeben, genesen sehen! Kaum vermochte er den Gedanken zu fassen, und die Ärzte mußten ihn zu seinem eigenen Besten immer wieder darauf hinweisen, mit welchen Gefahren die Operation verknüpft sein und daß Walter nie wieder seine volle Gesundheit erlangen würde.

»Wenn er nur erhalten bleibt,« sagte der Oberbürgermeister, »ich habe längst allen Stolz begraben, nur die Liebe blieb.«

Jetzt gelang es auch, Walters Einwilligung zu erhalten; dieser fürchtete nicht den Schmerz, aber ihm graute vor einem siechen, nutzlosen Leben, das er als ewig Leidender hinschleppen sollte.

»Du hast ja deine Gesundheit dem Vaterlande gegeben,« bat der Vater, »hast sie nicht unwürdig vergeudet, du warst zum Tode bereit, nun bringe deinem Vater das Opfer zu leben.«

»Ja wohl, Walterchen,« schloß die Schulzen an, »und wenn du auch ein bißchen wacklig bleibst, so brauchst du deshalb noch lange nicht den Mut zu verlieren. Denke an meinen Seligen! Der Mann war mit seinem einen Bein noch so viel wert, wie andere, die sechs gehabt hätten, wenn's möglich wäre! Du wirst auch schon was finden, wo du dich nützlich machen kannst, wenn du durchaus nicht ruhig bleiben willst.«

Die Operation wurde vollzogen und mit ungeahnt glücklichem Erfolge. Zwar mußten noch Monate verfließen, ehe man von dem Beginn der Genesung sprechen konnte, aber endlich trat diese doch ein. Welche Freude herrschte jetzt im Hause des Oberbürgermeisters und aller, die ihm nahe standen! Es war ein rührendes Bild, den alten Vater zu sehen, wie er beim ersten Ausgange, der dem Kranken erlaubt wurde, diesen sorgsam stützte und ihn ängstlich vor jedem rauhen Luftzuge zu behüten suchte.

Walter kehrte von neuem entmutigt in sein Zimmer zurück. Wieder klagte er um sein verfehltes, sieches Leben; er, der so voll Bewegung und Lust gewesen, sollte nun dahinschleichen, stets von anderen abhängig, eine Last für alle übrigen. Es dauerte lange, ehe er sich in sein Schicksal ergab. Doch endlich fand er Trost und Beruhigung, und von nun an ging es auch mit seinem Befinden besser. Als der quälende Mißmut gewichen war, begann er sich zu erholen, und zur allgemeinen Freude kräftigte er sich mehr, als man zu hoffen gewagt. Er war jetzt heiter und vergnügt, voll Dankbarkeit für alle Liebe, die ihm erwiesen wurde, voll Teilnahme für seine Umgebung.

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Zehn Jahre waren verflossen. Das preußische Vaterland erholte sich schnell von den Wunden, welche ihm die vergangene schwere Zeit geschlagen, Handel und Industrie erstanden zu neuer Blüte, der Wohlstand hob sich, vor allem aber betrachtete man es überall als die kostbarste Errungenschaft, daß man gelernt hatte, sich in ein großes Ganze zu fügen und in enger Verschmelzung mit demselben allein das Wohl der einzelnen Staatsglieder zu erkennen.

Auch Hohenstein nahm teil an dem neuen Leben; die Zahl seiner Einwohner wuchs von Jahr zu Jahr, stetig dehnte sich der Umfang der Stadt aus, neue Straßen mit schönen Häusern entstanden, die Wohlhabenheit der Bürger vermehrte ihre Steuerkraft, und zweckmäßige und gute Einrichtungen gaben von der richtigen Verwendung der städtischen Mittel Kunde. Der Silberschatz war wieder eingelöst und bildete die Grundlage eines Museums, das in fröhlichem Wachstum begriffen war; jedes Hohensteiner Kind kannte den Schatz, war stolz darauf und erzählte mit Freuden von seiner wunderbaren Bewahrung.

Georg Fisch lenkte jetzt als Oberbürgermeister die Geschicke seiner Vaterstadt, hoch geachtet und geehrt von seinen Mitbürgern, geliebt von allen, die mit ihm in Berührung kamen. Das stolze Hofratshaus wurde von ihm und seinem jungen Weibe bewohnt; zwei Kinder vermehrten das Glück der Eltern; Lottchen hatte ihm das Haus als Mitgift zugebracht, denn als ihr Vater dem Schwiegersohne sein Amt übergab, zog er sich zu Walter auf dessen Landgut zurück, das in geringer Entfernung von Hohenstein lag, und wen hätte er lieber in dem teuren Hause gesehen, als den Mann, der ihm lieb war wie ein eigener Sohn und dessen reine Gesinnung und unwandelbare Rechtschaffenheit Bürgschaft waren, daß hier auch ferner ein tüchtiges und tugendreiches Geschlecht hausen würde.

