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Georg empfand die Entfremdung tief, die ihm viel Schmerz verursachte; er machte verschiedene Versuche, sie zu beseitigen; aber es stand etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, und sein Selbstgefühl erlaubte ihm nicht, zu weit zu gehen, um nicht eine Zurückweisung zu erfahren. Walter aber brauchte jemand, dem er sich rückhaltlos hingeben, dessen Leitung er folgen konnte, und er fand in Ernst Feldheim einen solchen guten Freund. Nun kamen noch die Einladungen dazu, die sich nicht auf Georg mit erstreckten; bis jetzt hatten sie alles gemeinsam genossen, nun hatte Walter Erlebnisse, von denen Georg, nichts wußte, die er aber mit den Gefährten der Tanzstunde besprechen konnte; das machte die Kluft größer. Er schämte sich jetzt vor Georg seines Wankelmuts und scheute sich auch wieder, ihn als seinen besten Freund anzuerkennen; daher war er ganz froh, ohne ihn die Festlichkeiten besuchen zu können, weil er sich freier fühlte. Außerdem machten ihn die neuen Freunde mit mancherlei bekannt, was ihm bisher fern gelegen hatte.
Walter und Georg hatten sich bisher genügt, und obwohl lebhaft, oft wild und zu übermütigen Streichen aufgelegt, hatten sie nie etwas gethan, was die Augen der Eltern zu scheuen gehabt hätte. Mit den anderen Knaben war das nicht so. Sie hatten mancherlei vor Eltern und Lehrern zu verbergen, und es machte ihnen nun Freude, Walter in ihre Geheimnisse einzuweihen. Da war vor allen Dingen eine stille Stube in einem Wirtshause vor dem Thore, das ziemlich gering von Ansehen war, und hier gaben sich die jungen Herren dem Trinken und Tabakrauchen hin.
Sie bestürmten Walter, sie dorthin zu begleiten; daß es ihm große Schwierigkeiten machte, der Beobachtung zu entgehen, erhöhte den Reiz nur, den das Verbotene hatte. Es war am Ende nicht so schwer, dem Magister ein Schnippchen zu schlagen; der gute Mann hatte nur Gedanken für seine Bücher; er glaubte seine Schuldigkeit erfüllt zu haben, wenn er seine Zöglinge tüchtig in den Wissenschaften förderte, und freute sich, wenn er, von ihnen befreit, dem eigenen Studium obliegen konnte. Des Abends pflegte er wohl, ehe er seine Kerze auslöschte, nochmals in Walters Zimmer einzutreten, um sich nach einem Blick auf dessen Lagerstätte beruhigt zurückzuziehen. Seinem kurzsichtigen Auge flößte die aus Leinenzeug hergestellte Figur, welche ihm den Rücken zukehrte, nicht den geringsten Verdacht ein, er nahm sie für den schlummernden Zögling, der unterdes das kleine Fenster neben der Hausthür zum Hinausschlüpfen benutzt hatte. Wegen der beträchtlichen Entfernung vom Erdboden wurde es durch keine Laden verschlossen; Walter ließ es angelehnt und kehrte spät in der Nacht auf demselben Wege zurück.
Am nächsten Morgen sah er bleich und angegriffen aus und vermied Georgs Augen, die besorgt auf seinem Gesichte hafteten. Er war außer stande, in den Unterrichtsstunden etwas zu leisten, und mußte den Lehrer bitten, ihn wegen seines Übelbefindens zu entlassen. Ein peinvoller Zustand folgte; die Mutter saß in größter Angst neben seinem Lager und fürchtete, ihr Liebling müsse diesen Qualen erliegen; der sonst so ernste Vater, den sein Amt jetzt von früh bis spät in Anspruch nahm, kam mehrmals aus seiner Studierstube, um selbst nach dem Sohne zu sehen, und schickte später vom Rathause den Amtsdiener herüber, um Erkundigungen über den Kranken einzuziehen.
