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Zwanzigstes Kapitel.
Samariterdienste.

Der Gottesdienst in Hohenstein war beendet; durch die geöffneten Doppelthüren schien die Frühlingssonne und erfüllte die alte Stadtkirche mit verheißungsvollem Lichte, die Andächtigen traten hinaus, noch unter der Weihe der durchlebten Stunde. Von der Kanzel herab war das Wort des Königs an sein getreues Volk ergangen, worin er dasselbe zu den Waffen gegen den Erbfeind, die Franzosen, rief, und daran hatte sich die Aufforderung des Geistlichen an alle wehrfähigen Männer, die noch nicht dem Heere angehörten, geknüpft, hin an den Altar zu treten und sich dort an heiliger Stätte den Fahnen zu geloben.

Keiner war zurückgeblieben und keiner war zurückgehalten worden, mochte er auch die letzte Stütze des Alters, der Versorger einer hilflosen Familie sein. Eine nie gekannte Begeisterung hatte das ganze Volk ergriffen; es wurde als das höchste Vorrecht der Jugend empfunden, die Waffen ergreifen zu dürfen, auch ältere Leute waren bereit und gerüstet, im Falle der Not ein jedes Werkzeug zum Schutze von Herd und Familie zu gebrauchen. Tiefer Ernst lag auf den Zügen eines jeden, und doch ein freudiger Opfermut, ein Sichselbstvergessen, das verklärend und veredelnd die Menschen über sich selbst erhob.

In der Nische an der Kirchthür stand oder lehnte vielmehr ein Bettler, dessen jammervolles Aussehen zweifellos einen der Unglücklichen verriet, die früher zur großen Armee gehört hatten und der dem gräßlichen Tode in Rußlands Schneefeldern entgangen war, um einem nicht minder furchtbaren Ende zu verfallen, denn mit den wenigen Flüchtigen, die dem Hunger, der Kälte und dem Schwerte der Kosaken entronnen, zog die unerbittliche Krankheit, deren Todeskeim sie in sich trugen und die nicht nur sie bedrohte, sondern die allen, mit denen sie in Berührung kamen, gefährlich wurde. Deshalb hatten die Behörden die strengsten Vorsichtsmaßregeln getroffen, um das Eindringen der Unseligen in ihre Mauern zu verhindern. Wohl mochte das Mitleid erwachen beim Anblick der Jammergestalten, wohl vergaßen die Bürger, was der Übermut der siegesgewissen Fremdlinge an ihnen gefrevelt, als diese vor wenigen Monaten dem Osten zuzogen; sie eilten hinaus und speisten die todesmatten, dem Verhungern nahen Elenden, die in den schneebedeckten Gräben längs des Weges lagen – aber ein strenges Verbot und ein inneres Grauen hielt sie zurück, den Ärmsten das schützende Dach zu gewähren, nach dem sie verlangten.

Zuerst waren die ostpreußischen Landschaften von den Flüchtlingen überschwemmt worden; dort war auch die gefährliche Seuche bereits ausgebrochen, und man hatte, um die Forderungen der Menschlichkeit mit denen der Klugheit zu vereinen, in genügender Entfernung von den Thoren Nothütten errichtet, in denen die Unglücklichen Zuflucht finden sollten, die aber bald zur Stätte des Leidens und Sterbens wurden. Der Krieg sucht nicht allein auf dem Schlachtfelde seine Opfer, schrecklicher sind seine Begleiter, Hunger und Krankheit. Was für grauenhafte Bilder hatte die Schneemasse mitleidig verhüllt, die jetzt, wo sie der Sonne des Frühjahrs wich, in ihrer vollen Entsetzlichkeit hervortraten! Leichen, Hunderttausende von Leichen lagen da auf den blutgetränkten Feldern, den Überlebenden neue Gefahr drohend; es war unmöglich, sie in die Erde zu bergen, und von riesigen Scheiterhaufen stieg Tag und Nacht ein unheimlicher Rauch in die Höhe.

Mit Anstrengung raffte sich der Bettler empor und trat auf die Kirchgänger zu, wie um sie anzureden, doch jeder wich mit Grauen vor ihm zurück. Endlich näherte sich ihm ein Stadtdiener, um ihn in das Siechenhaus fortzuführen, das schon mehrere solcher Gäste beherbergte. In diesem Augenblick gingen Meister Fisch und Gottlieb vorüber; sie sahen mitleidig auf die traurige Gruppe, doch verwandelte sich das sogleich in das größte Interesse, denn trotz der Verheerungen, die Hunger und Krankheit hier angerichtet, erkannten sie die Züge von Fritz Schlaben, der einst für Karl so verderblich gewesen war.

Aller Groll schwand bei dem Anblick solchen Elends, und von Mitgefühl überwältigt sagte der Meister zu dem Stadtdiener: »Laßt ihn, er war der Freund meines ältesten Sohnes; wir wollen ihn in mein Haus mitnehmen.«

»Es ist gegen die Ordnung,« wandte der Beamte ein; »der Mann ist krank, die Ansteckung kann durch ihn geschehen.«

»Laßt mich nicht fortbringen, Meister Fisch!« bat der Unglückliche, der zu Boden gesunken war und den Gottlieb in einer halbsitzenden Stellung gegen die Mauer lehnte. »Ich habe mich Hunderte von Meilen fortgeschleppt, um hier zu sterben; aber ich will nicht hinaus an den schrecklichen Ort, wo man fern von allen Menschen unter lauter Todesgefährten wie ein Tier verendet.«

»Habt Ihr noch jemand in der Stadt, der Euch angehört?« fragte der Meister bewegt.

