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Die kleinen Weltbürger entwuchsen allmählich den Umschnürungen, durften die Glieder strecken und bewegen; sie entwickelten sich täglich, wie alle anderen Kinder es auch thaten, galten aber natürlich in ihren Familien für wahre Wunder von Klugheit und außergewöhnlichen Gaben. Der Tischler und seine Frau dachten das auch von ihrem Georg, ließen es sich aber nicht so sehr merken und lachten Gottlieb aus, wenn dieser nicht müde wurde, sein Patchen zu bewundern und ihm jede freie Minute zu widmen. War er schon entzückt, als der Kleine ihm in den Bart griff und tüchtig daran zauste, so fühlte er sich überglücklich, als dieser ihn vor allen übrigen Hausgenossen auszeichnete, und er vernahm monatelang vor jedem anderen Ohr seinen Namen aus den unartikulierten Tönen, die aus dem Munde seines Lieblings kamen.
Die Frau Meisterin war eine gute und sorgsame Mutter, aber sie hatte in Haus und Küche genug zu schaffen, und so erhielt der Kleine zwar seinen richtigen Teil Pflege von ihr, doch kam es selten vor, daß sie sich mit ihm befaßte, wenn er nicht Ansprüche wegen Nahrung und Kleidung an sie zu machen hatte. So war es Gottlieb, der den ersten Zahn entdeckte, der seine ersten Gehversuche lenkte und der dem kleinen Burschen, welcher seine Herrschermacht über den Altgesellen bald kennen und brauchen lernte, seine Kniee zur unbegrenzten Verfügung stellte, um dort seine ersten Reiterkünste auszuführen; ja, es ereignete sich, daß an einem Sonntagsmorgen der sonst so ernste Mann in der Werkstatt gefunden wurde, und zwar in einer Stellung, die seiner angeborenen Menschenwürde durchaus nicht entsprach, denn er kroch auf allen Vieren umher, hatte den fröhlich jauchzenden Georg auf dem Rücken und im Munde einen Zaum, gegen den er zwar protestierte, den er sich aber doch gefallen ließ, als sein Reiter energisch daraus bestand.
Georg blieb das letzte Kind der Tischlerfamilie, und da er nicht durch einen neuen Ankömmling aus dem Rechten des Jüngstgeborenen verdrängt wurde, so genoß er diese redlich; denn auch die Geschwister waren unermüdlich in ihrer Fürsorge für ihn, von dem sie sich gefallen ließen, was sein Übermut ihm eingab. Das Auge nahm wenig von der bevorzugten Stellung Georgs gewahr, denn die Zeiten waren schwer und sparen that not, und so wurde sein äußerer Mensch mit dem bekleidet, was sich für seine Vordermänner als durchaus unbrauchbar erwies. Die an Armen und Beinen notwendig werdenden Verkürzungen waren der Mutter sehr willkommen, denn das Schlechteste ging damit fort; blieben noch einige Flicken und Flecke, die an den früheren Besitzer erinnerten, an der neuen Gestalt des Gewandes haften, so schadete das nicht; Georg sorgte dafür, daß noch mehr hinzukamen, und war die zu große Länge beseitigt, die für seine Bewegungen ein unüberwindliches Hindernis abgegeben haben würde, so kümmerte man sich nicht um überflüssige Weite, die nur zur Behaglichkeit beitragen konnte. Georg hatte keine Ahnung, wie unvorteilhaft die Toilette war, die ihm zugemutet wurde; er freute sich über jedes Stück, das als neu auf ihn überging, verstand bald damit fertig zu werden und hielt Mutter und Schwestern im Atem, um mit Nadel und Schere alles Unheil wieder auszugleichen, das er beim Klettern und Springen anrichtete.