Nur die Schulzen behielt den Kopf oben: sie tröstete die Frau Hofrätin und bewog sie mit vieler Mühe, ihr die Pflege zu überlassen. Mit dem Doktor, den die besorgten Eltern sogleich herbeiriefen, hatte sie eine vertrauliche Unterredung, denn ihren erfahrenen Augen war die Natur der Krankheit nicht entgangen. Der Jammer, der dem Genusse der ersten Pfeifen und einiger Gläser Bier folgt, mußte durchgemacht werden und konnte dem Mosjeh Walter zur gerechten Strafe dienen; aber sie fürchtete den Zorn des Bürgermeisters wie den Gram der Mutter und ersuchte deshalb den Doktor, dem Unwohlsein seinen dunkeln Charakter nicht zu rauben.
Sie selbst las ihrem Pfleglinge tüchtig die Leviten, sobald er fähig war, die Strafpredigt zu hören, und in dem jammervollen Zustande seines noch nicht überwundenen Übelseins zeigte Walter die tiefste Reue und gelobte Besserung. Aber diese Anwandlung schwand, als ihn die neuen Freunde tüchtig auslachten. In wenigen Jahren würde er Student werden; warum konnte das jetzt eine Sünde sein, was dann zum flotten Bruder Studio gehörte? Er mußte doch die Lehrzeit, die jeder in diesem Genusse durchzumachen hatte, und die nicht ohne ihre Schattenseiten war, dann hinter sich haben, und ab und zu konnte er sich solch kleines stilles Vergnügen schon gestatten, das Schlimmste war ja nun überstanden.
So war Walter bald wieder von den Versuchern gewonnen; der Magister, der schon oft während der Tanzstunde zu klagen gehabt, wurde immer unzufriedener; die Schulzen schüttelte den Kopf und Georg versuchte vergebens, den Freund umzustimmen. Er argwohnte manches, wußte aber nichts Gewisses. Es gab jetzt öfter scharfe Worte zwischen beiden; Walter verbat sich ein- für allemal den Hofmeisterton und gab Georg zu verstehen, daß er ganz und gar vergäße, daß sie nicht auf einer Stufe ständen, und daß für den Hofratssohn manches sich schicke und erlaubt sei, was ihm von seinem beschränkten Standpunkte aus anders erscheine. Ihre Wege müßten sich so wie so trennen; da sei es Zeit, den Anfang zu machen. Georg war tief gekränkt; aber der Gedanke an seine Unterredung mit der Hofrätin und das Versprechen, das er dieser gegeben, vermochten ihn, die Beleidigung zu übersehen und immer von neuem in Walter zu dringen, damit dieser sein Verhalten ändere.
Dessen Eltern entging die Gefahr des Sohnes völlig. Die große Thätigkeit des Vaters, die Krankheit der Mutter verhinderten beide, viel von Walter zu sehen, dem die empfangene Lehre wenigstens so viel genutzt hatte, daß er den Besuch des Wirtshauses nicht zu wiederholen wagte, obwohl die verbotenen Zerstreuungen fortgesetzt wurden, aber in der Wohnung seiner jetzigen Freunde. Georg getraute sich nicht, gegen die Hofrätin eine Andeutung zu machen, wie er zu anderer Zeit und unter anderen Umständen wohl gethan hätte. Er bekam sie jetzt sehr selten zu Gesicht, da sie ihr Zimmer fast nie mehr verließ, und ihre gebrochene Gestalt flößte ihm stets die Ahnung schweren Unheils ein.
Lottchen war beständig um die Mutter und leistete ihr all die kleinen Dienste, welche sie nötig hatte, während Walter ohne jede Beaufsichtigung blieb. Ernst und Hermann hatten ihn wieder eingeladen; die Eltern des ersteren waren verreist, und sie wollten sich mit einigen Freunden einen vergnügten Tag machen. Natürlich sollten wieder Rauchen und Trinken die Hauptrolle dabei spielen. – Der Vater gab ohne Argwohn die Erlaubnis, gegen die der Magister nichts einzuwenden hatte, und Walter wollte eben fortgehen, als ihn Lottchen zur Mutter hereinrief.
Die Hofrätin saß in einem Lehnstuhl, von Kissen unterstützt; die eingesunkenen Augen, die abgezirkelte Röte der Wangen, die gebeugte Haltung berichteten eine traurige Kunde, von welcher der Sohn nichts verstand.
