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Achtzehntes Kapitel.
Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.

Während die Freunde im stillen Krankenzimmer, dem man sorgfältig jede Erregung fern hielt, dahin lebten, brauste ein neuer Sturm über die Völker hin, der auch den Einzelnen fortriß.

Die Schulzen, die in der schweren Angst um ihren Liebling sich oft Trost und Zuspruch im Nachbarhause geholt hatte, versuchte jetzt dort die gebeugten Herzen aufzurichten, und das war ein schweres Werk, denn was sollte man der armen Mutter sagen, die ihr Kind für den Krieg hergeben mußte, den der verhaßte Eroberer im fernen Osten führen wollte! Mit freudigem Stolze hatte sie ihre Söhne den Rock des Königs tragen sehen und hatte auf den Tag gehofft, wo sie, seinem Rufe gehorsam, hinausziehen würden zur Befreiung des Vaterlandes; dann wollte sie nicht schwach sein und die Entscheidung über Leben und Tod der Teuren getrost aus Gottes Hand hinnehmen, sie kämpften ja für eine heilige Sache! Aber nun mußte Wilhelm fort, mit den Regimentern, die Napoleon von Preußen als Hilfstruppen forderte, nun sollte er helfen, Rußland zu bekriegen, von dem allein noch Hilfe und Beistand zu erwarten wäre! Die arme Mutter wollte sich nicht trösten lassen in ihrem tiefen Leid, und ihr Mann stand mit gesenktem Haupt und düsterem Blick neben ihr und konnte ihr nichts Tröstliches sagen.

Das mächtige Heer war vorübergebraust, wie ein ungeheurer Heuschreckenschwarm, Not und Elend hinter sich zurücklassend, Schrecken und Angst vor sich her verbreitend. Im Oktober kamen die Siegesbotschaften, die mit hochtönenden Worten neue Triumphe meldeten. An diesen hatten die Preußen keinen Anteil; der französische Kaiser hatte sie nicht zu weit über die Grenze mitgeführt und dort Halt machen lassen, weil er dem verhaßten Volk kein Blatt von den Ruhmeskränzen, auf die er zuversichtlich baute, gönnen wollte. Selten gelangte ein Privatbrief an seine Bestimmung; aber einmal hatten die besorgten Eltern doch von Wilhelm gehört; es ging ihm gut, und in den Winterquartieren waren die Truppen vor jeder kriegerischen Aktion bewahrt.

Es war recht einsam und still um das alternde Elternpaar, denn auch Georg, nach dem sich die Mutter recht bangte, kam im Herbst nicht nach Hause; der Arzt hielt die weite und beschwerliche Reise für den kaum Genesenen für zu gefährlich, und der treue Freund wollte ihn nicht verlassen. Dafür wurde ihm aber die Freude, daß Walter sich jetzt sichtlich erholte, und als die Universitätsferien zu Ende waren, konnte Georg seine Studien wieder aufnehmen. Er gab jedoch den Bitten des Oberbürgermeisters und seines Sohnes nach und bezog nicht wieder eine eigene Wohnung, sondern lebte brüderlich mit Walter zusammen.

Mit Rücksicht auf den Zustand des Patienten, der noch immer die größte Schonung erforderte, hatte man bisher von jeder Untersuchung abgesehen, und es war gegründete Aussicht vorhanden, daß die ganze Angelegenheit der Vergessenheit übergeben werden würde, nachdem sie so lange unbestraft geblieben war. Ernst und Hermann schämten sich jetzt der Feigheit, die sie gegen ihren Genossen bewiesen; sie machten einige Annäherungsversuche, die jedoch von Walter schroff zurückgewiesen wurden; er konnte ihnen vielleicht verzeihen, daß sie ihn in seiner Not im Stich gelassen, aber er zürnte ihnen für immer wegen des schlimmen Einflusses, den sie auf ihn ausgeübt, und obwohl sich in der schweren Prüfungszeit seines Krankenlagers seine Grundsätze befestigt hatten, hegte er doch Mißtrauen in sich selbst und vermied die Gefahr, die in derartigen Freundschaften lag.