Walter hatte sich mehr gekräftigt als man zu hoffen gewagt; zwar blieb seine Lunge schwach und der größten Schonung bedürftig, doch schloß ihn dies nicht von aller Thätigkeit aus, wie er in den schweren Stunden der Niedergeschlagenheit fürchtete. Das Landgut, das sein Vater für ihn erwarb, gab ihm Gelegenheit zu gesunder Beschäftigung, er gewann den neuen Beruf lieb, bildete sich zu einem tüchtigen Landwirt aus und sorgte zugleich für das Wohlergehen seiner Arbeiter und Tagelöhner. Die Schulzen, die sich zwar tapfer gegen das Alter wehrte, die aber doch dem Feinde nicht genug widerstehen konnte, zog mit ihrem Lieblinge, den sie mit größter Sorgfalt pflegte und behütete; als sie nach einigen Jahren dies Amt einer lieblichen, jungen Frau übertragen konnte, war sie aber doch ganz zufrieden. Die Ruhe, nach der sie sich sehnte, genoß sie zwar nicht lange, denn sie war schrecklich eifersüchtig, als Walters erster Sohn in der Wiege lag, die einst Meister Fisch für ihn selbst gefertigt, und wollte niemand die Wartung des Kindes anvertrauen, in dem sie abermals einen künftigen Feldmarschall erblickte.

Die Beziehungen der beiden Nachbarfamilien waren durch die Verbindung Georgs mit Lottchen natürlich noch enger geworden; das unscheinbare Tischlerhaus aber war verschwunden, ein stattliches Gebäude erhob sich an dessen Stelle; im oberen Stock wohnte der Meister mit seiner Frau, im unteren herrschte ein munteres Leben, denn dort tummelte sich Wilhelms heranwachsende Familie; das ganze Erdgeschoß aber nahm die Werkstatt ein, in der ein Dutzend Gesellen kaum allen Bestellungen gerecht werden konnten. Der Meister und Gottlieb gingen schmunzelnd darin umher, hielten das junge Volk zur Zucht und Arbeit an und griffen auch selbst mit zu; des Abends aber nahm Gottlieb seine Pfeife, die er von Georg erhalten hatte und die der alten so ähnlich war, und ging zu seinem Patensohn hinüber; Lottchen kam ihm mit dem brennenden Fidibus entgegen, und wenn er dann behaglich qualmte – den Tabak lieferte Georg, echt Virginia – so sprachen sie von der Vergangenheit oder machten Pläne für die Zukunft in Hinblick auf die Kinder, die Gottlieb wieder über die Taufe gehalten.

Fritz Fisch war trotz seines lahmen Fußes ein tüchtiger Schlossermeister geworden, Minchen hatte bald nach dem Kriege ihren Schatz geheiratet und gab eine niedliche, energische Frau Meisterin ab, Dorchen, deren Haar wieder die einstige Schönheit, wenn auch nicht dieselbe Länge, erreicht hatte, war noch bei den Eltern.

Die Erste, die aus dem glücklichen Kreise schied, war die Schulzen. Ihr Ende war leicht und schmerzlos, ein sanftes Erlöschen der Lebensflamme. Sie war darauf gefaßt und freute sich, zu ihrem Seligen zu kommen. »Es hat mir sehr gut auf Erden gefallen,« sagte sie, »aber im Himmel soll's ja noch besser sein, und ich habe meinen Seligen schon lange warten lassen. Es freut mich nur, daß ich als Soldatenfrau begraben werde, und laßt nur die Schüsse tüchtig knallen; wenn's angeht, sehen wir beide, der Selige und ich, zu, ich habe immer an einem schönen Begräbnis mein Vergnügen gehabt, und wenn's nun gar mein eigenes ist!«

Ihr Wunsch wurde in vollem Umfang erfüllt; ganz Hohenstein beteiligte sich, denn sie war von alt und jung gekannt und geliebt, und die Kriegervereine aus der Stadt und der Umgegend gaben ihr das Ehrengeleit. Die Salven krachten über das frische Grab, der Geistliche sprach warm und zum Herzen gehend über ihr Leben, das so reich an Liebe und thätigem Wirken gewesen, und tief betrübt umstanden die beiden Familien, die ihr die nächsten gewesen, den Hügel. Anton, der jetzt als Majordomus in Walters Hause schaltete, hatte den Buzefel mitgeführt; die Schulzen hatte das treue Tier so lieb gehabt, und er gehörte zu ihr, wie das Schlachtroß zum Feldherrn. Er stand draußen an der Kirchhofsthür und wartete auf Antons Rückkehr mit betrübt gesenktem Haupt, als wüßte er, welch' einen traurigen Dienst er heut gethan; nur als die Ehrensalven ertönten, erhob er den Kopf, die alten Augen flammten, und er stieß ein Wiehern aus, das den Erinnerungen an die durchlebten Ereignisse galt.

Unter den Klängen des Dessauer Marsches, der ihr Lieblingsmusikstück gewesen, kehrte die Trauerversammlung vom Kirchhof zurück. Die Schulzen hatte das auch gewünscht. »Erst einen schönen Choral,« hatte sie gesagt, »der die Seele zum Himmel erhebt, dann die Ehrensalve und dann ein fröhlicher Marsch. Die Trauer zu ihrer Zeit, dann wieder ins frische Leben hinein.«

Im Leben standen sie alle und schafften und wirkten darin; das Leben genossen sie und freuten sich seiner Schönheit; aber sie gedachten auch der schweren Zeit und ernteten deren Früchte: Gottvertrauen und ernste Pflichterfüllung. Und daneben waren sie auch, wie es einst der greise Pfarrer ihnen an einem großen Tage zugerufen, der teuren Toten eingedenk, denn das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen.


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