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Wenn die Männer auf dem Rathause ihre Beschlüsse faßten, um zu thun, was nur möglich war, so waren die Daheimgebliebenen auch nicht müßig. »Fürs Vaterland!« so klang es in jedem Herzen, und jeder suchte sein Liebstes und Bestes hervor, um es freudig hinzugeben. Wer noch etwas Silbergerät gerettet hatte, der war des doppelt froh; mochte es noch so lange als teures Familienstück im Hause sein, mochte es als Andenken an einen längst verstorbenen, geliebten Geber noch so hoch in Ehren gehalten werden, jetzt wurde es aus dem verborgenen Fache hervorgeholt, in dem man es sorgfältig aufbewahrt; es wurde aus dem Seidenpapier gewickelt, noch einmal prüfend beschaut und den Kindern, die dabei standen und bewundernd auf den hellen Glanz und die zierliche Arbeit blickten, alles erzählt, was mit dem lieben Erbstück zusammenhing, der Tag, an dem es ins Haus kam, die Feste, die es geschmückt, die Besonderheiten, die es vor vielen anderen auszeichneten. Dann wurde das hochgehaltene Kleinod wieder eingehüllt in das weiche Papier, mit einem Tuche bedeckt, und fort ging's zum Einnehmer, der die Sammelstelle hatte.
Lottchen eilte durch das Haus und holte zusammen, was es Wertvolles darinnen gab, denn der Vater hatte gesagt: »Es wird uns aus den zinnernen Löffeln besser schmecken im freien Deutschland, als aus silbernen im geknechteten.« Sie packte unter Johanns Beistand den Silberbestand des Eßsaales ein, die Leuchter und Pokale, die er mit solchem Stolz geputzt, und die er nun ohne laute Klage, aber doch nicht ohne wehmütige Scheidegefühle zum letztenmal in Händen hatte; dann that sie die Brillanten dazu, die sie von der Großmutter geerbt, die schöne Perlenschnur, das Andenken an die Mutter, und was sie, die Tochter eines alten Patriziergeschlechts, von den Vorfahren erhalten hatte; nur den silbernen Fingerhut der seligen Mutter konnte sie nicht fortgeben; sie kämpfte noch lange zwischen ihrem Patriotismus und der Liebe für dieses Stück, das sie oft auf der geliebten, nun erkalteten Hand gesehen. Endlich legte sie ihn beiseite; es beruhigte sie etwas, daß er nur geringen Wert hatte, und sie wollte den König gern in anderen Weise entschädigen.
»Nähe nur tüchtig damit,« riet ihr die Schulzen; »die Soldaten brauchen gutes Leinenzeug auf den Rücken, und Hemden von ordentlicher, derber Leinwand sind ihnen gewiß willkommen.«
Gottlieb betrachtete seine Pfeife und seinen hölzernen Schatzkasten nachdenklich. »Daraus darf ich nichts nehmen,« sagte er entschieden; »der gehört mir nicht, er ist Georgs. Die Pfeife sollte er auch haben; 's ist ein Prachtstück. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich sie bei Lebzeiten fortgeben würde, als höchstens an ihn; doch er nimmt sie ja nicht – aber es muß sein; der König soll doch auch etwas von mir bekommen.«
Er stopfte sie noch einmal voll und rauchte daraus in seiner stillen Kammer; es war als nähme er von einem guten Freunde Abschied; sie hatte ihm so treulich Gesellschaft geleistet in mancher einsamen Stunde, und wenn er traurig oder verdrießlich gewesen war, so wurde ihm anders zu Mute, wenn er die alte Freundin zwischen den Lippen hielt und tüchtig aus ihr paffte; ja, als er in den letzten Jahren dem lieben Genüsse fast ganz entsagt hatte, vernachlässigte er die Pfeife doch nicht, sondern nahm sie von dem Nagel über seinem Bett herab und steckte sie kalt und leer in den Mund. Das war nun vorbei; sie würden das schöne Silber einschmelzen, und das war der Tod der alten, treuen Gefährtin. Er konnte nicht weiter rauchen, sondern nahm sie aus dem Munde und strich liebkosend über sie hin, wie man eine Freundeshand beim Abschiede drückt.