Der Winter brach früh herein und trat mit ungewöhnlicher Strenge auf; die Menschen flüchteten vor dem schlimmen Feinde in die warmen Stuben, aber wenn die Familien sich um das hell brennende Herdfeuer oder um den gemütlichen Kachelofen scharten, so wollte doch keine behagliche Stimmung aufkommen, und wenn man die Scheite in die züngelnden Flammen schob, so gedachte man seufzend des Sohnes und Bruders, der jetzt als Soldat im kalten Rußland weilte. Das stolze Manifest, in dem Napoleon seinen Einzug in Moskau der Welt verkündigte, weckte traurigen Widerhall in allen deutschen Herzen; sollte sein Übermut denn ganz ohne Grenzen sein?

Dann blieb es still, keine Nachricht drang über die weiten Schneegefilde, und man harrte auf neue Kunde, aber vergebens. Endlich kam diese, leise, unheimlich, furchtsam, als wage sie sich nicht hinaus mit dem Gräßlichen, was man vernehmen sollte. Ein ungeheurer Brand hatte die Hauptstadt Rußlands verwüstet, die französische Armee war obdachlos geworden, hatte den Rückzug angetreten und litt bitter Not und Mangel.

Die Kälte steigerte sich von Woche zu Woche, die ältesten Leute konnten sich eines so strengen Winters nicht erinnern, tot fielen die Vögel aus der Luft herab, die Tiere des Waldes überwanden ihre Scheu und suchten Schutz bei den Wohnungen der Menschen. Die Not wurde groß bei der vielen Armut im Lande, ein trauriges Weihnachtsfest stand bevor. Dennoch freuten sich die beiden Nachbarsfamilien innig darauf, denn es sollte die Heimkehr der Söhne mit sich bringen, Walter war nun ganz genesen und wurde von den Seinen mit ungeduldiger Sehnsucht erwartet, selbst der Vater vermochte kaum seine gemessene Ruhe zu bewahren.

»Ach Gott, wie würde ich mich sonst zu Georg freuen,« seufzte Frau Fisch; »ist er doch fast ein Jahr fortgewesen; aber wenn man den einen Sohn in die Arme schließt, so muß man um den anderen weinen, der in Rußland unterdes in Kälte und Elend verdirbt.«

»Das ist nicht so schlimm, Frau Meisterin,« tröstete Gottlieb; »Wilhelm hat ja ganz vergnügt geschrieben. Die Unseren stehen ja gar nicht weit von der Grenze, da müssen wir uns nun doch beim Napoleon bedanken, daß er sie von all dem Jammer fern gehalten hat, wenn auch seine Absicht dabei keine so gnädige war.«

»Gott sei Dank!« sagte Frau Fisch erleichtert; »ja, ich habe es nun schon so oft gehört und gelesen, daß es den Unseren nicht schlecht geht; aber bei den Schilderungen von dem Jammer, den die anderen zu erdulden haben, bebt einem das Herz; es sind doch auch Menschen, und dazu war das eigene Kind so nahe dabei.«

Minchen kam eben herüber und brachte eine Einladung des Herrn Oberbürgermeisters, der die ganze Familie, natürlich Gottlieb einbegriffen, zu sich herüber bitten ließ zum heiligen Abend; er könne sich das Fest ohne Georg gar nicht denken, und der gehöre doch den Seinen an, da wollten sie alle zusammen die Genesung feiern.

»Die Ehre ist zu groß,« meinte die Meisterin verlegen.

»Wir müssen sie aber annehmen,« entschied der Meister; »der Herr Oberbürgermeister würde es sonst übel vermerken; er sagte immer, Georg wäre ihm jetzt wie ein eigener Sohn geworden, da dürfen wir ihn im Christfest nicht zurückhalten, und wir wollen ihn doch auch nicht hergeben.«

Das sah Frau Fisch ein; aber ihr bangte doch oft vor dem Abend, und sie hätte gern auf das Vergnügen verzichtet, das sie genießen sollte, und im Grunde dachten der Meister und Gottlieb dasselbe.