Im Nachbarhause wuchs der kleine Erbe gleichfalls heran unter der Obhut der Schulzen, die alle Liebe, welche sie für ihre eigenen, früh verstorbenen Kinder gehegt, auf ihn übertrug. Walter war lebhaft und übermütig; dabei besaß er eine Leidenschaftlichkeit, welche die Mutter für die Zukunft besorgt machte. Wie hatte der Knabe den Hampelmann geliebt, dessen ergötzliche Sprünge ihm lauten Jubel entlockten; als aber die Schnur zerriß, welche ihm das fröhliche Leben verlieh, und der lustige Bursche trotz alles Zuredens still und bewegungslos blieb, da geriet Walter in maßlose Wut, warf die unglückliche Pappfigur auf den Boden, zerstampfte sie mit den kleinen Füßen und riß dann die Überreste des einstigen Lieblings in Stücke. Danach brach er jedoch in Thränen aus, der Zorn war verschwunden, und er beweinte den unglücklichen Gliedermann mit solchem Schmerze, daß er jeden Ersatz zurückwies und der ganze Tag verging, ehe er die Mordthat vergessen konnte. Erst das feierliche Begräbnis, das die Schulzen veranstaltete, vermochte ihn zu trösten.
Von den Eltern hatte der Knabe im ganzen wenig; die Mutter bedurfte bei ihrem beständigen Leiden großer Schonung, so daß sie seine geräuschvolle Gegenwart nicht auf die Dauer zu ertragen vermochte, und der Vater war von seinem Berufe so in Anspruch genommen, daß ihm wenig Zeit für Haus und Familie blieb. Außerdem bewies seine umwölkte Stirn, daß schwere Sorgen an ihm nagten. Dennoch gab es eine kurze Stunde des Tages, wo er sich von allem frei machte, um sich seinem Sohne zu widmen. Wenn die beiden Ehegatten sich in gewählter Toilette bei Tisch gegenüber saßen und einige Worte gewechselt hatten, dann kam der große Augenblick, wo Johann die Teller und Schüsseln fortnahm, um den Nachtisch aufzutragen und sich nach ehrfurchtsvoller Verneigung vor den Herrschaften zurückzuziehen, und dann sagte der Hofrat regelmäßig zu seiner Frau: »Ich denke mein Kind, nun invitierten wir den Kleinen sich zu zeigen.« Und sie erwiderte ebenso regelmäßig: »Ja wohl, mein Lieber, ich habe nur auf Ihre Permission gewartet.«
Kaum war die Klingel gezogen, so erschien die Schulzen, die sich für das Signal schon bereit gestellt, in blendend weißer Mütze, mit ebensolchem Halstuche, mit der besten geblümten Schürze, und an ihrer Hand Walter, genau wie ein kleiner Herr gekleidet, nur daß man ihm den Puder erlassen hatte. Die Hand an den Degengriff gelegt, schritt er auf die Mutter zu, um dieser die Hand zu küssen, dann dem Vater dieselbe Artigkeit zu erweisen, und hierauf die zierliche Erkundigung nachdem Befinden der liebwerten Eltern herzusagen, welche die Schulzen ihm mit Mühe und unter Aufopferung vieler Süßigkeiten beigebracht, und die nun täglich die beglückten Eltern erfreuten.
Dem Zeremoniell war nun Genüge geschehen, der Hofrat hob den Kleinen auf seine Kniee, scherzte mit ihm und teilte ihm reichlich von den Leckereien der Tafel zu.
Wenn Walter auf diese Stunden mit gemischten Gefühlen blickte – denn er liebte zwar die Mandeln und Rosinen oder Lebkuchen, die es beim Dessert gab, war aber ein Feind des Bürstens und Schniegelns, das es vorher zu überstehen gab, und fühlte sich beklommen in den steifen Formen, die er beobachten mußte –, so gab es eine andere Zeit am Vormittage, die für ihn die liebste des Tages wurde. Dies war der Gang zur Wachtparade, den die Schulzen nie mit ihm versäumte; um elf Uhr fand die Ablösung statt, die neue Mannschaft zog mit klingendem Spiele auf, und die abgelöste zog unter Trommelwirbel ab.
Die Wärterin war mit ihrem Schützling sogar zum Exerzierplatz vorgedrungen; aber hier erschreckte ihn die Anwendung der Fuchtel, die er von Offizieren und Unteroffizieren unbarmherzig gegen die Gemeinen gebrauchen sah. Die Schulzen versicherte ihm zwar, das müsse so sein, sie als Korporalsfrau wisse, was das für schlechte Kerls seien, aus aller Herren Länder zusammengelaufene Taugenichtse, die nur durch Furcht zu brauchbaren Soldaten zu machen wären; aber das benahm ihm den Schauder nicht.
