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Das Amt des Bürgermeisters war kein leichtes in dieser Zeit. Die Stadt war verarmt, die Einwohnerschaft nicht minder, und doch mußten viele außergewöhnliche Lasten getragen werden. Die furchtbare Kriegssteuer, die Napoleon dem Lande auferlegt, war kaum zu erschwingen: die Not wurde sehr groß, dazu kam Mißwachs und Teuerung. Der Hofrat war nicht mehr ein reicher Mann; er hatte seinen Haushalt sehr eingeschränkt, jede nicht streng notwendige Ausgabe wurde vermieden. Der alte Johann blickte traurig auf das Silberzeug, das nur noch aus Bruchstücken der früheren Fülle bestand, und klagte der Schulzen, wie gern er sich der Mühe des Putzens unterziehen würde, wäre es nur noch möglich gewesen.
»Nicht, daß es mir an Arbeit fehlte,« schloß er seufzend, »weiß Gott, ich habe mehr zu thun, als ich leisten kann, seit wir keinen Gärtner mehr haben und ich die Gewächse, die wir noch behalten, mitpflege. Der Kutscher nähme mir wohl manches ab, wenn wir noch einen hätten, aber Wagen, Pferde, alles ist verkauft. Daß dieses Haus solche Zeiten sehen mußte! Es geht zu Ende, Schulzen, die Welt steht nicht lange mehr.«
»I was!« sagte die Schulzen, »lasse Er nur seine Lamentationen! Ich als Korporalsfrau muß doch etwas davon verstehen! Preußen geht noch lange nicht unter, und ist unser König erst wieder oben auf, dann kommen wir auch wieder in die Höhe.«
»Ja, aber es heißt manchmal sogar, Napoleon wolle den König nach Paris in die Gefangenschaft abführen lassen, wenn wir die Kriegssteuer nicht bezahlen können,« klagte Johann.
»Papperlapapp!« rief die Schulzen barsch. »Hat sich was! Bezahlen müssen und werden wir, aber unseren König kriegen sie nicht in ihr verruchtes Paris! Das wäre noch schöner! Wollen ihn wohl gar einen Kopf kürzer machen, wie ihren eigenen König! Da verstehen wir besser mit unserem Herrn umzugehen! Es wird schon anders werden, so wahr ich die Schulzen bin!«
»Wir erleben's nicht!« seufzte Johann.
Die Schulzen sah ihn mitleidig an. »Sie mit Ihrer Jammervisage vielleicht nicht, aber eine stramme Frau wie ich, die den Kopf oben behält, die erlebt's schon, d. h. wenn unser Herrgott nicht vorher zum Abmarsch bläst. Er wird's eben nicht thun, dazu meint er's zu gut mit mir, er gönnt mir noch die Freude, daß ich dabei sein kann, wenn es gegen diesen Patron, diesen Napoleon losgeht!«
»Hurra! Die Schulzen nimmt's Gewehr und marschiert mit!« schrie Walter, der unbemerkt eingetreten war.
»So meine ich's nicht, junger Herr,« erklärte sie, »die Flinte paßt nicht fürs Frauenzimmer. Aber Sie werden als junger Leutnant an mich denken, wenn Sie müde und durstig sind, und ich komme mit einem Fäßchen und schenke Ihnen ein.«
»Famos!« schrie Walter lustig. »Wenn's doch erst so weit wäre!«
»Das sage ich auch!« stimmte die Schulzen bei. »Aber das ist eben die Kunst: Abwarten! – Zuschlagen, das kann jeder, kriegt aber schließlich selbst das meiste. Doch wer richtig abwartet und nicht den Mut verliert, der hat endlich doch die Viktoria!«
»Ja, wenn man die Schulzen so reden hört, da wächst einem der müde Mut,« meinte Johann und putzte mit neuem Eifer an seinem Silber; die Schulzen aber wollte in die Küche eilen, denn die Wirtschafterin war auch abgelohnt und sie sorgte jetzt für den ganzen Haushalt.