»Du sagst mir jetzt höchst selten Adieu,« sagte die Mutter vorwurfsvoll; »ich sehe dich überhaupt so selten, mein Walter.«
Er wurde verlegen, sein Gewissen flüsterte ihm dasselbe zu. »Du schlummerst meist um diese Zeit,« entschuldigte er sich, »und ich fürchte oft, dich zu stören.«
»Ich sehe dich immer gern,« erwiderte die Mutter zärtlich; »jeder Augenblick unseres Beisammenseins macht mich glücklich.«
Sie hielt seine Hand in der ihren, die so durchsichtig und fieberheiß war, daß ihn eine unbestimmte Angst erschreckte. »Soll ich lieber nicht gehen?« fragte er tonlos, setzte aber sogleich hinzu: »Die anderen erwarten mich; ich leiste morgen Gesellschaft.«
Ein leiser Schatten glitt bei seinen letzten Worten über das Gesicht der Kranken. »Nein, ich will dich nicht zurückhalten, mein Sohn,« sagte sie; »sei vergnügt und denke dabei manchmal an deine Mutter, die dich mit ihren Gedanken umgiebt.«
Sie küßte ihn auf die Stirn, und er ging langsamen und zögernden Schrittes fort. Die Einladung war ihm verleidet, er empfand ein tiefes Unbehagen; sein Gewissen sagte ihm, daß er die kranke Mutter nicht hätte verlassen sollen, wenn sie sich nach ihm sehnte, und eine heiße Röte stieg in seine Wangen bei der Erinnerung an ihre letzten Worte; wie würde sie sich entsetzt und betrübt haben, wenn sie ihn hätte im Geiste sehen können.
Die anderen Knaben waren schon versammelt; Ernst hatte seine Vorbereitungen alle gut getroffen, mit Hilfe der gewissenlosen Dienstboten, die alle seine Wünsche erfüllten und ihm gern zu unerlaubten Dingen verhalfen, damit sie selbst sein Auge nicht bei verbotenem Thun zu scheuen hätten. Der junge Wirt hatte eine Bowle voll dampfenden Punsches gebraut, der Tabakskasten stand auf dem Tische, eine Anzahl Pfeifen lagen daneben, sogar ein Becher mit Würfeln wurde hervorgeholt, als sich die Stimmung der Gäste durch einige Gläser des heißen Getränkes gehoben hatte. Die Knaben gehörten den vornehmsten Familien der Stadt an, standen aber ihres Betragen wegen nicht im besten Rufe in der Schule.
Walter hielt es heute für unmöglich, sich in ihre ausgelassene Lustigkeit hineinzufinden. Das Bild der kranken Mutter, noch mehr ihre letzten Worte wichen nicht aus seiner Seele. Er ließ ruhig die Sticheleien der übrigen über sich ergehen, trank wenig, zündete seine Pfeife nur der Form wegen an und lehnte dagegen ganz entschieden ab, sich an dem Würfelspiel zu beteiligen.
»Der heilige Georg hat den Drachen in ihm ausgetrieben,« höhnte Ernst.
»Hat dich dein Tischlerjunge wieder vorgehabt?« spöttelte Hermann, »und hat er dir vielleicht befohlen, heute den Duckmäuser zu spielen?«
»Ich lasse mir von niemand Befehle geben,« rief Walter gereizt; »aber ich denke, ich gehe jetzt nach Hause, ihr verliert nichts an mir.«
Sie redeten ihm stürmisch zum Bleiben zu, und er ließ sich bestimmen. Die Würfel wurden beiseite geschoben, auf die fröhliche Studentenzeit angestoßen, und Walter vergaß allmählich seine Vorsätze. Ernst blinzelte den anderen zu. »Wir wollen uns dennoch amüsieren,« flüsterte er; »sind's nicht die Würfel, so ist's auf andere Weise.« – »Seht her!« rief er laut, indem er ein Geldstück in die Höhe warf. »Ich wette, das Bild des Königs fällt nach oben.«
Es geschah in demselben Momente, aber niemand hatte die Wette gehalten. »Was gilt's,« rief er wieder. »Ich setze einen Silbergroschen; wer will auf das Gegenteil halten?«
Hermann meldete sich; die anderen sahen mit Interesse zu.