An einem Nachmittage führte die Schulzen und Walter ihr Weg an dem Exerzierplatz vorüber, wo einige Kompanien Soldaten aufgestellt waren, die aber nicht ihre Übungen machten, sondern in Reihe standen, in den Händen Haselstöcke statt der Gewehre. Die Wärterin wollte den Knaben schnell vorüberziehen, er blieb aber wie angewurzelt stehen: die Ahnung von etwas Entsetzlichem überkam ihn, und doch trieb es ihn, Zeuge desselben zu sein. Die Töne eines Marsches erklangen; ein Zug nahte sich, voran einige Pfeifer, dann ein blasser Mensch mit wankenden Knieen und entblößtem Rücken, vor und hinter ihm Soldaten mit gefälltem Gewehr, und nun begann das Schreiten durch die Gasse der Kameraden; Walter hörte das Sausen der Stöcke, das gellende Schmerzgeheul des Gequälten, das die schrillen Laute der Pfeifen übertönte, sah das Blut, das von seinem nackten Rücken herunter lief. Mit Gewalt mußte ihn die Schulzen fortziehen; stand er doch da wie ohnmächtig, und in der Nacht erschreckten ihn seine Phantasien so, daß sie zum Arzte schickte, der einen beruhigenden Trank verschrieb.
Das, was Walter erblickt hatte, war damals kein seltenes Schauspiel in der Stadt; es lagen viele Soldaten in Quartier, und ihre Zügellosigkeit war oft groß. Die Bürger blickten mit Scheu auf die Leute, die meist, nachdem sie für alles andere sich untauglich erwiesen, in den Soldatenstand getreten waren, und deren schlimme Vergangenheit nichts Gutes von ihnen erwarten ließ, oder die, mit List und Gewalt angeworben, voll finsteren Grolls der Fahne dienten und gern jede Gelegenheit Zum Entlaufen benutzten. Für Beides war dann die schwere Strafe die gewöhnliche Folge.
So vermied man thunlichst jede Berührung mit den Soldaten. Aber auch die Offiziere waren nicht beliebt und thaten wenig dazu, dem Könige, dem die Stadt mit Widerstreben angehörte, die Herzen zu gewinnen. Sie waren hochmütig und überhebend, verbrachten ihre Tage in unthätigem Prassen und überließen die Arbeit des Drillens den Sergeanten, die mit großer Roheit verfuhren.
Früher hatte die Stadt eigene Soldaten gehabt, die sich auch wohl Übergriffe erlaubten, aber doch Bürgermeister und Rat als ihre Brotherren respektieren mußten; jetzt zeigten die Offiziere den Bürgern bei jeder Gelegenheit ihre Verachtung ihrer Personen und der alten, liebgewordenen Einrichtungen. Ein Stadtdirektor regierte jetzt im Namen des Königs die alte Reichsstadt, und die Bürger meinten, es geschähe vieles ohne Wissen und Willen des Landesherrn, zu dem man schwer gelangen könnte. Sie blickten traurig auf den riesigen Roland, der noch am Rathause als Zeichen ihrer einstigen freien Gerichtsbarkeit stand, und wunderten sich, daß der alte Recke noch immer Zepter und Reichsapfel hielt und den Reichsadler im Schilde führte, da es doch so ganz vorbei, war mit seiner Herrlichkeit.
Keiner litt mehr unter diesen Zuständen als der Hofrat, dessen Bürgerstolz mit der Macht der Stadt verwachsen war, und dessen Groll von Tag zu Tag zunahm. Die Verhältnisse in Frankreich erregten seine tiefste Entrüstung, und er zürnte sogar dem Kaiser Franz,, weil dieser so lange mit seinem Einschreiten zögerte, ja, als die Preußen gegen das böse Land marschierten, glaubte er eine Zeitlang, er könne ihnen alles vergeben,, was sie seiner Vaterstadt zugefügt, wenn sie nur jetzt die alte Tüchtigkeit bewährten. Aber dem ersten übermütigen Siegesjubel folgten bald schwere Niederlagen, und dann kam die Kunde von dem schlimmen Frieden, der zu Basel geschlossen und so schmählich war, daß man noch, nicht wagte, die Bedingungen öffentlich zu verkündigen,, obwohl sie allgemein geahnt wurden.