»Du, Schulzen,« sagte Walter und zog sie mit sich fort. »Hast du schon gehört, daß ich Tanzstunde bekommen soll?«
»So?« fragte die Schulzen, viel weniger erstaunt, als Walter erwartet hatte. »Nun, not thut's wahrlich. die Manieren sind noch nicht die richtigen für solch vornehmen Mosjeh.«
»Mir sind sie gut genug,« sagte Walter verdrießlich; »ich habe keine Lust, mich abrichten zu lassen und mit den dummen Mädchen herumzuspringen wie ein wahnsinniger Affe!«
»Pst! Pst!« meinte die Schulzen entsetzt. »Wie kann man von den Demoiselles so sprechen! Nein, Walterchen, ergieb dich darein, es gehört zur Edukation und muß durchgemacht werden. Es ist auch gar nicht schlimm, sollst sehen, was es für Plaisir geben wird.«
Walter wollte davon zwar nichts wissen, mußte sich aber fügen. Monsieur Duboc, der seit dreißig Jahren die Jugend der Stadt in die Geheimnisse von Menuett und Sarabande einführte, war bereits engagiert, denn der Bürgermeister stimmte seiner Frau bei, daß es sich nicht länger verschieben lasse, Walters Ungestüm etwas zu mildern und ihm einige Haltung beizubringen.
Lottchen würde natürlich an der Tanzstunde teilnehmen, die sich noch auf die Kinder einiger befreundeter Familien erstrecken sollte, denn Monsieur Duboc meinte, vier Paare müßte er wenigstens vor sich haben, um etwas Ordentliches leisten zu können. Hermann, der Sohn des Intendanturrats Feldheim mir seiner Schwester Rosine, Ernst und Malchen Brodau, die Kinder des Kriegsrats, und Luischen Walberg, das Patchen der Frau Hofrätin, wurden aufgefordert, und da der Gesundheitszustand derselben ihr selten das Ausgehen gestattete, so wurde ausgemacht, daß die Tanzstunde ein- für allemal in ihrem Hause stattfinden sollte.
Sie hielt die Tanzstunde nicht für unwichtig und wollte sie gern persönlich überwachen, daher zeigte sie einen Eifer dafür, der bei ihr ungewöhnlich war. Walter und Georg wurden in ihr Zimmer gerufen, wo sie den Schneider fanden, der ihnen die Anzüge für den Unterricht anmessen sollte.
Georg, der in den letzten Tagen sehr still gewesen war und wenig Anteil an den Gesprächen über das bevorstehende Ereignis genommen hatte, ließ es sich ruhig gefallen; als aber der Mann fort war und auch Walter das Zimmer verlassen hatte, blieb er zurück und sagte ehrerbietig zu der Bürgermeisterin: »Ich hoffe, die Frau Oberbürgermeister werden verzeihen, wenn ich das Wams mit den anderen Sachen wieder abbestelle; meine Eltern sind nicht reich genug, mir solche Kleider zu schaffen.«
»Sie sollen es auch nicht, lieber Georg,« sagte die Dame freundlich; »da wir dich zu der Tanzstunde aufforderten und es unser besonderer Wunsch ist, daß du daran teil nimmst, so ist es auch natürlich, daß wir die Kosten dafür tragen.«
Georg wurde feuerrot. »Sie haben schon so viel für mich gethan,« sagte er, »und ich bin alt genug, um es einzusehen, und möchte nicht noch neue Wohlthaten empfangen.«
»Sieh es nicht als solche an,« sagte die Hofrätin; »es liegt mir nicht nur deinetwegen, sondern auch um meines Sohnes willen daran, daß du auch jetzt sein Gefährte bleibst. Ich denke, du wirst in Zukunft Gelegenheit finden, uns den Dank, den du uns zu schulden glaubst, reichlich abzutragen.«
Georg blickte sie mit treuen Augen an. »Könnte ich es doch,« sagte er aus tiefster Seele, »wie glücklich würde ich sein!«