»Den Kopf kann der Einnehmer nicht brauchen,« fuhr es ihm durch den Sinn; »den kann ich retten, ich brauche nur den Beschlag abzumachen. Aber ich vermag es nicht, ich kann sie nicht verstümmeln.«
Er klopfte an die Wand zu Fritzens Kammer, der darin war und seine Anwesenheit durch kriegerische Lieder verriet, die er mit lauter Stimme sang; er bat den Jungen, daß er thun möchte, wozu ihm der Mut fehlte. Es geschah; der Altgeselle trug sein Silber zum Einnehmer, und den Pfeifenkopf legte er unter sein Kopfkissen.
In der Nacht träumte ihm von der Pfeife; sie hatte Uniform an, sah sehr stolz aus, und bedankte sich bei ihm, daß sie mit in den Krieg ziehen dürfe. Am Morgen lächelte er zwar über den Unsinn, der ihn aber doch freute; es war nun, als ob die Pfeife ihre Zustimmung ausgesprochen hätte.
Der Meister und seine Frau saßen noch spät bei einander; sie hatten so viel und so lange von ihrem Ältesten gesprochen und immer nur an ihn gedacht, daß sie alles Übrige fast vergessen hatten. Der Oberbürgermeister war nach der Sitzung noch selbst zu ihnen gekommen und hatte ihnen jedes Wort erzählt, was Karl damals gesprochen hatte, und sie wußten es nun gewiß, daß ihn das wilde Soldatenleben nicht zum schlechten Menschen gemacht, sondern gereift und geläutert hatte.
»Wenn ich ihn nur noch einmal sehen könnte!« seufzte die Mutter; »ich wollte dann gern sterben.«
»Damit warten Sie noch, Frau Meisterin,« versuchte der Oberbürgermeister zu scherzen; »wir wollen alle erst wieder Freude am Leben haben, wenn wir durch die schlimmen Zeiten sind und die Feinde glücklich aus dem Lande gejagt haben.«
»Aber Karl muß ihnen ja beistehen,« wandte Frau Fisch ein; »ach, dann bringt ein Bruder den anderen um!«
Ihr Mann, den sie wie Trost suchend ansah, blieb stumm; er selbst hatte schon eine solche schreckliche Möglichkeit erwogen.
»Wir wollen auf Gottes Hilfe bauen,« sagte der Oberbürgermeister endlich, um den armen Eltern, deren Befürchtungen ihn mit Grauen erfüllten, doch einige Beruhigung zu geben; »der Herr im Himmel kann auch dies Leid wenden!«
»Gott gebe es!« sagte die Mutter mit erleichtertem Herzen. »Ich will gern alle meine Söhne für die gute Sache hergeben; Georg bleibt gewiß nicht zurück, wenn nur keiner beim Feinde steht!«
Der Oberbürgermeister verabschiedete sich, und Eltern und Kinder wurden nicht müde, von dem Wunderbaren zu sprechen, was sie von Karl gehört. Auf diese Weise fiel den Ehegatten erst am Abend wieder ein, daß in den Häusern für die Rüstungen gesammelt wurde.
»Ich habe schon auf dem Rathause genannt, was ich geben kann,« erzählte der Meister seiner Frau; »es ist nicht viel, aber es ist das Äußerste; unsere Kinder setzen ja ihr Leben daran, und Blut ist doch noch mehr wert als Geld.«
»Dennoch möchte ich gern etwas beisteuern,« sagte die Frau, »es bleibt uns nur nichts Wertvolles, alles ist fortgegangen in diesen schlechten Zeiten.« Da fiel ihr Blick auf ihren Trauring.