Für die Tischlerfamilie war das vornehme Nachbarhaus mit einem eigentümlichen Nimbus umgeben, der sich auch auf den kleinen Sohn des Hofrats übertrug, und Georg war nicht wenig stolz darauf, daß er mit ihm an einem Tage geboren und getauft war. Die Geschwister und Gottlieb, ja selbst der Vater, erzählten mit hoher Befriedigung von der Wiege, die damals hier für den Erwarteten hergestellt worden war, ein Meisterstück der Tischlerkunst, an dem nur der Meister selbst mit dem Altgesellen gearbeitet, und das auch drüben vielen Beifall geerntet hatte.
Als Georg älter und selbständiger wurde, benutzte er seine unbeschränkte Freiheit in Hof und Garten zu Beobachtungen des nachbarlichen Territoriums. Die Höfe waren durch eine hohe Steinmauer getrennt, die ihm noch unerschwinglich blieb, obwohl er schon bei Versuchen, sie zu übersteigen, ertappt worden war. Die Gärten aber wurden nur durch einen Plankenzaun geschieden, der sogar einige weite Spalten hatte, durch die man die steifen Alleen mit den seltsam geschnittenen Bäumen überblicken konnte und vor allen Dingen den jungen Mosjeh selbst, unter welcher Bezeichnung Walter stets in Meister Fischs Familie erwähnt wurde. Der Hofrat betrat den Garten selten, seine Gattin fast nie; Walter tummelte sich um so öfter darin, während die Schulzen in der Jelängerjelieber-Laube saß und nähte oder strickte. Es war ihm oft einsam zu Mute, die Schulzen war nicht immer zum Spielen aufgelegt, als Pferd war sie gar nicht zu brauchen, und fortwährend mochte er auch nicht zuhören, so schön sie auch von dem großen Könige zu erzählen wußte.
Da traf es sich eines Tages, daß Georgs Auge, welches an der Spalte des Zaunes lag, in ein anderes Auge blickte, das gleichfalls hindurchspähte. Beide Kinder erschraken und fuhren zurück, um im nächsten Augenblicks wieder durch die Spalte zu schauen. War es Verlegenheit, Furcht, Schreck, was sie gegeneinander reizte, genug, sie betrachteten sich nicht mit freundlichen Mienen, und Walter gab seinen Empfindungen dadurch Ausdruck, daß er dem jenseitigen Auge seine Zunge in solcher Ausdehnung zeigte, wie es nicht allen Sterblichen vergönnt ist, dies Organ der Beobachtung preiszugeben. Georg nahm die Herausforderung an; aller Respekt vor dem vornehmen Gegenüber war dahin, und ein deutliches: »Schafskopf!« schlug an dessen Ohr, wozu seine geballten Fäuste vor der Spalte sichtbar wurden.
Für heute blieb es bei dieser Begegnung; beide Knaben liefen, von Schreck erfaßt, gleichzeitig vom Zaune fort, den sie nun mit mißtrauischen Blicken betrachteten, ohne sich jedoch ihm wieder zu nähern. Am nächsten Tage trafen sie dort abermals zusammen, und die Feindseligkeiten wurden in verstärktem Maße aufgenommen. Sie geboten sich gegenseitig, die Grenzposition aufzugeben; die Verachtung erreichte bei beiden einen sehr hohen Grad, es folgten Drohungen, die leider nicht ausführbar waren, da der Zaun zu fest zwischen ihnen stand, und dann fand der Rückzug mit allen Ehren statt, da beide zugleich abtraten.