Die Schulzen rührte sich tüchtig und schaffte wie seit lange nicht: es galt ja den Empfang ihres Lieblings, und sie vergaß auf kurze Zeit Altersschwäche und Todesgedanken, mit denen sie sich jetzt so viel quälte. Lottchen putzte einen riesigen Weihnachtsbaum aus, wie er sich für einen so zahlreichen Familienkreis gehörte, und hatte für jeden eine kleine Überraschung bereitet; für Georg aber hatte sie viele Stunden des Tages und oft sogar einen Teil der Nacht geopfert, um ihm durch eine schöne Arbeit ihrer Hände die Dankbarkeit zu beweisen, von der ihr Herz überströmte.

Am Tage vor dem heiligen Abend langten die Erwarteten an, Georg fröhlich und gesund, Walter noch etwas blaß, der Kopf noch ohne Haarwuchs, dafür eine riesige Narbe auf dem Schädel.

»Du lieber Gott,« sagte die Schulzen zu Lottchen, »so wird man für seinen sündigen Hochmut bestraft; ich wünschte mir eine hübsche, kecke Narbe auf seinem Gesicht, und nun muß der arme Junge seiner Thorheit wegen den ganzen Schopf hergeben!«

»Der wird schon wieder wachsen,« tröstete Lottchen; »ich bin nur froh, daß er wieder so weit hergestellt ist; ohne Georgs Pflege wäre es nie geschehen, wie er selbst nicht müde wird zu sagen.«

Als sich am Christabend die Gäste einfanden, hatte der Oberbürgermeister seine steife Würde ganz abgelegt und empfing sie wie ein guter Nachbar und dankbar verpflichteter Freund. Es wurde dem Meister Fisch bald behaglich zu Mute, er blieb bescheiden, aber gab sich unbefangen und heiter, und seine fröhliche Stimmung ging auch auf die anderen Familienglieder über, und so wurde es wirklich eine heitere und zwanglose Feier, die dem Wirt und den Gästen gleiches Vergnügen bereitete. Als die Bowle aufgetragen wurde, leerte der Oberbürgermeister das erste Glas auf Georgs Wohl, der sich als so treuer Freund bewährt hatte; er vergaß aber auch Anton nicht und schenkte diesem, der mit seinem Großvater die Aufwartung besorgte, das Glas so oft voll, daß dem alten Johann angst und bange wurde.

Jeder Tag brachte jetzt neue aufregende Nachrichten; noch wagte man nicht offen davon zu sprechen, aber das Gerücht verbreitete sich von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr. Am Tage nach Neujahr reisten die Freunde wieder ab; sie fanden die Universitätsstadt bei ihrer Ankunft in heftigster Erregung, Bürger und Studenten belebten die Straßen, Menschen, die sich nie gesprochen, traten zu einander und erzählten sich die große Botschaft. General York, der das Korps befehligte, das Napoleon nach Rußland folgen mußte, hatte eine Militärkonvention mit den Russen abgeschlossen, diese hatten die Provinz Preußen besetzt, und dort rüstete man.

Frau Fisch war außer sich vor Glück, und der Meister faltete andächtig die Hände; nun brauchte ihr Sohn nicht mehr für den Feind zu fechten, nun würde er wieder seinem Lande dienen.

Feierlich hallten die Glocken, festtäglich lag die Stadt da, die Werkstätten und Läden waren geschlossen, die Jugend eilte jauchzend und die Mützen schwenkend durch die Straßen, vor den Hausthüren standen die Frauen und Mädchen und blickten erwartungsvoll den Männern und Vätern nach, die im Sonntagsrock dem Rathaus zuschritten, während die jungen Burschen auf dem Marktplatz standen und bedauerten, daß sie ihnen nicht folgen durften.