»Niemand,« lautete die Antwort; »ich weiß nicht, wo die Meinen geblieben sind. Die Eltern sind längst tot; um die Geschwister habe ich mich nie gekümmert, sie mögen auch irgendwo verdorben oder gestorben sein oder, geht's ihnen gut, so wollen sie doch von mir nichts wissen. Aber ich mußte Hohenstein noch einmal sehen; das hat mir Kraft gegeben auf dem langen, entsetzlichen Wege, und nun soll ich ausgestoßen werden!«

»Habt Ihr etwas von meinem Karl gehört?« fragte der Meister mit bebender Stimme; seine Frau, die neben ihn getreten war, faßte seinen Arm, um sich daran zu halten, und die Menschen, die im Kreise herumstanden, hielten den Atem an, um zu lauschen, denn Karls Name lebte in aller Munde.

Der Kranke schüttelte den Kopf. »Vor Jahren bin ich ihm begegnet; mein damaliger Herr hat mich fortgejagt, und der Korporal, von dessen musterhafter Führung das ganze Regiment voll war, wollte nichts von mir wissen. Er gab mir Geld und hieß mich gehen.«

Die Eltern atmeten auf, die Zuhörer mit ihnen. Der Oberbürgermeister, der den Auflauf wahrnahm, trat herzu, und der Meister bat ihn um die Erlaubnis, den Leidenden in seinem eigenen Hause verpflegen zu dürfen.

»Die Gefahr ist groß,« antwortete der Oberbürgermeister; »denkt an Eure eigene Familie.«

»Ich sorge für ihn,« rief Gottlieb; »es soll niemand zu ihm, außer mir, und ich fürchte mich nicht!«

Der Kranke blickte mit solcher Angst in den tief eingesunkenen Augen auf den Oberbürgermeister, daß dieser von Mitleid bewegt wurde, und der Meister und seine Frau baten so sehr, daß er seine Erlaubnis zu dem Transport gab, auf das Versprechen des Meisters, daß alle vom Arzt verlangten Vorsichtsmaßregeln befolgt würden.

»Dank, Dank,« stammelte Fritz Schlaben, »o, Meister, ich habe es nicht um Euch verdient!«

»Still!« gebot der Meister. »Ich bin Gott so vielen Dank schuldig, daß ich es mit Freuden thue.« Aus Rücksicht für den Unglücklichen mochte er nicht mehr sagen; aber seine Mitbürger fühlten mit ihm, daß er glücklich war, daß nicht sein Sohn das Schicksal des ehemaligen Jugendgefährten teilte, der körperlich und geistig verkommen zu Grunde ging.

Der Kranke war sorgfältig in dem Schuppen untergebracht, der auf dem Hofe für ihn eingeräumt wurde, und die beiden Männer teilten sich in seine Pflege. Bald lag er in wilden Fieberphantasien, die in großer Hast einander folgten; alles Elend, das er erlebt, zog in einem neuen Wechsel an ihm vorüber, und schaudernd erhielten seine Pfleger ein lebendiges Bild des ganzen Rückzuges. Bis jetzt mochte seine eiserne Willenskraft den Unglücklichen aufrecht erhalten haben; nun aber brach er zusammen, und die Krankheit überwältigte ihn.

Nach einigen Tagen sank das Fieber, die Wahnbilder hörten auf, aber die Schwäche war so groß, daß der Arzt ihm nur noch Stunden zu leben gab. Er erlangte das Bewußtsein wieder, erkannte seine Pfleger und dankte ihnen mit tiefer Rührung.

»Ich will den Pfarrer holen,« schlug Gottlieb vor; »der versteht es besser als wir, eine arme Seele zu trösten.«

In kurzer Zeit kehrte Gottlieb mit dem Geistlichen zurück; Fritz Schlaben kam noch einmal zum Bewußtsein, und obwohl er nicht mehr sprach, hingen doch seine Augen an den Lippen des Pfarrers, der ihm als einem Beichtenden die letzten Tröstungen der Religion brachte. »Lieber Gott, ich bitte dich!« murmelte er noch einmal; ein Zug des Friedens breitete sich über das abgezehrte, von so vielen Leiden durchfurchte Antlitz, die Augen schlossen sich, noch ein leiser Atemzug – der letzte – dann wurde alles still; die Seele war entflohen und stand vor ihrem himmlischen Richter.

Der Geistliche betete laut und tief erschüttert ein Vaterunser, das die beiden Männer leise nachsprachen. Am nächsten Tage betteten sie ihn in den Sarg, den sie ihm verfertigt, und gaben ihm das Geleit auf den Friedhof. Der Pfarrer sprach ein Gebet und segnete den Toten ein, sie warfen ihm drei Hände voll Erde hinein in die Gruft und warteten stumm und ergriffen, bis der Totengräber einen Hügel aufgeschüttet hatte.


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