Am dritten Tage konnten sie kaum die Begegnung erwarten; Walter war es sogar gelungen, ohne die Schulzen, die ihn im Garten vor jeder Gefahr geborgen glaubte, zu dem Stelldichein zu erscheinen; so brauchten sich die Streiter keinen Zwang aufzuerlegen, sondern konnten sich die bisher nur geflüsterten Herausforderungen Mit aller Kraft ihrer Lungen zuschleudern. Das erhob natürlich ihren Mut, der Gegner mußte gedemütigt, vernichtet werden, und deshalb wurden alle Hilfstruppen ins Feld geführt.
»Mein Vater ist reicher als deiner,« rief Walter »wir haben ein viel schöneres Haus!«
»Ja, aber ihr habt keine Bretter und Leisten wie wir, und nicht einmal einen Gesellen haltet ihr euch, und mein Vater hat vier!« klang es trotzig herüber.
»Aber dein Vater trägt keinen Zopf und hat kein gepudertes Haar!« schrie Walter.
»Und dein Vater kann keine Tische machen,« tönte es zurück. »Meiner hat sogar für dich die Wiege machen müssen, sonst hättest du auf der Erde schlafen können.«
Walter konnte nicht so schnell gegen diesen Trumpf einen gleichen finden; allein er fühlte, daß er sich nicht schlagen lassen dürfe.
»Ich habe noch eine Kinderfrau und du nicht!«« rief er endlich.
»Bei uns ist aber Gottlieb da, und du kannst: nicht auf seinen Knieen reiten,« gab Georg unverzagt zurück.
»Ich will auch nicht,« rief Walter zornig; »mein Vater kauft mir ein Pferd zum Reiten, wenn ich groß bin.«
»Aber du hast keinen Bruder und keine Schwester,« trotzte Georg, »und ich habe sehr viele, lebendige und tote.«
Es kam keine Erwiderung; der wunde Punkt in Walters Leben war berührt, und er fühlte sich besiegt. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Platz, um weinend der Schulzen sein Leid zu klagen. Von Georg, sagte er nichts und ließ sie im unklaren, was in ihm den oft gehegten Wunsch plötzlich so lebhaft erregt hatte. Sie forschte auch nicht weiter, sondern tröstete ihn so gut sie vermochte, versprach auch dem Storch die Sache vorzutragen; wenn er im Herbste abreise, solle er aus dem großen See, in dem die kleinen Kinder schliefen, eins herbesorgen und in die Wiege legen, der Walter seit vier Jahren entwachsen war.
Es verging kein Tag, an dem sich nicht die feindlichen Parteien trafen, um den Streit in derselben Form zu erneuen, und es war klar, daß die Sache nicht so fortgehen konnte; dennoch war keine Aussicht, die erwünschte nähere Begegnung herbeizuführen, denn wenn auch Georg auf der Straße heimisch war, so erschien doch Walter hier nur an der Hand und unter den Augen der Schulzen, und einen Dritten konnten sie unmöglich brauchen.
Georg indes war sehr geschickt und unternehmend für sein Alter; er beobachtete in der Werkstatt, wenn er an Gottliebs Hobelbank stand, dessen Thun aufs eifrigste und versuchte sich zum Ergötzen des Altgesellen im Gebrauch der Werkzeuge. Nach vielem Mühen hatte der kleine Bursch an dem Zaun eine Stelle entdeckt, an der eine der Planken nicht ganz fest war, und mit Hilfe des Stemmeisens wußte er diese ganz zu lösen, so daß sie sich zur Seite drücken ließ und einem kleinen Körper wohl das Durchschlüpfen gestatten mochte.
Noch wagte er nicht von dieser Gelegenheit Gebrauch zu machen. Als aber die Leidenschaft der beiden Streiter einen immer heftigeren Charakter annahm, ergriff Walter einst einen Stein und schleuderte ihn über den Zaun, der so unglücklich mit seiner Spitze auf Georgs Kopf traf, daß dieser einen brennenden Schmerz und gleich darauf das Herabrieseln von etwas Warmem empfand. Er faßte danach, seine Hand wurde von Blut gerötet, und nun ergriff ihn die heftigste Wut. Wie der Blitz eilte er an die Planke, die nur angelehnt war, schlüpfte hindurch und stand vor dem erstaunten Walter, der einen tüchtigen Faustschlag ins Gesicht erhielt, ehe er sich dessen versah. Doch war Walter auch nicht faul; im nächsten Moment erwiderte er den Hieb, und die beiden kleinen Bengel lagen gleich darauf an der Erde, in der allerschönsten Balgerei begriffen und leisteten mehr darin, als von ihrem zarten Alter zu erwarten war.