»Ich danke dir, mein lieber Georg!« entgegnete die Hofrätin, indem sie ihm ihre durchsichtige, feine Hand reichte. »Setze dich zu mir, ich will mit dir ein ernstes Wort sprechen. Du bist verständig und reif genug dafür, und wer weiß, ob ich später eine Gelegenheit finde, dir alles zu sagen, was ich auf dem Herzen habe. Ich fühle es, daß meine Tage gezählt sind. Erschrick nicht, mein lieber Junge; es ist Gottes Wille so, und wir müssen uns ihm in Demut beugen. Meine armen Kinder werden ihre Mutter früh verlieren, zu einer Zeit, wo sie ihrer Leitung noch sehr bedürfen. Walter wird mich noch mehr vermissen als Lottchen, die trotz ihrer Jugend einen festen Charakter hat, der in der schweren Schule der Notwendigkeit früh reifen wird. Mein armer Sohn aber, fürchte ich, wird wie ein steuerloses Fahrzeug auf dem Meere des Lebens treiben. Sein Vater liebt ihn zärtlich und ist ihm ein Vorbild in allem Edlen und Guten, aber zwischen ihnen beiden liegt eine weite, weite Kluft. Walter fehlt es noch an Verständnis für die ernste Tugend seines Vaters, und dieser vergißt, daß er auch einmal jung war und daß man Nachsicht mit den Fehlern der Jugend haben sollte. So werden sie sich einander entfremden. Die Mutter konnte hier vermittelnd eingreifen; ich aber werde bald nicht mehr sein, und so übergebe ich ihn dir. Sei du ihm Freund und Führer!«
»Wie vermag ich das!« rief Georg weinend. »Sie dürfen nicht sterben; es kann nicht sein!«
»Wie gern bliebe ich bei meinen Kindern!« sagte die Hofrätin sanft, »aber ich darf mich nicht mit falschen Hoffnungen betrügen. Der Freund kann meinem Walter viel ersetzen. Er braucht jemand, auf den er sich lehnen kann, der ihn liebt und doch den Mut hat, es ihm zu sagen, wenn er den rechten Weg verliert, auch Festigkeit genug besitzt, seinen Zorn gering zu achten und ihm zu begegnen. Das alles erwarte ich von dir, Georg. Willst du mir versprechen, meinem armen Sohne beizustehen, wenn seine Lebhaftigkeit, sein schwankendes Urteil, auch die bevorzugte Stellung, deren er sich von seiner Geburt an erfreute, ihn in Gefahren stürzen werden?«
»Ich will treulich thun, was ich vermag,« sagte Georg tief bewegt, »ich fürchte, es wird wenig genug sein.«
»Der liebe Gott giebt auch dem Schwachen Kraft,« sagte die Hofrätin, »und wenn ich dir eine treue, mütterliche Freundin gewesen bin, und wenn du unserem Hause Dank schuldig zu sein glaubst, so denke daran in der Stunde der Gefahr für meinen Sohn, handle gut gegen, ihn, ob du gleich selbst darunter littest.«
Das Gespräch hatte sie sichtlich angegriffen, sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und schloß die Augen; Georg beugte sich über sie und führte ihre Hand an die Lippen. Sie verstand ihn in diesem stummen Gelöbnis, sah ihn lächelnd an und berührte wie segnend sein Haupt mit ihrer Hand. –
»Tanzstunde!« meinte Frau Fisch kopfschüttelnd, »mit all den vornehmen jungen Herrschaften! Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll! Wird es uns nicht als Hochmut ausgelegt werden?«
»Ach was, Frau Meisterin, wer kümmert sich um das Gerede der Leute,« sagte Gottlieb entschieden. »Der Junge wird doch einmal zu denen gehören, die ihn jetzt vielleicht noch über die Achsel ansehen; da muß er nicht bloß gelehrte Sachen verstehen, sondern es kommt auch aufs Benehmen an. Also nur immer zu!«
»Gottlieb hat nicht unrecht,« entschied der Vater; »sollte Georg dies Ziel erreichen, wonach er strebt, so hoffe ich zuversichtlich, daß ihn sein eigener guter Sinn vor Hochmut bewahren wird; aber ebensowenig darf er zu schüchtern sein, und wenn er fühlt, daß er anderen, mit denen er in vertrauten Verkehr kommt, in etwas nachsteht, so verliert er das sichere Selbstvertrauen, das ihn zum tüchtigen Menschen macht. Ich bin daher nicht gegen die Tanzstunde, die ihm geboten wird; nur fürchte ich mich jeden Tag mehr, daß wir's nicht durchsetzen, Georg auf die Universität zu bringen. Wo soll das Geld herkommen?«
»Na, Meister, nur nicht zu früh gesorgt,« tröstete ihn Gottlieb wieder. »Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Zuthat. Die Zeiten können sich ändern.«
»Ich habe die Hoffnung beinahe aufgegeben,« seufzte der Meister.