Im großen Saale stand der Oberbürgermeister, weiß von Bart und Haar, aber heut nicht gebückt, sondern hoch und stolz aufgerichtet, in der Amtstracht, die goldene Kette, das Zeichen seiner Würde, um den Hals, und um ihn die Mitglieder der städtischen Behörden, gleichfalls mit den Abzeichen ihres Amtes. Es war still wie in der Kirche, und trotzdem der weite Saal bis auf den letzten Platz gefüllt war, vernahm man doch keinen Laut. Der Oberbürgermeister entfaltete ein Blatt, das er in der Hand hielt, und las mit bewegter Stimme, der man die tiefe Rührung anhörte, die aber doch laut und klangvoll den Raum erfüllte, den Aufruf des Königs, den dieser von Breslau aus erlassen hatte, wohin er gereist war, weil es dort keine französische Besatzung gab, die ihn in seiner persönlichen Freiheit beschränken konnte. Das Volk wurde auf die großen Ereignisse, die sich vollzogen hatten und noch vollziehen würden, hingewiesen und aufgefordert, sich zu rüsten und bereit zu halten. Noch war nicht gesagt, gegen welchen Feind, noch war der Krieg nicht erklärt, aber jeder wußte, für welche Sache es war, es bedurfte nicht einer genaueren Erklärung.

Tiefes Schweigen folgte der Vorlesung, nur hier und da vernahm man ein Räuspern, wohl gar ein Schluchzen, das aus bewegter Mannesbrust kam. Dann nahm der Oberbürgermeister wieder das Wort.

»Mitbürger,« sagte er, »wir alle sind von demselben Gefühl beseelt, dem des Dankes, daß wir diesen Tag erleben durften. Ich weiß, daß ich für euch alle spreche, daß keiner anders denkt, und so sage ich: Wir sind zu jedem Opfer bereit für die Wiedererhebung des Vaterlandes! Unser Hab und Gut, unser Leben, unsere Söhne, wir bringen es willig und freudig zum Opfer für die gute Sache dar, es gilt ja für König und Vaterland.«

»Für König und Vaterland!« hallte es brausend durch den Saal, und draußen fand der Ruf einen Widerhall bei den Tausenden, die dort in ahnungsvoller Erwartung harrten.

Meister Fisch blickte hinaus durch die Glasthür des Balkons, in deren Nähe er stand, und ein Gedanke kam ihm. Er riß die Thür auf und rief dem Oberbürgermeister begeistert zu: »Hinaus, Herr Oberbürgermeister; aus Ihrem Munde sollen auch unsere Kinder das Wort des Königs vernehmen.«

Der Oberbürgermeister trat auf den Balkon, das Schwirren und Summen legte sich in der Menschenmenge, die Häupter entblößten sich, und andächtig, wie in der Kirche, lauschte man der Botschaft des Königs, die er vorlas.

»Nun herbei, ihr Opferfreudigen,« rief er, als er geendet, mit jugendlicher Freude aus, »bringt eure Gaben, wir bedürfen viel; trage ein jeder sein Scherflein herzu für das große Werk; auch die geringste Spende ist willkommen und wird mit dazu beitragen, daß uns die Befreiung gelingt. Laßt uns zuerst die göttliche Huld anflehen, mit uns zu sein in den großen, aber schweren Zeiten, denen wir entgegengehen, dann aber thue ein jeder von uns seine Pflicht bis zum äußersten, ein jeder vergesse sich selbst und denke nur daran, daß es die höchsten Güter gilt, die Freiheit von der Knechtschaft, die Erhaltung des Vaterlandes, den Schutz des Thrones. Geht jetzt zurück in eure Häuser und überlegt, was euch zu thun geziemt; wir Männer wollen dasselbe für die Stadt thun, in Ruhe und ungestört durch das Eingreifen des Geräusches der Außenwelt. So entlasse ich euch, nachdem wir nochmals uns geeint in dem Rufe: Mit Gott für König und Vaterland!«

Alle stimmten ein, und die ganze Versammlung wurde von dem Gefühl des freudigen Opfermutes beseelt. Der Oberbürgermeister trat grüßend zurück, die Thüren des Balkons wurden auf seinen Wink geschlossen, um den brausenden Jubel derer draußen abzuhalten; es galt auch eine ernste und wichtige Beratung, denn man durfte nicht das Gefühl allein walten lassen, sondern mußte die Bewegung der Gemüter verständig leiten.