Die Schulzen trennte das Gefecht; sie war so erschrocken, daß Georg die Flucht zu ergreifen vermochte, ehe sie ihm die fühlbaren Beweise ihres Zornes versetzen konnte. – Die Verwundungen auf beiden Seiten entsprachen der Hitze des Kampfes. Walters Nase blutete stark, da sie der Faust seines Gegners als Ziel gedient hatte; an Kratzwunden fehlte es beiden nicht, die Kleider waren beschmutzt und zerrissen, und Georg hielt noch triumphierend die Skalplocke, welche er dem Gegner ausgerissen, in der Hand, als er sich schon in der ärztlichen Behandlung seiner Mutter befand, da seine Kopfwunde heftig blutete.
Frau Fisch hatte an ihren älteren Söhnen ähnliches erlebt und würde auf die Prügelei nicht großes Gewicht gelegt, sondern ihren Sohn mit einer gehörigen Strafpredigt beruhigt entlassen haben, wäre nicht sein Gegner der vornehme Nachbarssohn gewesen. Daß sie aber solche Nichtachtung des Standes von Georg erleben mußte, erregte sie sehr, und sie sah seine Verschuldung in viel dunklerem Lichte. Die Wunde am Kopfe war im Grunde nur ein tüchtiger Hautritz, von dem keine Gefahr zu besorgen war, und Georg mochte sie als gerechte Strafe hinnehmen; doch das war nicht ausreichend, der Vater mußte hier selbst einschreiten und dem Jungen Respekt vor vornehmer Leute Kindern beibringen.
Meister Fisch aber dachte anders als seine Frau; Georg erhielt zwar eine ernste Ermahnung, merkte jedoch, daß der Vater nicht so böse war, wie er sich stellte, und wagte daher sich zu verteidigen, als hätte die Sache gar nicht anders sein können.
Noch waren die Verhandlungen im Gange, als der Hofrat bleich vor Zorn erschien, um die Bestrafung des Missethäters zu verlangen. Die Schulzen hatte die äußerste Selbstbeherrschung aufgeboten, um das Unglück der Frau Hofrätin zu verbergen, damit sich diese nicht aufrege; aber sie war sogleich zu dem Hausherrn geeilt, um diesen als Rächer anzurufen.
»Sehen der Herr Hofrat nur, wie unser Walter zugerichtet ist!« jammerte sie. »Die Nase ist ihm eingeschlagen, er ist für sein ganzes Leben verschimpfiert; und das Haar! Wie hat der schändliche Bube darin umhergerauft! Ach Gott, daß ich nicht dabei sein konnte, als der arme Junge unter solche Mörder fiel! Die Kleider hängen in Fetzen an ihm herum! Nein, solch Unglück! Der Tischlerjunge muß an den Galgen, sonst bringt er noch mehr Menschen um!«
»Herr Vater, Georg hat mir nichts Böses gethan!« rief Walter, sobald ihn die Entrüstung der Schulzen zu Worte kommen ließ; »wir haben uns nur ein bißchen geprügelt, und er hat auch seinen Teil abgekriegt; ich habe ihn tüchtig gehauen!«
»Du armes Lamm,« schluchzte die Schulzen, »was sollst du wohl mit deinen kleinen Händchen ausrichten!«
»O, ich kann tüchtig zuschlagen!« rief Walter entrüstet aus. »Das braucht Sie nicht zu denken, Schulzen, daß ich nicht auch eins auswischen kann. Wir waren noch lange nicht fertig, und morgen hauen wir uns weiter.«
»Daß Gott erbarm!« jammerte die Schulzen. »So hat ihn der verruchte Junge mit seinen Mordgedanken schon angesteckt. – Nein, der Herr Hofrat müssen als Vater einschreiten, sonst geht unser junger Mosjeh an Seele und Leib zu Grunde.«
»Alle Jungen prügeln sich,« widersprach Walter; »man kann es jeden Tag auf der Straße sehen, und es hat mir schon oft leid gethan, daß ich nicht dabei sein konnte.«
