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Der Hofrat war sehr zufrieden mit der Wahl, die er in dem Magister getroffen, der seine Zöglinge tüchtig in den Wissenschaften förderte, so daß er mit Stolz die Leistungen seines Sohnes verfolgen konnte. Um so unzufriedener war die Schulzen mit dem gelehrten Herrn, dem sie Schuld gab, daß er ihr ihren Pflegling entfremdete. Sie nannte ihn einen Duckmäuser, der in ihrem lieben Mosjeh Walter allen Lebensmut ersticken würde, und war stets geneigt, dem stillen, friedfertigen Magister, der von ihrer Feindschaft keine Ahnung hatte, im geheimen Widerpart zu halten. Die Hoffnung, den Liebling einst als flotten Kriegsmann zu sehen, hatte sie nicht aufgegeben; daher freute sie sich jedes mutwilligen Streiches, den er beging, und wo nachher die Strenge des Vaters zu befürchten war, bemühte sich die Schulzen, heimlich alles zu vertuschen. Georg stand nicht allzu sehr in Gunst bei ihr, er war ihr zu ruhig und zu vernünftig; sie traute ihm keine rechte Mannesnatur zu, aber sie erkannte ihn wenigstens als Walters Freund an und ließ ihm eine Art stillschweigender Duldung zu teil werden.
Die Hofrätin kränkelte fortwährend und mußte sich sehr schonen; sie vermochte die Lebhaftigkeit des Sohnes schwer zu ertragen, und er selbst fühlte sich in dem halbdunklen Zimmer bei der leidenden Mutter so beklommen, daß er immer nur kurze Zeit dort verweilte, obgleich er mit leidenschaftlicher Liebe an ihr hing.
Georg sah die Hofrätin selten, aber er blickte mit einer Verehrung zu ihr auf, die ihr nicht entgehen konnte. Ein freundliches Lächeln, ein ermutigendes Wort von ihr konnte ihn für Wochen glücklich machen, und er bewahrte die Erinnerung daran wie ein Heiligtum. Sie dagegen vertraute ihm unbedingt, und oft wandte sie sich an ihn, um seine beschirmende Hut für den eigenen Sohn in Anspruch zu nehmen, wenn Walters tollkühner Übermut sie beunruhigte. Sie schien dann zu vergessen, daß die beiden Knaben in gleichem Alter standen, und in Georg den viel älteren und reiferen Gefährten zu erblicken, von dessen besänftigendem, festigendem Einfluß sie Gutes für ihren wilden Liebling erhoffte. Es war wunderbar, welche Einwirkung das ihm entgegengebrachte Vertrauen auf Georg hatte; es war ihm, als läge eine große Verantwortung auf ihm, die ihn von manchem unüberlegten Streich, zu dem ihn Walter fortreißen wollte, zurückhielt, so daß in seinem ganzen Wesen eine Fürsorge für den Freund hervortrat, die sich dieser gern gefallen ließ und zuletzt als etwas Selbstverständliches hinnahm.
Lottchen war fast beständig um die Mutter; sie war ihr bester Trost in Einsamkeit und Krankheit, und es schien fast, als habe das Kind trotz seiner Jugend eine Ahnung von der ihm zu teil gewordenen Aufgabe. Sie sprach kein Verlangen nach Spielgefährtinnen aus, sondern begnügte sich mit ihren Puppen, die sie zärtlich liebte. Dennoch war die Kleine überglücklich, wenn sie bei Walter sein durfte; sie saß mit leicht geöffneten Lippen und großen Augen da und lauschte seinem Vorlesen, ohne die Worte zu verstehen; sie beobachtete ihn bei der Arbeit wie beim Spiel mit einer Art von Ehrfurcht, nahm jede Zärtlichkeit von ihm mit dankbarem Entzücken auf und war auch zufrieden, wenn er sie gar nicht beachtete, wie es häufig genug geschah. Er hatte sich an diese Verehrung von seiten der kleinen Schwester so gewöhnt, daß er eine solche als etwas Natürliches hinnahm und sich über seine eigene Großmut verwunderte, wenn er sie einmal durch besondere Freundlichkeit erwiderte.
Georg machte ihm wohl darüber Vorwürfe, er wurde aber lachend von Walter zurückgewiesen und mußte sich sogar den Spottnamen des Ritters Georg gefallen lassen, mit dem ihn dieser belegte. Er bemühte sich in der That, diesen Namen, den er als Ehrentitel auffaßte, zu verdienen und als der Beschützer des kleinen Mädchens aufzutreten, wo sich eine Gelegenheit dazu bot.