Der Oberbürgermeister forderte die Vertreter der Stadt jetzt zu einer Sitzung auf; er fügte zum allgemeinen Erstaunen hinzu: »Ich möchte die Einladung auf alle hier versammelten Familienhäupter ausdehnen; mein fester Glaube ist, daß trotz der großen Zahl der Anwesenden eine geordnete Beratung möglich sein wird, und meine Absicht ist, von vornherein der Bürgerschaft Einsicht in unsere Maßnahmen zu gewähren, um zwischen ihr und der von ihr gewählten Behörde die vollständigste Eintracht und das größte Vertrauen herbeizuführen.«

Manchem der Beamten erschien dies seltsam und ungehörig, doch wagten sie nicht zu widersprechen, und der ruhige Verlauf der Sitzung bewies, daß der Oberbürgermeister sich nicht getäuscht hatte, und daß keine Störung der Ordnung zu befürchten war. Die Stadt war verarmt, ihre Hilfsquellen waren zusammengeschmolzen; dennoch wurde einstimmig beschlossen, gegen Verpfändung der städtischen Grundstücke eine bedeutende Summe aufzunehmen als Gabe Hohensteins, und durch freiwillige Sammlungen eine zweite Geldsumme als Beitrag der Bürgerschaft zu erhalten, um beide dem Könige für seine Rüstungen zur Verfügung zu stellen. Fast alle Anwesenden meldeten sofort ihre Gaben an, und der Stadtkämmerer konnte auf der Stelle eine Sammelliste einrichten, in der jeder eintrug, was er zu geben beabsichtigte.

»Schreiben Sie außerdem noch ein Dutzend Paar Soldatenstiefel,« rief der dicke Schuhmacher Pegel, der soeben seine Geldspende genannt hatte, »doppelsohlige, auf denen sie ordentlich marschieren können, ohne daß gleich die Zehen vorn durchkommen.«

»Ich liefere auch noch ein Stück Tuch zu Hosen,« schrie ein Tuchfabrikant, der nicht zurückstehen wollte.

»Ich mache sie gleich fertig,« ertönte die dünne Stimme des Schneidermeisters Mark, »und sechs Westen gebe ich noch dazu.«

»Das Tuch hat er gewiß früher seinen Kunden gestohlen,« brummte der Schuster, der nicht gut auf Meister Mark zu sprechen war.

»Vier Schinken und dreißig Pfund Wurst kriegt der König von mir,« rief der Fleischermeister Dietrich, und so fügte ein jeder aus seinem Geschäft etwas hinzu, um seinen guten Willen zu zeigen.

Als man die Zeichnungen zusammenzählte, war die Überraschung allgemein; das, was man in der ersten Stunde aufgebracht hatte, überstieg alle Erwartungen.

Der Oberbürgermeister gab seiner dankbaren Freude Ausdruck und bat dann nochmals um das Wort. »Der heutige Tag,« begann er, »bringt nicht nur die Freudenstunde, in der es mir vergönnt ist, die Opferbereitschaft meiner Mitbürger als eine so willige und so bedeutende kennen zu lernen, sondern er löst auch das Siegel, welches ein wichtiges Geheimnis auf meine Lippen festbannte. Als in dem schweren Unglücksjahr die Feinde plündernd in der Stadt hausten, verlor Hohenstein auf rätselhafte Weise seinen Silberschatz, das teure Erbteil der Väter. Alle Gutgesinnten trauerten darüber, nur ich teilte dies Gefühl nicht, denn ich kannte den Verbleib unseres Schatzes, ich war der Dieb, der ihn der städtischen Obhut, die damals durch einen ungetreuen Mann ausgeübt wurde, entzog.«

Ein Gemurmel des Staunens ging durch die Versammlung, die gespannt am Munde des Oberbürgermeisters hing. Er erzählte kurz den Vorgang und fuhr fort: »Der Schatz ist wohl geborgen und erhalten, wir können über ihn zu jeder Stunde bestimmen. Durch zufällige Fügungen wurde mir die Rettung erleichtert, die für die meisten unmöglich gewesen wäre. Doch hätte ich es mit meinem alten Johann, der mir auch hierbei treulich zur Seite stand, nie allein fertig gebracht, ja, ich mußte den gefährlichsten Teil des Wagestücks, bei dem im Falle der Entdeckung ein schimpflicher Tod sicher war, einem anderen überlassen. Diesem braven Manne gebührt also eigentlich der Dank, den ich in allen Mienen lese, und den ich nur in geringem Maße für mich in Anspruch nehmen kann; außerdem war die Erhaltung des Schatzes uns schon die höchste Belohnung.«