»Das dürfen wir niemals,« rief Gottlieb; »sagt unser Pfarrer nicht jeden Sonntag, daß wir nur beten, vertrauen und unsere Pflicht erfüllen sollen, dann würde sich die Trübsal schon wenden!«
»Ach ja,« erwiederte der Meister bedrückt; »uns wird's so schwer durch die vielen Jahre, die es schon dauert; da kann man sich der kleinmütigen Gedanken nicht immer erwehren. Freilich ist so vieles zum Besseren verändert, trotz des äußeren Unglücks! Ich will auch nicht verzagen.« –
Die Tanzstunde nahm ihren Anfang. Monsieur Duboc, ein kleines, bewegliches Männchen, musterte die Zöglinge, die verlegen vor ihm standen, während die Mütter am anderen Ende des Saales Platz genommen hatten. Er fand viel zu erinnern, und zuerst war das Vergnügen gering für die Jugend; sie erntete nur Tadel, dabei war der Zwang groß. Mit der Zeit erst wurde es besser.
»Aber, liebste Frau Bürgermeisterin,« hatte die Frau Intendanturrätin zu dieser gesagt, »wie kommen Sie dazu, diesen Tischlersohn mit unseren Kindern zusammenzubringen? Ich bitte Sie, es ist gegen alle Regards, die man sich selbst schuldig ist.« Die anderen Damen stimmten lebhaft bei.
»Es thut mir leid, mes chères amies, daß ich Ihnen solchen Chagrin verursacht,« entgegnete die Bürgermeisterin sanft, aber fest; »Georg Fisch indes ist der intime Freund meines Sohnes, in unserem Hause erzogen, ich stehe für seine Sentiments und Konduite ein.«
»Ja, aber Stand bleibt Stand,« antwortete die Frau Kriegsrat, deren spitze Nase noch schärfer hervortrat, »und es kann doch unseren Kindern nicht gut thun, sie mit Ouvriers in Berührung zu bringen!«
»Georg ist für das Studium bestimmt,« erwiderte die Hofrätin, »es thut mir sehr leid, daß ich so gegen Ihre Ansichten verstieß. Ich kann aber den besten Freund meines Sohnes durch Ausschließung von der Tanzstunde nicht verletzen, wünsche auch nicht, daß die Freundschaft gelockert werde.«
Die Damen warfen sich einen vielsagenden Blick zu, ließen aber das Gespräch fallen, denn sie erkannten die feste Entschlossenheit der Bürgermeisterin und wollten die so angenehm arrangierte Tanzstunde nicht zum Scheitern bringen, aber ihre Kinder empfingen die nötigen Weisungen und waren auch ganz bereit, dieselben zu befolgen.
Die Frau Kriegsrätin hatte schon mit der Intendanturrätin darum gestritten, wessen Sohn Lottchen als Partnerin haben sollte; sie war zwar noch sehr jung, aber doch immer die Tochter vom Hause, und so blieb es ein Vorzug, den die Jungen nur nicht zu schätzen wußten, denn ihnen lag viel mehr an den größeren Mädchen. Jetzt erhielt ein jeder von seiner Mutter den Befehl, sich hurtig und geschickt jene Ehre zu gewinnen.