Das Glück war Ernst hold; der Versuch wurde noch einmal gemacht, jetzt gewann der Gegner. Die anderen Knaben beteiligten sich nun auch, es fehlte ihnen nicht an Taschengeld, sie machten geringe Einsätze, aber das Spiel ging rasch weiter. Nur Walter versagte standhaft seine Beteiligung. Er wußte, wie erzürnt der Vater darüber gewesen sein würde, aber noch mehr als dies hielt ihn der Gedanke an die Mutter zurück; er schauerte zusammen, wenn er sich vorstellte, sie könnte ihn hier sehen, wünschte sich zu ihr und nahm sich vor, nicht wieder mit diesen Knaben zusammenzukommen, die ihn vor sich selbst erniedrigten und denen er doch nur mit Mühe widerstand. Georg war ein anderer Freund, bei ihm wollte er vor falschen Genossen Schutz suchen.
Von neuem drangen die anderen in ihn, an dem Spiel teilzunehmen, aber sie hatten keine Macht mehr über ihn; ihre Spötteleien machten ihm den Widerstand nur leichter.
»Ich will euch von dem Spielverderber befreien!« sagte er endlich und griff nach seiner Mütze.
»Recht so; lauf und beichte deinem Tischlerjungen, damit er alles an die große Glock schlägt,« sagte Hermann verächtlich.
»Ich werde euch nicht verraten,« erwiderte Walter ruhig; »aber bleiben will ich nicht.«
Er machte sich mit ungewohnter Entschiedenheit los und eilte fort. Es war dunkel; ein feiner Regen sprühte herab und kühlte seine glühenden Wangen. Das that ihm wohl, und er machte einen Umweg, um länger mit sich selbst allein zu sein. Ja, er war auf falschem Wege, doch es sollte anders werden. Er brauchte jemand, dem er sich eng anschließen, mit dem er alles teilen konnte, und das war Georg und sollte es auch bleiben. Er wollte nicht wieder mit solcher Gewissenspein vor der Mutter stehen.
Als er heimkam, trat ihm die Schulzen mit verstörtem Gesicht entgegen. »Gottlob, daß du kommst, Walterchen,« sagte sie; »ich hatte Johann nach dir geschickt, es geht nicht gut mit der Frau Mutter.«
Walter taumelte, sie fing ihn in ihren Armen auf und drückte ihn an ihre Brust, während sie ihn mit Küssen bedeckte. »Mein armer Junge, es ist so schwer für uns alle,« flüsterte sie. »Gott vermag viel, er allein kann helfen. Nimm dich zusammen, sie will dich sehen.«
Sie beruhigte ihn mit Mutterzärtlichkeit und führte ihn dann in das Krankenzimmer. Eine Sterbende lag auf den weißen Kissen, die nicht farbloser waren als ihr Antlitz.
Sie streckte Walter mit zufriedenem Lächeln die Hand entgegen; sprechen durfte sie nicht, denn schon bei der geringsten Bewegung traten Blutstropfen auf ihre Lippen. Vor einer Stunde war ein großes Gefäß in der Brust der Kranken gesprungen, und der Arzt hatte ihr unbedingtes Schweigen zur Pflicht gemacht.
Neben dem Bette saß der Bürgermeister, ein gebrochener Mann, der nur Augen für die Leidende hatte, jeden ihrer schnellen, mühsamen Atemzüge belauschte; Lottchen benetzte ihr zuweilen die trockenen Lippen und gehorchte dem leisesten Winke des Doktors, und die Schulzen glitt geräuschlos aus und ein. So verrannen die Stunden, langsam, in Todesangst, jede Minute benahm den angstvoll Wachenden mehr die Hoffnung.
Das Auge der Kranken richtete sich mit forschendem Ausdruck auf die wieder eintretende Schulzen, die einer leisen Bewegung der Thür gefolgt und hinausgegangen war.
»Es ist Georg, der hören wollte, wie sich die Frau Hofrätin befinden,« berichtete sie.
Mehr mit dem Blick als mit den Lippen begehrte die Kranke seinen Eintritt. Als er vor ihrem Lager stand, streckte sie ihm die Hand entgegen und flüsterte: »Lebe wohl, Georg; erinnere dich an dein Versprechen!«
Leise weinend beugte er sich nieder und küßte die schon erkaltete Hand. »Immer und stets!« sagte er innig.