»Vater,« begann sie freudig und doch zögernd, »wir haben noch die Ringe, die uns verbunden haben zur Treue in Freud und Leid, wollen wir sie jetzt hingeben?«
Der Meister sah erschrocken aus. »Wie geht das?« sagte er. »Die Ringe haben uns am Altar vereint.«
»Ich meine, wir bleiben dieselben auch ohne die Trauringe,« wandte sie schüchtern ein, »sie sind doch nur ein äußeres Zeichen.«
»Ich kann mich nicht vom Trauring trennen,« erwiderte ihr Mann, »der soll mich ins Grab begleiten, denn er bindet uns auch im Himmel zusammen. Aber mir fällt etwas ein,« fuhr er fort, als er die traurige Miene seiner Frau sah, »wir geben die goldenen Ringe fort und lassen uns eiserne dafür machen. Das Eisen ist doch stärker als Gold, das vermag mehr. Bist Du es nun zufrieden?«
Sie nickte einverstanden. »Mein gutes, teures Weib,« sagte der Mann, »der Ring brachte dir ein Leben voll Sorge und Arbeit!«
»Aber auch viel Liebe und Glück,« sagte sie freudig, »der Ring ist mein höchster Schatz, darum opfere ich ihn gern für die Wohlfahrt des ganzen Volkes.«
Im Nachbarhause saß Minchen vor der Truhe in ihrer Kammer, die ihr bestes Eigentum enthielt. Sie war von Haus aus tüchtig angehalten zu allem Guten, so daß die Schulzen ihre Wahl nicht zu bereuen hatte und sie sich in dem Verlauf des Winters zur zuverlässigen Gehilfin heranbildete. Sonst benutzte sie wohl gern die späten Abendstunden, um emsig zu nähen, denn sie war Braut, und wenn es auch noch lange dauern mochte, ehe eine Aussicht zur Begründung eines eigenen Herdes war in diesen Zeiten, wo ein Handwerker so schwer sein Auskommen fand, so schaffte sie doch fleißig an der Aussteuer und freute sich, wenn sie wieder ein sauber genähtes Stück in die Lade legen konnte.
Heut war das anders; ihr Schatz mußte in den Krieg, sobald es so weit war, das stand fest, und Minchen hatte bei allem Heldenmut doch die bitteren Thränen nicht bezwingen können. Wenn sie ihn totschossen! Sie hatte ihn so von Herzen lieb; es war ein so braver Mensch, der sie gewiß zur glücklichen Frau gemacht haben würde! Ach, und nun sollte sie Witwe werden, ehe sie verheiratet gewesen war!
Aber in ihren Thränen mußte sie lachen. So weit war es noch lange nicht. Gott sei Dank, jede Kugel trifft ja nicht, ihr August würde schon zurückkehren aus dem blutigen Kriege, und wenn sie ihm etwas wegschossen, das wäre schrecklich! Doch dann wollte sie erst recht für ihn sorgen, dann sollte er sehen, was er an Minchen hatte! Sie war getröstet und konnte wieder ihre Augen trocknen.
Unten rechts stand das Schächtelchen mit dem Gelde: wie hatte sie daran gespart, es war fast ihr ganzes Lohn, sie hatte sich kein Band, keine Spitze gestattet, in denen sie ihrem Schatz gewiß noch besser gefallen hätte; aber nein – es galt zu sparen, um die Aussteuer davon zu beschaffen. Der Vater konnte nicht viel geben, sie mußte selbst dafür sorgen, und jedesmal, wenn sie die Schachtel geöffnet und den Klang des neu dazu gethanen Geldes vernommen hatte, hatte ihr Herz einen ordentlichen Freudensprung gemacht. Ja, wollte sie sich ein Vergnügen bereiten, so holte sie ihre Schachtel hervor, wog sie in der Hand und ließ das Geld darin klappern, und dann wurde sie aufgemacht und der Sparschatz darin betrachtet.
Heute hatte sie diese kleine Spielerei unterlassen, aber sie zählte sehr aufmerksam, es war eine hübsche Summe nach ihren Begriffen; morgen sollte sie fort, der August sollte sie zum Einnehmer tragen und seine Ersparnisse dazu. Sie halten doch keine Aussicht zum Heiraten, und war der Krieg erst glücklich vorbei, so fingen sie von neuem zu arbeiten und zu sparen an, sie gaben's beide gern hin.