»Das sind ja schöne Maximen, die ich von dir hören muß!« schalt der Hofrat, der zuerst erschrocken, dann belustigt, jetzt aber ernstlich böse war. »Also auf der Straße suchst du dir die Exempel für deine Konduite! – Heule Sie nicht so, Schulzen, dem Jungen kann die blutige Nase für seine Ungezogenheit nicht schaden; hoffentlich hat er genug abbekommen, sonst müßte ich ihm noch eine Lektion angedeihen lassen. Wasche Sie ihn und ziehe Sie ihm andere Kleider an, daß er aus der Malproperté herauskommt, und zum Dessert darf er zur Strafe nicht erscheinen. Dem anderen Schlingel will ich zeigen, wie er sich zu benehmen hat. Ich gehe sofort zu seinem Vater.«
»Thun Sie das nicht, cher papa,« schluchzte Walter, der bisher die größte Standhaftigkeit behauptet hatte; »es wäre nicht recht, die Eltern dürfen so etwas nicht erfahren. Ihnen hat es die Schulzen verraten; aber sie ist nur ein Frauenzimmer, das es nicht besser versteht; Männer und Jungen dürfen nichts ausschwatzen.«
»So, und ich soll mir wohl von meinem Herrn Sohn seine Naseweisheit beibringen lassen?« fragte der Hofrat. »Danke Gott, daß ich nicht strenger mit dir verfahre, und nun mache, daß du in die Kinderstube kommst. Bringe Sie ihn fort, Schulzen.«
Nun begab sich der Hofrat eiligeren Schrittes, als es sonst seine Gewohnheit war, in das Nachbarhaus, um die Bestrafung des Schuldigen zu erwirken, und war nicht wenig erstaunt, als der Meister, der ihn ehrerbietig in die gute Stube geführt und auf das Kanapee genötigt hatte, während er selbst vor ihm stehen blieb, jetzt sagte:
»Herr Hofrat, die beiden Jungen sind ungezogen gewesen, und für solche Knirpse haben sie sich wacker gerauft. Ich bin auch erbötig, meinen Sohn zu bestrafen; aber ich fordere das Gleiche von Ihnen, denn sie haben beide dieselbe Schuld.«
Der Hofrat traute seinen Ohren kaum. Das waren wieder diese abscheulichen neumodischen Ideen von Gleichheit, wie sie jetzt in den Köpfen spukten; denn wie konnte sonst der Sohn eines kaiserlichen Hofrats und ein Tischlersohn die gleiche Schuld bei einer Prügelei haben! – Was ließ sich da noch machen! Er wollte ohne ein weiteres Wort zu verlieren das Zimmer verlassen, als der Tischler bescheiden, aber fest fortfuhr:
»Hier ist mein Zeuge, fragen Sie ihn selbst; er hat einen blutigen Kopf von Ihrem Sohne davongetragen.«
Dabei holte er Georg, der von der Mutter nebenan in die Kammer gesperrt worden war, heraus und gebot ihm, dem Herrn Nachbar die ganze Geschichte zu erzählen. Doch der kleine Mann stand stumm da und wollte nicht antworten, als er von diesem gefragt wurde. Endlich sagte er: »Wenn Sie wollen, kann mich der Vater hauen, aber erzählen thue ich nichts von dem, was nur uns Jungens angeht.«
Dabei sah er mit den blauen Augen, die bisher schüchtern zu Boden geblickt, die beiden Männer so unerschrocken und groß an, und das offene, hübsche Kindergesicht, das etwas bleicher als sonst war, hatte etwas so Gewinnendes, daß der Zorn des Hofrats mit einem Male verschwand und er eben etwas Besänftigendes sagen wollte, als sein eigener Sprößling hereinstürzte, und in welchem Aufzuge! Offenbar war er der Schulzen davongelaufen, als diese eben die Säuberung seines verwahrlosten Zustandes begonnen hatte, denn er war nur mit Hemd und Höschen bekleidet, die Spuren des Blutes zwar fortgewischt, aber noch deutlich sichtbar, und die Haare standen ihm zu Berge! So war das Kind auf der Straße erschienen!