Eine ganz besondere Freude für die Schulzen blieb es, wenn sich die Kinder in der Dämmerstunde um sie versammelten; sie saß dann in der Kinderstube an dem großen Kachelofen, der eine behagliche Wärme verbreitete. Dem Spinnrade war für einige Zeit Ruhe gegönnt; dafür prasselten in der Ofenröhre die Bratäpfel, und von Zeit zu Zeit unterbrach sie ihre Erzählungen, um mit sicherer Hand diese beliebten Leckerbissen auszuwählen, die gerade den richtigen Grad des Wohlgeschmacks erreicht hatten. Ihre Zuhörer hielten vergnügt die dampfenden Äpfel in der Hand und freuten sich an der Wärme, bis sie es wagen konnten, auch in anderer Weise ihre Annehmlichkeit zu erproben. Dabei lauschten sie den Worten der Erzählerin, die das Bild des Alten Fritz mit seinen Soldaten und seinen Siegen vor ihre Seele stellte.
Georg und Lottchen hörten gern von seiner Jugend und den Leiden, die er erdulden mußte, aber Walter verlangte immer nach Krieg und Schlachten, und die Schulzen fuhr ihm zufrieden über das blonde Haar und meinte bedauernd: »Schade, Walterchen, daß du nicht damals lebtest! Solch ein Heldenkönig kann nur alle tausend Jahre kommen, und ich freue mich immer, daß mein Seliger überall dabei gewesen ist, denn ich selbst fing ja damals erst an zu leben. Nun aber hat er alles mit angesehen, und es ist beinahe so gut, als hätte ich es auch.«
Die Kinder waren derselben Meinung; sie wußte es gar zu schön auszumalen. Einigemal hatten die Knaben schüchtern davon gesprochen, daß es auch jetzt Krieg in der Welt gäbe; dann wurde die Schulzen aber ärgerlich und meinte: »Was sonst vorgeht, ist mir höchst gleichgültig, wenn unsere Preußen nicht dabei sind, und die letzten Male haben die es schlecht genug gemacht!«
»Vielleicht wird bald wieder Krieg,« sagte Walter darauf; »alle Leute sprechen davon, und der Vater und der Magister sagten erst neulich, Österreich werde jetzt losschlagen und Preußen solle mitgehen.«
»Preußen braucht Österreich gar nicht, das kann allein, wenn's nur will,« sagte die Schulzen stolz, die noch immer die feindseligen Gedanken der Preußen des siebenjährigen Krieges gegen die anderen, deutschen Staaten hegte.
Sie lenkte aber doch ihre Schritte wieder öfter nach dem Exerzierplatz, wenn sie mit Lottchen spazieren ging, und beobachtete mit sachkundigem Auge das Drillen der Soldaten. Von ihrem Seligen war sie in alle Griffe und Übungen eingeweiht; sie hätte selbst einen Unteroffizier abgeben können, und daher vertiefte sie sich so in die Sache, daß sie alles übrige vergaß. In früheren Tagen, als sie mit Walter dem Exerzieren zugesehen, hatte sie an ihm einen guten Kameraden, dem sie ihre Wahrnehmungen mitteilen konnte und dessen eigene Ansichten sich schließlich so heranbildeten, daß er selbständige Bemerkungen wagen konnte; da war jetzt das kleine Mädchen ein schlechter Ersatz für sie. Die Kleine wollte gar nicht begreifen, daß es ohne Stock und Fuchtel bei den Rekruten nicht ginge, und daß diese dazu gehörten wie die Peitsche zum Kutscher. Sie weinte jämmerlich, wenn sie Zeugin der Mißhandlungen sein mußte, und weil die Schulzen sehr böse wurde, wenn sie wegen ihrer Thränen den Ort verlassen mußte, so fand Lottchen das Auskunftsmittel, daß sie auf die Soldaten gar nicht mehr blickte, sondern mit abgewandtem Gesicht am äußersten Ende des Platzes mit der mitgenommenen Puppe spielte. Zuweilen, wenn auch selten, kamen Walter und Georg auf ihren Spaziergängen mit dem Magister vorüber; Lottchen flog ihnen entgegen und war dann sehr froh, obwohl die Knaben wenig auf sie achteten, sondern von den Soldaten in Anspruch genommen wurden.