Dorchen war in schlimmer Lage; sie war immer zu Hause gewesen und hatte nichts verdienen können, so besaß sie auch nichts außer ihren Kleidern, und die konnten die Soldaten doch nicht brauchen. Einige Tage schlich sie still und betrübt durch das Haus; es schien, als wäre sie die Einzige, die sich nicht über die Nachricht vom Bruder Karl freute; alle Fragen halfen nichts, sie wollte ihr Leid nicht gestehen. – So hatte sie die erste schlaflose Nacht in ihrem jungen Leben, denn sie zerbrach sich ihren armen Kopf noch immer vergebens. »Wäre ich doch reich,« seufzte sie, »hätte ich doch Silber, Gold und Edelsteine, ich gäbe alles hin.«
Aber halt! besaß sie denn nicht etwas, was an Gold erinnerte, was in Gold verwandelt werden könnte? Ihr Haar, das in zwei langen, schweren Zöpfen um ihren Kopf gewunden war, war schon manchmal dem Golde verglichen worden, sie konnte es hergeben, vornehme Damen kauften so etwas. Monsieur Picard, der französische Friseur, hatte erst neulich, als sie an seinem Laden vorbeiging, ihr zugenickt und gerufen: » Ah, mademoiselle, quelle richesse! Sie 'aben eine wundersöne 'aar; ick würde sein sere glücklick, zu sehen und zu berühren es!«
Sie hatte den Kopf hochmütig in den Nacken geworfen und war mit einer schnippischen Antwort weiter geeilt. Nie würde sie ihr Haar von ihm haben auflösen lassen. Er war auch nicht der Einzige, der ihr ein solches Kompliment machte, überall wurde von ihrem schönen Haar gesprochen, die anderen Mädchen beneideten sie darum, die jungen Männer bewunderten es.
Morgen sollte Monsieur Picard das Vergnügen haben, ihr Haar in seiner ganzen Pracht zu sehen, er sollte es zusammenfassen, wiegen, schätzen und abschneiden um den Preis, den er bestimmen würde. Aber wie würde sie dann aussehen! Sie blickte in den kleinen Spiegel über ihrer Kommode, nachdem sie ihr Haar glatt zurückgestrichen hatte; ach, am Ende mußte sie gar eine weiße Mütze tragen wie eine alte Frau; sie würde so häßlich sein, man würde über sie lachen, über sie spotten, ach Gott, es war zu schwer, sie vermochte es doch nicht, die Thränen liefen ihr über die frischen Wangen. Doch das dauerte nicht lange, so trocknete sie die Augen und nickte ganz entschieden: »Es geschieht, Jungfer Dorchen, du kannst nicht mitmarschieren, wenn der Krieg losgeht, aber du kannst ohne Haare fertig werden und dem Könige das Geld geben.«
Sie holte Kamm und Bürste, nahm den Spiegel herunter, stellte ihn gegen das Gesangbuch, das auf der Kommode lag, rückte das Lämpchen zurecht, daß sie gut sehen konnte und ließ den Kamm durch die langen, schweren Massen des glänzenden Haares gleiten. Das that ihr wohl; sie konnte gar nicht wieder aufhören, es war ja das letzte Mal in ihrem Leben! Erst als das Lämpchen immer dunkler brannte und endlich aus Mangel an Öl erlosch, legte sie seufzend den Kamm fort, flocht das Haar im Dunkeln ein und ging zu Bett.