»Wer war es?« rief es von allen Seiten. »Nennen Sie uns den Ehrenmann!«

»Er ist ein Kind unserer Stadt,« berichtete der Oberbürgermeister, »doch weilt er nicht unter uns, sondern büßt schwer eine jugendliche Thorheit in der Fremde. Nur im Falle seines Todes hatte er mir erlaubt, zu sagen, was ich von ihm weiß, doch denke ich, daß die hohe Freude und der gerechte Stolz, welche in Elternherzen einziehen werden, die viele Jahre in bangem Zweifel und unbefriedigter Hoffnung gelebt, meinen Wortbruch bei ihm, dem Sohne mit der liebenden, reuigen Seele, entschuldigen werden. Meister Fisch, mein treuer Nachbar, Eurem Sohne Karl verdankt Hohenstein, daß sein Silberschatz nicht den Franzosen ausgeliefert worden ist. Er hat damals sein Leben und seine Ehre, denn er würde den Tod des Marodeurs gestorben sein, für unsere Stadt gewagt. Und dieser Beutel, den er mir übergab, um die Not der Geplünderten zu mildern und der seinen ersparten Sold enthielt, ich habe ihn mit seinem Inhalt aufbewahrt, indem ich die gleiche Summe aus meinen Mitteln für jenen Zweck verwandte, und ich lege ihn hier zu den Sammlungen als Gabe unseres Mitbürgers Karl Fisch.«

Der Meister saß, keines Wortes mächtig, und lauschte der Rede des Oberbürgermeisters, die wie Engelgruß an sein Ohr tönte. Sein Karl, sein Schmerzenskind, den er verloren geglaubt, lebte, lebte als ein edler und guter Mensch, auf den seine Eltern mit freudigem Stolze blicken konnten. Noch vermochte er nicht alles zu fassen, nicht das Unerhörte zu begreifen, es rauschte wie ein Strom vor seinen Ohren, der ganze Saal drehte sich mit ihm im Kreise, dazwischen erblickte er wie im Nebel die Gestalt des Oberbürgermeisters, der, die Hand auf seine Schulter gelegt, vor ihm stand, sah er in die freudig erregten Gesichter seiner Mitbürger, die ihn glückwünschend umdrängten und ihm herzlich die Hand schüttelten; aber er war noch wie ein Träumender, willenlos, halb abwesend. Da fiel sein Auge auf das kleine Geldtäschchen, das der Oberbürgermeister vor ihn hingelegt, und mit einem Schrei, der sich gewaltsam aus seiner Brust losrang, griff er danach; er nahm den Beutel, den er nur zu wohl kannte, den er einst seinem Sohne zum Geburtstage geschenkt hatte, und preßte ihn an sein Herz, an seine Lippen. Und dann wurde er blaß und sank bewußtlos zusammen.

Der Freude folgte Entsetzen, man fürchtete einen Schlaganfall, aber ein anwesender Arzt konnte die Erschrockenen beruhigen; es war nur eine Ohnmacht, die schnell vorüberging, eine Folge der verschiedenartigsten heftigen Gemütsbewegungen. Bald kam der Meister wieder zu sich und in dem hohen Lehnstuhle des Oberbürgermeisters sitzend, der besorgt seine Hand hielt, bat er leise: »Erzählen Sie's noch einmal, ich muß es nochmals hören, um es zu glauben. Und das Beutelchen darf ich doch behalten?«

Es wurde ihm gereicht, er schüttete das Geld aus und legte es auf den Tisch, alles mit einer zärtlichen Sorgfalt, als hätte es dadurch, daß Karls Hände es einst berührt, eine Art Zugehörigkeit zu demselben erworben, und dann hörte er lächelnd zu.