Doch sollten diese Besuche des Exerzierplatzes einen schlimmen Abschluß finden. Man sprach immer lebhafter vom Ausbruch des Krieges; Napoleons Übermut wuchs mit jedem Tage, Österreich war tief gedemütigt, und Preußen mußte sich fortwährend neue Beleidigungen gefallen lassen. Die Obersten der Regimenter ließen eifriger als sonst werben, das Drillen der Rekruten wurde mit Hast betrieben. Eine erwartungsvolle Stimmung herrschte; die Soldaten sangen kriegerische Lieder, die Offiziere traten fester auf und rasselten noch mehr als sonst mit ihren Säbeln, während die Bürger sich jeder Kundgebung enthielten. Sie fürchteten den Krieg, von dem sie nichts hofften; auch waren ihnen die Soldaten, die sie als Einquartierung in ihren Häusern haben mußten, durch ihre Zuchtlosigkeit, die Offiziere durch ihren Übermut verhaßt, und sie freuten sich, sie auf einige Zeit los zu werden, wenn sie aufs Schlachtfeld müßten; sie dachten auch wohl es wäre kein Schade, wenn mancher von den wilden Gesellen nicht wiederkehrte, und wäre der Krieg nicht gegen die verhaßten Franzosen gewesen, so hätten sie eine tüchtige Niederlage für etwas ihren Plagegeistern recht Heilsames gehalten.
Die beiden Knaben bestürmten den Magister jetzt mehr als sonst mit Bitten, sie nach dem Exerzierplatz zu führen, und er mußte ihnen öfter nachgeben, als ihm eigentlich lieb war. Auch eines Sommernachmittags konnte er sich ihren Wünschen nicht entziehen.
Nächstens sollte vor einem hohen General große Parade sein, da wurde mit doppeltem Eifer exerziert. Die Unteroffiziere quälten sich tüchtig mit den Leuten, die Offiziere hielten zu Pferde auf dem Platze. Sie hatten lange bei Tafel gesessen und viel Wein zur Erinnerung an einen früheren Sieg, dessen Jahrestag sie feierten, getrunken und waren daher in übermütigster Laune. Einer von ihnen hatte einen erst vor kurzem gekauften Hund bei sich, eine mächtige Dogge, die viel bewundert wurde.
»Ist ein vortrefflicher Hund, Ihr Herren,« sagte der Besitzer stolz, »auf den Mann dressiert, fürchtet sich vor dem Teufel nicht und ist doch geschickt im Anpacken.«
»Freund Zeilen ist vernarrt in sein Vieh!« lachte einer der Herren etwas spöttisch.
»Möchte Ihnen gleich eine Probe geben!« rief dieser im Eifer. »Seht dort das kleine Ding, das auf die Jungen zuläuft. Sultan soll sie apportieren. Ich pariere zehn Dukaten, er bringt sie her wie ein Bündel Wäsche und thut ihr doch nichts zuleide.«
»Es gilt!« schrieen die Offiziere lachend, und im nächsten Augenblick erhielt die Dogge den Befehl und stürzte in mächtigen Sätzen über den Platz, dem kleinen Lottchen nach, die soeben den Magister mit Walter und Georg erblickt hatte und ihnen freudig entgegenlief.
Die Schulzen hörte das leise Anschlagen des Hundes, der keuchend an ihr vorbeistürmte, und stieß einen verzweiflungsvollen Schrei aus, aber es war für sie unmöglich, das Tier einzuholen; Lottchen lief ahnungslos weiter, in einigen Sekunden hatte sie der Hund erreicht und schnappte nach ihr. Er war im wilden Lauf gegen sie gerannt, so daß sie zu Boden fiel, und nun stand er über ihr, keuchend, mit weit heraushängender Zunge, bemüht, sie zu erfassen und fortzuschleppen. Der Offizier hatte die Wahrheit gesprochen, die Dressur des Hundes war eine vorzügliche; er dachte nicht daran, das Kind zu verletzen, sondern bemühte sich nur, es an den Kleidern zu erfassen und fortzuschleppen: aber der ganze Vorfall war sowohl für Lottchen wie für die Zuschauer so entsetzlich, daß ihnen das Blut in den Adern erstarrte.
Der Magister stand leichenblaß da, Walter klammerte sich an ihn und schloß die Augen, um das Furchtbare, das er vermutete, nicht eintreten zu sehen; Georg aber stürzte mit Windeseile auf den Hund zu, der ihn nicht beachtete, und riß ihn, ehe er sich dessen versah, mit festem Griff am Halsband zurück.
Nun geriet das Tier in Wut und wollte sich auf den unerwarteten Gegner stürzen, Georg aber ließ ihn nicht los und wußte sich geschickt so zu drehen, daß ihn der Hund nicht fassen konnte; ein furchtbares Ringen begann, er war dem riesigen Tier nicht gewachsen, das sich im nächsten Moment befreien und ihn zerfleischen konnte; dennoch wagte sich niemand zur Hilfe herbei. Der schreckliche Kampf dauerte nicht lange. Die Offiziere stoben auf ihren Pferden heran, und Zeilen rief vom Pferde aus dem Hunde befehlend zu: »Nieder, Sultan! Nicht gerührt!«
Das Tier gehorchte, so wild auch seine Augen rollten und so heftig seine Erregung war.