Laut schreiend erwachte sie am Morgen; ihr hatte geträumt, Monsieur Picard schneide ihr Haar ab und aus Versehen ihren Hals mit, der Kopf wollte eben abfallen, und das that schrecklich weh. Sie besann sich, ihr Vorhaben fiel ihr wieder ein, daher kam auch der wunderliche Traum. Ach, es war am Ende das Beste, er würde zur Wahrheit, sie wäre tot, ohne ihr Haar wäre es doch nur ein halbes Leben. »Schäme dich,« schalt sie sich, »die Brüder geben ihre Glieder und ihr Leben, und du willst um dein Haar solch Aufhebens machen!«
Sie stand schnell auf, kleidete sich an, besorgte den Haushalt, während noch alles im Hause schlief, und als die Morgensuppe fertig war, rückte sie den Topf sorgsam vom Feuer ab, holte die große Schüssel herbei, der Tisch war schon mit Löffeln und Tellern und dem Laibe Schwarzbrot geordnet, so schlüpfte sie hinaus, eilte durch die noch ziemlich stillen Straßen und klopfte bei Monsieur Picard an, der seinen Laden noch nicht geöffnet hatte und verdrießlich in der Schlafmütze aus dem Fenster sah. Sein Ärger über die frühe Störung verwandelte sich jedoch in Freude, als sie ihm ihr Haar zur Verfügung stellte.
»Mit plaisir, mam'zelle,« sagte er schmunzelnd. »Oh, ick sein enchanté, lass' Sie sehen, wie schwer. Oh, quelle couleur! ick will Sie geben eine gute Stück argent!«
Er nannte eine Summe, die Dorchen freudig überraschte, und sie setzte sich nun still und mit zugemachten Augen auf einen Stuhl und ließ das Schrecklichste über sich ergehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
»Sie waren eine belle fille und werden sein nun ein beau garçon« sagte der höfliche Monsieur Picard und hielt ihr, als er fertig war, einen Spiegel hin, aus dem ein niedlicher blonder Junge sie erstaunt anblickte; zu ihren Füßen lag der goldene Hauptschmuck.
»Ick hätte nicht gedacht, daß ick würde erhalten Ihr 'aar,« sagte Monsieur Picard, »Sie waren so fachée, als ick Sie mackte den Vorschlack.«
»Ich hätte es auch nie hingegeben,« schluchzte Dorchen, »wenn es nicht zum Kriege gewesen wäre; aber unser König braucht Geld, jeder bringt etwas, nur ich hatte nichts.«
Monsieur Picard wurde plötzlich sehr ernst. »Ick kann Ihr 'aar nicht nehmen, mam'zelle,« sagte er, »und bedaure sehr, daß Sie erst jetzt mir sagen pour quel but.«
Dorchen starrte sprachlos vor Schreck den Friseur an.
»Warum 'aben Sie erst jetzt gesprocken!« wiederholte er betrübt. »Sehen Sie, chère enfant, ick sein Franzos, 'abe lange in ihrem Lande gelebt, viel Gutes erfahren, und ick bete für ihren Könick. Aber ick kann Ihnen nicht geben das Geld, die Krieg zu macken an meine eigene patrie, es sein gegen die honneur, ick kann nicht.«
»Was soll ich nun beginnen?« jammerte Dorchen laut weinend. »Ich habe mein Haar umsonst geopfert.«
Der kleine Friseur betrachtete sie teilnehmend. »Ne pleurez pas,« bat er, »ick weiß Rat. Ick kann nicht kaufen wegen der honneur, aber in Berlin sind deutsche Friseure, bringe' Sie Ihr 'aar; man wird es hinschicken, Sie bekommen das Geld.«
Dorchen sah das Richtige des Rates ein. Es wurde ihr nicht leicht, den Schritt zu thun, aber es mußte sein. Sie sammelte das Haar, das ihr Monsieur Picard sorgfältig einpackte, und begab sich in das Büreau, wo die Gaben angenommen wurden. Hier herrschte ein reges Leben. Ein Beamter nahm die Beiträge in Empfang, ein anderer trug sie in die Listen ein, ein dritter leitete die Verpackung, die von einigen Dienern ausgeführt wurde. Fortwährend strömte das Publikum herbei und trug herzu, was an Wertsachen noch erhalten war. Dorchen näherte sich schüchtern, das lange, goldglänzende Haar in der Hand und trug mit leiser Stimme ihr Anliegen vor.