Die ersten Stunden waren vorüber; die Pas und Verbeugungen, die Knickse und Schritte geübt, beim nächsten Male sollten zuerst die Paare zusammentreten. Georg und Lottchen ahnten nichts von den Erwägungen, welche sattgefunden hatten; sie waren längst einig, daß sie zusammen tanzen würden, und hatten nie gedacht, daß dies anders sein könnte. Dem kleinen Mädchen war es trotz seiner jungen Jahre nicht entgangen, daß die anderen Knaben sich von Georg fern hielten und daß die Mädchen die Nase rümpften und heimlich spöttische Bemerkungen über den Tischlersohn austauschten; dagegen suchte sie durch doppelte Freundlichkeit alles gut zu machen. Georg selbst kümmerte sich wenig um die anderen Kinder, ja er ahnte in seiner Harmlosigkeit nicht einmal ihre Feindseligkeit.
Mit besonderer Feierlichkeit betrat Monsieur Duboc den Saal, auch die Mütter waren in gehobener Stimmung, die junge Gesellschaft nicht minder. Der kleine Tanzlehrer hielt unveränderlich an seinem Kostüm fest; die schön frisierte und gepuderte Perücke, die feinen Spitzen von Jabot und Manschetten, die Kniehosen und weißseidenen Strümpfe schienen ihm angewachsen zu sein. Seine Zöglinge waren nach der Mode des Tages gekleidet.
»Mack Sie Ihr Kompliments, meine jungen Errschaften,« kommandierte Monsieur Duboc, »aber mack Sie es gut – nicht so steif, monsieur Erneste, c'est affreux, un peu de grâce, wie monsieur George; c'est ça, vous le faites comme il faut.«
Die Intendanturrätin wurde rot vor Ärger. »Monsieur Duboc wird alt,« sagte sie zu der Kriegsrätin, »ich finde, seine Leçons lassen nach, man müßte sich nach einem anderen umsehen.«
»Ganz recht, ma chère,« erwiderte diese, »es ist abominable, was er für Taktlosigkeiten begeht; sehen Er nur, er stellt diesen Ouvrier als Vorbild hin! Wer kann sich da noch wundern, wenn der dritte Stand bis zur Revolution schreitet, wenn in den besten Häusern solche faux pas begangen werden!«
» Silence, mes dames,« sagte die Frau Syndikus, »lassen Sie es unsere liebe Wirtin nicht hören, daß Ihr gerechter aigreur Sie fortreißt. Die arme Frau leidet an einer fixen Idee in Betreff des Jungen, man muß es ihrer Krankheit zu gute halten.«
»Ja, aber ich komme aus jeder Tanzstunde mit der fürchterlichsten Migräne nach Hause,« klagte die Kriegsrätin; »das macht nur der dépit, den ich nicht äußern darf.« Dabei beobachtete sie mit klopfendem Herzen, ob auch ihr Sohn geschickt genug sein würde, bei Lottchen die anderen zurückzudrängen.
»Mir geht es nicht besser,« flüsterte ihre Freundin, die ihren Sohn in derselben Erwartung nicht aus den Augen ließ. »Aber ich habe ein Projekt, ich werde der Bürgermeisterin auf seine Weise zeigen, wie wir es zu halten gedenken und daß wir uns nicht von solchen Ideen à la Rousseau hinreißen lassen. Aber, mon dieu, was ist das? Ich bin starr!«
»Nein! Quelle impudence! So etwas ist noch nicht dagewesen,« rief die Kriegsrätin fast zu laut, in ihrer Entrüstung alle Vorsicht vergessend, denn soeben hatte Monsieur Duboc kommandiert: » Messieurs, choisissez vos dames,« und schon stand Georg vor Lottchen und ergriff mit einer Verneigung, deren Akkuratesse das billigende Kopfnicken des Lehrers errang, ihre Hand, die sie ihm freundlich lächelnd und mit tiefem Knicks überließ.
Die Migräne der Mütter wurde nach dieser Tanzstunde noch besonders heftig, und die Jungen stimmten gern in ihr Klagelied über Georgs Frechheit ein, dem sie im Grunde ihres Herzens die Tänzerin, die ihnen zu jung war, ganz gern überließen; aber sie waren ihm auch nicht gewogen, einmal, weil sie sich für viel besser hielten und dann, weil er sich den Beifall des Lehrers errang, an dem ihnen selbst nicht viel lag, den sie ihm aber nicht gönnten.