»Ich habe die ganze Schuld, Herr Vater!« rief er atemlos. »Ich habe Georg mit dem Stein geworfen, und da war er im Recht, mich Schafskopf zu nennen und dann haute er mich; aber ich fing an.«
»Ich bin aber stärker als du,« rief Georg, der dem Gegner nicht an Großmut nachstehen wollte, »und du hast mehr abgekriegt als ich. Und wenn mich der Vater jetzt schlägt, schadet's nicht viel, ich kann schon etwas vertragen.«
»Ich lasse dich nicht schlagen,« schrie Walter außer sich, »oder wir müssen alle beide etwas kriegen!«
Unwillkürlich suchten sich die Blicke der beiden Väter, und ein Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen; der Hofrat mußte sich im Herzen für geschlagen bekennen, da sein eigener Sohn die Ansicht des Tischlers vertrat.
»Die beiden Kampfhähne scheinen auf dem besten Wege zur Versöhnung zu sein, Meister,« sagte er gutmütig; »da wollen wir zuerst die Feindseligkeiten vergessen. Ich denke, wir pardonnieren diesmal die Ungezogenheit, wenn sie versprechen, daß solche abscheuliche Roheit nicht wieder passieren soll.«
Der Tischler nickte einverstanden; aber die beiden Knaben wollten der Aufforderung, sich die Hand zu reichen, noch nicht nachkommen.
»Wir sind nicht fertig geworden,« sagte Georg endlich.
»Die Schulzen hat uns gestört, als wir im besten Zuge waren,« erklärte Walter.
»Das ist denn doch zu arg,« schalt der Hofrat; »ihr verdientet, daß wir euch vierzehn Tage bei Wasser und Brot ins Gefängnis sperren ließen!«
»Ich will noch heute selbst die Planke vernageln, durch die mein Unband in Ihren Garten gekrochen ist, Herr Hofrat,« sagte der Tischler; »dann werden sie ja wohl nicht wieder Gelegenheit haben.«
»Bitte, bitte, Papa, lassen Sie die Planke nicht festnageln!« bat Walter jetzt leidenschaftlich; »es war so schön, wenn wir uns am Zaun trafen.«
»So?« sagte der Hofrat lachend; »ihr habt euch doch nur gezankt. Wollt ihr denn nun als Freunde zusammenkommen?«
Georg blickte schüchtern zu Boden; aber dem einsamen Kinde, das sich so sehr nach einem Gefährten gesehnt hatte, brach der Sehnsuchtsschrei aus der Seele: »Ja, Georg soll mein Freund sein; er darf nicht wieder fortbleiben, wir müssen zusammen spielen!«
Dabei umschlang er den neugefundenen Freund, und Georg ließ sich das mit glückstrahlendem Antlitz gefallen.
»Ich denke, Meister, wir lassen die Planke, wie sie ist,« sagte der Hofrat freundlich; »die Jungen haben honnette Sentiments bewiesen; Eurem Kleinen steht es auf dem Gesicht geschrieben, daß er ein gutes Kind ist, und ich weiß ja, daß Ihr ihn in bester Zucht haltet; meinem Knaben thut ein Spielgefährte not, laßt sie also in Gottes Namen zusammenkommen.«
»Wenn dem Herrn Hofrat mein Sohn nicht zu gering ist, bin ich's zufrieden,« sagte der Tischler einfach; die beiden Knaben aber hatten alle Feindschaft vergessen und umarmten sich, während sie zwischendurch ihre Verwundungen betrachteten und darüber allerlei Bemerkungen austauschten.
Ganz umgestimmt verließ der Hoftat das Nachbarhaus, um die Schulzen zu beruhigen, die ihren Flüchtling überall suchte und ganz entsetzt war, als sie erfuhr, daß er die Öffentlichkeit der Straße in solchem Aufzuge nicht gescheut hatte; er mußte durch die Planke den Rückweg antreten, obwohl es schwer hielt, ihn von dem neuen Freunde zu trennen.