»Lassen Sie mich nur gewähren, Herr Doktor,« sagte die Sterbende leise, als der Arzt eine abwehrende Bewegung machte. »Sie wissen ja, daß es keine Hoffnung zum Leben für mich giebt.«
Der alte Hausarzt trat wortlos zurück; was vermochte seine Kunst hier, wo ein höherer Wille dem armen Menschenherzen Stillstand gebot. Die Kranke nahm nun Abschied, tröstete ihren Gatten, der alle Fassung verloren hatte, und war ruhig und ergeben.
»Sei fest, mein Walter,« sagte sie zu diesem, »und sei auch treu in deiner Freundschaft für Georg. Mein armes, kleines Lottchen, du mußt die Mutter schon so früh entbehren; sorge du nun für den Vater, du mußt ihm meine Stelle ersetzen.«
Dann dankte sie der Schulzen für alle Treue, die sie ihr und ihren Kindern bewiesen, drückte auch dem alten Johann, der weinend an der Thür stand, die Hand und sank erschöpft zurück. Unbeschreiblicher Friede breitete sich über ihr Antlitz, die Atemzüge wurden leiser, die Lippen bewegten sich flüsternd, sie schien zu beten; aber es war unmöglich, die Worte zu verstehen. Zuweilen öffneten sich die matten Lider, sie blickte die Ihren an, unendliche Liebe malte sich in ihren Augen, aber bald schlossen sie sich wieder, es senkte sich ein sanfter Schlummer auf sie herab, und ruhig, ohne jeden Kampf sank sie in den ewigen Schlaf.
Ein düsterer Trauerflor legte sich auf das verwaiste Haus, dem die Mutter entrissen war. Die Hofrätin hatte still und zurückgezogen gelebt, selten war sie in den letzten Jahren aus ihren Zimmern gekommen, aber doch war sie die Seele des Hauses, die mit ihrem milden Einfluß die Ihren lenkte und leitete. Der Hofrat war durch den schweren Verlust tief gebeugt, überall fehlte ihm seine Gattin, und wenn ihn sein Amt oft halbe Tage lang von ihr ferngehalten hatte, so wußte er doch, sie war da und stets bereit, seine Sorgen zu teilen, seinen Verdruß zu mildern, seine Heftigkeit zu zügeln; nun begleitete ihn das Gefühl der Öde und Verlassenheit überall, sein Haus war ihm verleidet, er fand nur Vergessenheit in der Fülle der Geschäfte, mit denen er sich umgab. Er arbeitete von früh bis spät und behielt kaum Zeit übrig für die Mahlzeiten, die einzige Veranlassung, die ihn mit seinen Kindern zusammenführte. Dann war er finster und teilnahmlos, überall vermißte er die Gegenwart der einen, um die sein Herz trauerte, und er fühlte sich erleichtert, wenn er wieder in sein Bureau trat. Lottchens kleine Hand legte sich wohl schüchtern auf seinen Arm, und das Kind versuchte ihm ein Lächeln abzugewinnen, aber er vermochte nicht darauf einzugehen.
»Laß gut sein, Lottchen,« tröstete die Schulzen, wenn sie das tiefe Weh auf dem jungen Gesichte sah; »der Herr Vater merkt's doch, wie lieb du ihn hast, und das thut ihm wohl; mußt nur nicht das Köpfchen hängen lassen. Ich habe damals meinen Seligen und die beiden Kinder begraben und dachte auch, das Herz müßte mir brechen; aber der liebe Gott heilt die Wunden, die er schlägt, und so ist es auch hier. Nur mußt du nicht vergessen, daß sich die selige Mama auf dich verlassen hat. Das Frauenzimmer darf nicht viel an sich selbst denken, sondern muß immer für andere sorgen, dann ist's auf dem rechten Wege, und es kann ihm nicht schlecht ergehen.«
Das kleine Mädchen trocknete seine Thränen und half der Schulzen die Wäsche sortieren, die schneeweiß und glatt gebügelt in der Vorratskammer stand.