»Laß los!« herrschte der Leutnant, der inzwischen vom Pferde gesprungen war, den Knaben an, »und merke dir, Bürschchen, heute will ich dir die ausgestandene Angst zu gute rechnen, ein andermal würde ich es Sultan überlassen, dir selbst zu zeigen, wie er mit deinesgleichen fertig wird. Ich hätte wirklich Lust, dem Bengel für seine freche Einmischung einige Hiebe zu versetzen.«
»Lassen Sie das, Leutnant von Zeilen,« sagte ein hinzutretender älterer Hauptmann beschwichtigend; »der Junge hat genug Bravour gezeigt; die Bestie war wütend, und wir kamen gerade im letzten Augenblick, um Unheil zu verhüten.«
»Glaubt Ihr's nun, Ihr Herren, daß Sultan ein vorzüglicher Hund ist?« fragte Zeilen stolz.
»Ein kapitaler Spaß!« lachte ein anderer.
Der Hauptmann blickte teilnehmend auf das kleine Mädchen, das totenbleich und lautlos auf der Erde lag, während neben ihr Georg niedergekniet war. Auch der Magister und Walter kamen jetzt hinzu und bemühten sich um sie.
»Ich befürchte, der Kleinen bekommt der Spaß schlecht,« sagte der Hauptmann unzufrieden; »Ihr thatet unrecht, Zeilen.«
»Es würde ihr nichts durch den Hund geschehen sein,« entschuldigte sich der Leutnant; »sie wird sich schon wieder erholen.«
Jetzt erschien die Schulzen, die zuerst keiner Bewegung mächtig gewesen war, auf dem Platze; sie nahm Lottchen auf ihre Arme, wusch ihr die Schläfen mit Wasser, das eine mitleidige Seele zur Stelle brachte, und sah kaum, daß die Kleine die Augen aufschlug, als sich ihr Zorn gegen die Offiziere Luft machte.
»Es ist himmelschreiend,« rief sie; »der Herr Hofrat werden schon gegen solche Schändlichkeiten einschreiten! Das thun königliche Offiziere! Ich will selbst zum König gehen, er muß mir Recht schaffen!«
»Schweig Sie, altes Weib!« donnerte sie einer der Offiziere an; »danke Sie Gott, daß wir es Ihrem Schreck anrechnen, daß Sie sich so vergißt!«
»Ich verlange keine Exküsen,« erwiderte die Schulzen, die sich so leicht nicht einschüchtern ließ; »ich verlange nur mein Recht, und ein altes Weib bin ich auch nicht, sondern eine ehrsame Korporalswitwe! Wenn der Alte Fritz noch lebte, so würde der schon wissen, was mit solchen Herren Leutnants geschehen muß, die ihre Hunde auf Kinder loslassen!«
»Halt Sie Ihr ungewaschen Maul, oder Sie soll meine Klinge fühlen!« schrie ein junger Leutnant wütend; doch legte sich wieder der Hauptmann ins Mittel, gebot den Herren Ruhe und befahl den Soldaten, den Platz von den anwesenden Zivilisten zu säubern.
Eine Kompanie marschierte heran, bei deren Nahen alles auseinanderstob. Der Magister führte seine Zöglinge fort; die Schulzen hatte Lottchen, die jetzt heftig weinte, auf den Arm genommen und trug sie nach Hause.
Die Empörung des Hofrats über den Vorfall war grenzenlos und wurde von der ganzen Einwohnerschaft geteilt; er begab sich sofort zum Oberst, machte persönlich Anzeige und verlangte Bestrafung des Schuldigen. Aber er fand unfreundliche Aufnahme und kein Gehör; der Oberst meinte, der ganze Vorfall sei kaum der Erwähnung wert; es habe sich um einen kleinen Scherz gehandelt, der Hund sei so gut dressiert, daß dem Kinde keine Gefahr gedroht habe; das bißchen Schreck sei bald überstanden, und die Kinderfrau habe sich außerdem so ungebührlich betragen, daß er große Lust hätte, sie wegen Respektlosigkeit gegen die Offiziere bestrafen zu lassen.
Bleich vor Zorn entfernte sich der Hofrat; die Beschwerde beim General hatte einen ähnlichen Bescheid zur Folge, und obwohl dem Hofrat wenig Hoffnung blieb, bis zum Könige vorzudringen, so beschloß er doch, auf diesem Wege sein Recht zu suchen; darüber aber traten unterdessen größere Ereignisse ein.
Der Mutter wurde die Gefahr ihres Lieblings sorgsam verschwiegen, um sie nicht unnötig aufzuregen. Georg erntete für sein mutiges Benehmen viele Lobsprüche, die Schulzen behandelte ihn fortan mit hoher Achtung, und zwischen Lottchen und ihrem Beschützer entspann sich eine warme Freundschaft.