Der Beamte blickte sie zuerst befremdet an, dann begriff er die Größe ihres Opfers; er nahm ihr freundlich das Haar ab, bewunderte seine Schönheit und sagte ergriffen: »Wahrlich, diese That wird unvergessen bleiben; ich will dafür sorgen, daß sie auch zu den Ohren unseres Königs gelangt, sie wird sein Herz erfreuen. Der Gott, der das Scherflein der Witwe segnet, wird auch mit seiner Huld die Gabe der Jungfrau begleiten, die ihren schönsten Schmuck willig darbringt.«
Tief errötend stand Dorchen vor ihm und atmete erst wieder auf, als sie allen auf sie gerichteten Blicken entflohen und auf dem Heimwege war.
Zu Hause war man nicht wenig erstaunt über ihr Fortsein gewesen; als sie jetzt ins Zimmer trat, empfing sie ein lauter Aufschrei der Mutter: »Um Gottes willen, Dorchen, dein Haar!«
»Ich habe es verkauft für den König,« sagte sie einfach.
»Wie konntest du das thun! Wie siehst du nun aus!« jammerte die Mutter.
»Es wächst wieder,« tröstete Dorchen mit dem Versuch eines Lächelns; »es war immer so mühsam zu machen und kostete mich so viel Zeit; nun geht's schnell.«
Die Mutter wollte sich nicht zufrieden geben, aber der Vater trat auf ihre Seite und sagte: »Das Jammern hilft zu nichts mehr, Mutter; hat Dorchen den Mut gehabt, das zu thun, so freut mich's für sie. Sie hat brav gehandelt.«
Er gab ihr einen Kuß, bei ihm ein seltener Beweis seiner liebevollen Zufriedenheit, und Dorchen war es, als hätte sie einen Orden bekommen. Einige Tage wagte sie sich nicht auf die Straße, aber mit der Zeit überwand sie diese Scheu. Sie ließ ruhig alle Bemerkungen über sich ergehen, Lobsprüche wie Bedauern; aber es war ihr doch eine stille Freude, als Bruder Fritz laut erklärte, sie gefiele ihm auch mit dem kurzen Haar sehr gut.
Alle Feldmarschälle der Welt konnten nicht so kriegerisch einherschreiten, wie die Schulzen seit den letzten Wochen; von Altersschwäche und Todesgedanken war keine Spur mehr vorhanden; es fehlten ihr nur die Sporen, sonst hätte man sie für einen Reitersmann halten können, wenn sie so daher gestampft kam. Sie trug sich aufrecht, ganz nach dem Reglement, sprach nur in kurzen Kommandos und war mit ihrem Seligen überall bei der Hand; ja, es würde sie kaum überrascht haben, wenn dieser aus dem Jenseits eingerückt wäre, um wieder Korporalsdienste zu thun.
Noch war sie nicht mit ihrem Beitrag an der Kasse des Einnehmers erschienen, obwohl sie ihr ganzes Vermögen, das sie in ihrem langen, arbeitsamen Leben zusammengebracht, flüssig gemacht hatte. Statt dessen besuchte sie in der Vorstadt den Juden Isaak, der mit Pferden handelte, und begann mit ihm ihre geheimen Abmachungen. Er lernte sie gründlich kennen, denn es ergoß sich ein fürchterliches Donnerwetter über sein Haupt, als er ihr ein Pferd, das auf einem Auge erblindet war, als tadellos vorführen wollte, und sie zeigte so viel Sachkenntnis, daß sie ihn hierdurch und durch ihr energisches Wesen so einschüchterte, daß er ihr versprach und, was mehr war, es sich ernstlich vornahm, sie rechtschaffen zu bedienen.