»Gott sei Dank! er ist doch ein guter Mensch!« sagte er dann. »Aber wo ist er nun?«

Das vermochte der Oberbürgermeister nicht anzugeben, denn er hatte nie wieder von Karl gehört; aber er setzte tröstend hinzu, daß er das Beste hoffe, da dieser die feste Absicht kund gegeben hatte, für seine Benachrichtigung zu sorgen, falls ihm etwas zustoßen sollte; es war also gegründete Ursache, auf sein Leben zu hoffen.

Der Meister nickte und sagte wieder leise: »Es ist doch ein rechtschaffener Mensch!« Dann stand er auf und sagte: »Ich tauge heute doch zu nichts mehr, mein Herz ist zu voll, ich muß zu meiner Frau.« Er lehnte alle Unterstützung ab, da er sich wieder hinreichend erholt hatte, und verließ, von den teilnehmenden Worten und Blicken der Anwesenden begleitet, den Saal, sein Beutelchen fest in der Hand haltend.

»Mutter,« sagte er, sobald er zu seiner Frau in die Stube trat, »unser Karl ist ein rechtschaffener Mensch gewesen; danke Gott, der uns das hat erleben lassen.«

Frau Fisch sah ihren Mann an, Angst und Hoffnung im Herzen; ihre Gedanken weilten so viel bei dem verlorenen Kinde, dessen Name so selten genannt wurde, daß es sie kaum überrascht haben würde, wäre er jetzt vor sie hingetreten.

Der Meister schüttelte den Kopf. »Ob wir ihn auf Erden wieder sehen, weiß ich nicht, aber im Himmel wird er uns nicht fehlen,« sagte er, und erzählte alles. Sie legte den Kopf an seine Brust; er umschlang sie mit seinen Armen und sie weinten beide. Die Mutter empfand anders wie der Vater; er hatte in der Freude, daß sein Sohn gut und ehrenhaft gehandelt, den Schmerz des Verlustes überwunden, das Mutterherz aber sehnte sich vor allem nach dem fernen Sohn.

Als die erste Erregung vorüber war, legte der Oberbürgermeister den Versammelten die Frage vor, was nun mit dem Schatze werden sollte; war man froh gewesen, ihn vor den Franzosen gerettet zu sehen, so war man jetzt ebenso bereit, ihn freudig für das Vaterland zu opfern. Doch kam auch der ruhige Verstand zu seinem Recht; so bedeutend auch der Silberwert des Schatzes war, so übertraf ihn doch der ideale um vieles; man hätte also ein unverhältnismäßiges, nicht mehr gut zu machendes Opfer gebracht, hätte man die Sachen einfach zum Einschmelzen und das gewonnene Silber zur Beisteuer für den Krieg bestimmt. Man wollte daher versuchen, den Schatz zu verpfänden, um ihn in besseren Zeiten wieder einzulösen, und dieser Beschluß wurde durchgeführt, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten. Es gelang den klugen und umsichtigen Bemühungen des Oberbürgermeisters, den Schatz als Pfand zu geben und Geld dafür zu bekommen, und so konnte er denselben der Stadt zum zweitenmal erhalten, da er in den Friedenszeiten wieder eingelöst wurde und noch heute den Stolz Hohensteins bildet.

Auf einstimmiges Verlangen der Bürgerschaft wurde schon jetzt ein Pokal zurückbehalten, um auf einem Schild, das ihn auf seiner Vorderseite zierte, die Namen der drei Männer einzugravieren, welche die Rettung des Schatzes gewagt hatten; der Oberbürgermeister war für seine Gefährten ganz damit einverstanden, wollte aber für sich auf die ihm zugedachte Ehre verzichten; sein Sträuben half ihm aber nichts, und er mußte sich dem ungestümen Verlangen der Hohensteiner fügen.

Bei Meister Fisch wurde das Haus von teilnehmenden Besuchern kaum leer; er und seine Frau hätten ihr erregtes Gefühl zwar lieber in der Stille begraben, sie freuten sich aber auch wieder, weil es ihrem Karl galt, und jedes ehrende Wort, das sie über ihn vernahmen, wurde ein Balsamstropfen für die Wunde, die von neuem blutete, doch ohne den bitteren, verzweiflungsvollen Schmerz.


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