»Das war der Frau Mama Herzensfreude, als sie noch nicht so schwach war,« erzählte die ehemalige Kinderfrau; »ich kann mit meinen alten Augen die Muster nicht mehr recht erkennen, und die Nummern auch nicht; aber du wirst es schon lernen. Bald kannst du den Schlüssel zu den Leinenschränken übernehmen und hältst sie dann so schön in Ordnung, daß die Selige im Himmel sich daran freuen muß.«
Auf diese Weise ging ein häusliches Amt nach dem anderen in Lottchens Hände über, und wie eine Elfe glitt sie helfend und ordnend durch das Haus. Sie besaß ein wunderbares Talent, einem jeden seine Wünsche an den Augen abzulauschen, und so sorgte sie für die Behaglichkeit von Vater und Bruder, ohne daß diese selbst es gewahr wurden, wer eigentlich der gute Hausgeist war.
Um so mehr erkannte Georg dieses stille, fürsorgende Walten an, und es war ihm die größte Freude, wenn er etwas für sie thun oder ihr etwas Angenehmes bereiten konnte; in ihm fand sie stets einen teilnehmenden Freund, bereit, auf alles einzugehen, was ihr Herz in Freud' oder Leid berührte.
Es waren kaum einige Monate seit dem Tode der Hofrätin verflossen, als eine Trauerkunde das ganze Land durcheilte, der sich niemand verschließen konnte. Alle Stände, alle Lebensalter wurden davon berührt, die lebensfrohe Jugend wie das müde Alter vernahmen mit gleichem Schmerz die Botschaft von dem Tode der Königin, der engelgleichen Dulderin, deren Mut und Seelengröße im Unglück ihr noch mehr die Bewunderung und Verehrung ihres Volkes gewonnen hatte, als einst ihr strahlender Liebreiz in den Tagen des Glücks. Wie hatte das ganze Land sich gefreut, als endlich das geliebte Königspaar aus der Verbannung im fernen Osten in die Hauptstadt zurückkehren durfte, und so dunkel auch die Wolkennacht blieb und so schwer das fremde Joch drückte, es war einem jeden gewesen, als müsse es nun besser werden, nun die Königsfamilie in der Mitte des getreuen Volkes wieder wohnte.
Doch nun fiel der zerschmetternde Schlag blitzartig hernieder auf das Haupt des Königs und seiner jungen Kinder, und mit ihm trauerte tief und innig ein ganzes Land. Der Sehnsucht ihres Herzens nach dem geliebten Vater folgend, hatte die Königin anscheinend wohl die Reise angetreten, hatte sie im Vaterhause, wohin ihr der Gemahl für kurze Zeit nachgereist war, noch einige Tage ruhiger Zufriedenheit genossen, denen der dunkle Hintergrund alles erlebten Wehes nicht fehlte, und dann war das Furchtbare schnell und unerwartet hereingebrochen.
Nur ihre irdische Hülle kehrte nach Preußen zurück, der verklärte Geist war allem Leid entrückt. Um so schwerer drückte der Schmerz das verwaiste Land. Ein Gefühl beseelte alle, die tiefste Trauer; es war, als sei nun der letzte Hoffnungsschimmer erloschen, als habe Gott selbst seinen Engel zurückgefordert, weil er sich von dem unglücklichen Lande abwenden wollte auf immer.
So empfand der Bürgermeister den schweren Verlust, und die Bitterkeit des eigenen Wehes wurde durch den trostlosen Schmerz um das deutsche Vaterland noch vermehrt. Längst hatte er aufgehört, auf den Kaiser zu hoffen; es war für ihn ein furchtbarer Schlag gewesen, als dieser selbst die Krone Deutschlands niederlegte, um sich nur noch Kaiser von Österreich zu nennen, und als er nun, nachdem jeder Versuch, sich gegen die Macht Napoleons aufzulehnen, gescheitert war und Österreich machtlos dem Sieger zu Füßen lag, die eigene Tochter als Gemahlin des Verhaßten ihm auslieferte, da verlor der stolze Bürger allen Mut und alles Vertrauen. Sein Gemüt verdüsterte sich mehr und mehr, er grollte mit sich und der Welt, und als ihm nun die Gattin entrissen wurde und ihr sanfter Zuspruch ihn nicht mehr beruhigen konnte, da zog er sich ganz in sich selbst zurück und fand seinen einzigen Trost in der strengen Erfüllung der mannigfachen und schwierigen Pflichten, die sein Amt ihm auferlegte.