Georg war so unbefangen, daß ihn die kalte Unfreundlichkeit der übrigen kaum berührte, so lange er Walter und Lottchen zu Freunden hatte, und er amüsierte sich trotz allem ausgezeichnet. Es fiel ihm zwar auf, daß sein Gruß auf der Straße, wenn er den Knaben dort begegnete, kaum erwidert wurde, aber er lachte nur darüber und unterließ denselben das nächste Mal ganz. Die Mädchen thaten gar, als sähen sie ihn nicht, wenn sie mit ihren Müttern ausgingen, trafen sie aber Georg ohne diese, so zeigten sie sich um so freundlicher gegen den hübschen Jungen, den sie alle gern hatten, und mit dem es sich so gut tanzte, daß sie durchaus nicht mit dem mütterlichen Banne übereinstimmten.
Die Frau Intendanturrat wollte sich nun aber für die Tanzstunde bei Oberbürgermeisters revanchieren und versprach ihren Kindern einen kleinen Ball, sobald Monsieur Duboc sie für einen solchen reif erklären würde. Natürlich konnten nun die anderen Damen nicht zurückstehen, eine jede wollte eine kleine Festlichkeit in ihrem Hause haben. – Endlich ergingen feierlich die Einladungen dazu, Hofrats waren allerdings gegen jede Festlichkeit gewesen und hatten wenigstens die allerstrengste Beschränkung zur Pflicht gemacht; aber man brauchte sich doch nicht in allem zu fügen, man hatte doch auch Verpflichtungen gegen seine anderen Freunde, und so wurden die Grenzen immer weiter hinausgerückt; es fehlte in der jetzigen schlimmen Zeit so sehr an Geselligkeit, da wollte man das einmal sich Bietende wenigstens genießen.
Georg war zu Lottchens großem Kummer nicht eingeladen worden: er fand dies nur natürlich, und war mit dieser Ausschließung eine Kränkung für ihn beabsichtigt, so schlug dieser Zweck ganz fehl. Walter wußte nicht recht, wie er sich dabei verhalten sollte. So viel er auch darauf gab, einer so hoch angesehenen Familie wie der seinen anzugehören, so hatte er doch bisher nie an den Standesunterschied zwischen sich und dem Freunde gedacht, ja, er hatte sich von jeher daran gewöhnt, zu Georg, der ihm an Geistesgaben und Charakterstärke überlegen war, emporzublicken und neidlos dessen höhere Begabung anzuerkennen. Jetzt sah er zum erstenmal, daß Georg von anderen, über ihm Stehenden mit Geringschätzung behandelt wurde; er hörte auch über seine treue Freundschaft mit dem Tischlerjungen spotten und wurde mit Hohn überschüttet wegen der Art von Herrschaft, die, ohne daß sie beide es bisher geahnt hatten, Georg über ihn ausübte.
Zuerst war Walter empört und wollte von denen, die Georg gering achteten, lediglich weil er als Sohn eines Handwerkers geboren war, nichts wissen, aber das dauerte nicht lange; die anderen Knaben waren älter als er, vor allen Dingen selbständiger, und er konnte sich ihrem Einflusse nicht entziehen. Dazu kam, daß Rosine Feldheim, der er seine knabenhaften Huldigungen widmete, viel über Georg spöttelte, und bald ertappte sich Walter dabei, daß er den Grad seiner Freundschaft für diesen ableugnete und ihr erklärte, es sei nur bequem für ihn gewesen einen Lerngefährten in der Nähe zu haben; von weiteren Beziehungen zu ihm sei keine Rede. Dann schämte er sich wieder seiner Schwäche, und wenn Georg sie auch nicht kannte, so hatte er doch kein gutes Gewissen diesem gegenüber, und das machte ihn geneigt, sich von dem Freunde fernzuhalten.