Jetzt kam die Reihe an den Oberbürgermeister. Es klopfte an seine Thür, als sollte diese in Stücke zerspringen. Die Schulzen erschien, machte drei große Schritte, blieb mit angezogenen Armen stehen, salutierte militärisch und meldete: »Herr Hofrat« – sie gab ihm mit Vorliebe diesen Titel – »melde mich zum Abmarsch.«
»Was giebt's, Schulzen?« fragte dieser erstaunt; »Sie ist doch nicht krank?« Seine erste Befürchtung war, nach allen bedenklichen Symptomen der letzten Zeit wäre die Schulzen verrückt geworden.
»Krank?« wiederholte diese verächtlich. »Wo sollte ich die Zeit dazu hernehmen? Ich muß aber fort, in den Krieg.«
»Schulzen, Ihr rappelt's!« rief der Oberbürgermeister.
»Nein, noch nicht, wird auch nicht,« sagte sie bestimmt; »aber der Herr Hofrat können doch nicht erwarten, daß ich, wenn mein Seliger schon durch seinen Tod am Mitgehen verhindert ist, es ihm anthue, ruhig hier zu bleiben und Suppen zu kochen oder Strümpfe zu stricken, wenn gegen die Racker von Franzosen marschiert wird.«
»Was will Sie denn dort, Schulzen?« fragte der Oberbürgermeister besorgt. »Sie kann doch nicht fechten.«
»Will ich auch nicht,« antwortete diese kurz. »Aber wenn die Schlacht vorbei ist und die Unseren haben die französischen Schlingel ordentlich zusammengehauen, dann haben sie barbarischen Durst; o, ich weiß das von meinem Seligen. In der Kriegsfurie habe ich ihn ja leider nicht gesehen; aber trinken konnte er bei der bloßen Erinnerung daran, daß es eine Freude war! Manchmal konnte ich das Glas kaum so schnell vollschenken, wie die gute Seele es leer kriegte –«
»Schon gut, schon gut,« unterbrach der Oberbürgermeister den Redestrom. »Nun zur Sache, ich habe so wenig Zeit.«
»Bin schon dabei, Herr Hofrat,« fuhr die Schulzen fort. »Also zu trinken und etwas Gutes zu essen müssen unsere braven Jungen haben, und dafür wird die Schulzen sorgen. Ich gehe mit als Marketenderin. Mein bißchen Vermögen stecke ich in den Kram; die bezahlen können, kriegen's billig, den Armen gebe ich's umsonst. Was ich mit dem Gelde anfangen sollte, hat mich oft gequält. Für mich ist bis an mein Lebensende gesorgt, das weiß ich; Walter und Lottchen brauchen meine Ersparnisse nicht, und Angehörige habe ich auch nicht; da ist nun die Verlegenheit mit einem Mal zu Ende. Wenn's losgeht, marschiere ich mit; der infame Betrüger, der Isaak, soll mir ein Pferd besorgen, aber ein gutes, sonst soll ihn ein heiliges Kreuz – aber ich bitte um Entschuldigung, das kommt vom Lagerleben.«
Sie knickste und ihr Herr mußte lächeln. »Aber Schulzen, bedenke Sie Ihr Alter; die Strapazen sind groß,« wandte er ein.
»Na, hundert Jahre bin ich noch nicht,« erwiderte sie beleidigt, »und aushalten kann ich mehr als zwanzig Junge zusammen.«
»Was soll aber aus uns werden?« stellte er ihr vor.
»Ist alles besorgt,« antwortete sie; »Lottchen ist über ihre Jahre hinaus verständig, und Minchen Fisch habe ich schon angelernt; die beiden lassen das Hauswesen nicht in die Brüche gehen. Ich warte nur noch, bis die Jungen – ich wollte sagen die Herren Studenten – von der Universität kommen; denn daß die nicht dort aushalten, wenn's losgeht, ist sicher. Nachher muß ich auch fort; ich wollte es nur beizeiten sagen. Es ist auch gut,« fügte sie vertraulich hinzu, »wenn jemand in der Nähe ist, der auf Walter aufpaßt, sonst möchte er doch Malheur anrichten; aber ich will schon nach ihm sehen. Na, ich bereite alles vor, und bis dahin bleibt alles beim Alten.«