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Sechzehntes Kapitel.
Das Gespenst.

In Hohenstein fand Georg die größte Erregung; das allgemeine Interesse drehte sich um den Mittelpunkt, den die neue Not des Vaterlandes und die gespannte Erwartung bildeten, was Preußen jetzt thun werde. Das Einzelne trat so sehr gegen die Gesamtheit zurück, daß Georg es leichter fand, als er gedacht, über Walter und die Einflüsse, unter denen er jetzt stand, zu schweigen. Nach wenigen Tagen traf die Schreckenspost ein: Napoleon habe durch heftige Drohungen den König gezwungen, nicht nur ein enges Bündnis mit Frankreich zu schließen, sondern auch seine Teilnahme an einem etwaigen Kriege mit Rußland zuzusagen. Wie ein zermalmender Donnerschlag traf diese Kunde alle neu keimenden Hoffnungen; jetzt war alles vorbei. Aus solcher Erniedrigung, die das Land wie einen gefesselten Sklaven dem Triumphwagen Napoleons dienstbar machte, konnte sich Preußen nicht wieder erheben.

Der Oberbürgermeister wollte sein Amt niederlegen; es fehle ihm an Kraft und Mut zur Arbeit, sagte er; die einstimmige Bitte der Bürgerschaft bewog ihn zum Bleiben, obwohl er eingestand, daß er, nun alles gescheitert, auch das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit verloren habe. Er fragte wenig nach seinem Sohn; daß er gesund war, genügte ihm. Für welche Zukunft würde dieser arbeiten und streben? Sie war so düster.

Selbst die Schulzen hatte den Mut verloren. »Jetzt freue ich mich, daß mein Seliger tot ist,« sagte sie; »solche Schmach hätte sein Soldatenherz gebrochen. Walter ist auch fortgeblieben; aber was schadet's! Froh sein kann man doch nicht mehr. Ich merke, daß ich alt werde, auch die Arbeit will nicht mehr gehen.«

Nur Lottchen blieb sich gleich, still und emsig, stets thätig und bemüht, es allen im Hause behaglich und wohl zu machen. Sie war über ihre Jahre ernst und verständig; es schien, daß sie das Bewußtsein, die Stelle der Mutter nach Möglichkeit ersetzen zu müssen, gereift und gekräftigt hatte. Der Vater war der unablässige Gegenstand ihrer Sorge, und sie bemühte sich um ihn in ihrer geräuschlosen, ruhigen Weise, ohne Dank zu begehren noch zu empfangen. Er war stets in sich gekehrt und achtete nicht auf sie; gleichalterige Freundinnen besaß sie nicht, und so ging ihr Leben ohne heitere Abwechselung in dem Bestreben hin, die schweren Pflichten, welche der Himmel ihr auferlegt, zu erfüllen. Georgs Besuch war für sie ein Sonnenstrahl in ihrem einsamen Dasein; mit ihm konnte sie alles besprechen, was ihr Gemüt bewegte oder ihren Geist beschäftigte. Es entging ihr zwar nicht, daß zwischen Georg und ihrem Bruder nicht mehr alles wie sonst war, aber da dieser jeder Erklärung auswich, so hoffte sie, es würde eine vorübergehende Entfremdung sein.

Die Schulzen hatte einen Entschluß gefaßt, und sie zögerte nicht lange mit seiner Ausführung; nachdem sie mit dem Bürgermeister gesprochen und seine Einwilligung erhalten hatte, ließ sie sich bei Frau Fisch zu einem Schälchen Kaffee ansagen. Auch diesen Genuß hatte der böse Napoleon den vielen Freundinnen desselben fast ganz geraubt, denn durch die Kontinentalsperre, die er gegen England einführte und deren strenge Durchführung er von allen unterworfenen Ländern verlangte, war der Kaffee fast unerschwinglich verteuert, trotz des regen Schmuggelhandels, der an den Küsten getrieben wurde.

Frau Fisch hatte die schönen, altmodischen Tassen, die von ihrer Großmutter herstammten und die sonst die Kommode der guten Stube zierten, mit einem dunklen Gebräu gefüllt, das jeder als Roggen, Eicheln oder Mohrrüben anerkannte, aber doch mit Behagen als Kaffee trank, den man tüchtig mit Sirup versüßte und in den man den für den hochgeehrten Besuch selbst gebackenen Kuchen tauchte.

»Ja, ja, es ist, wie ich sage,« fuhr die Schulzen, die auf dem Kanapee thronte, während Frau Fisch bescheiden vor ihr auf einem Stuhle Platz genommen hatte, in ihrer Rede fort, »die Augen werden schwach, ich werde alt, und nun ist mir noch diese verdammte Franzosengeschichte – Gott verzeihe mir die Sünde – in die Kniee gefahren. Ich hab's dem Herrn Hofrat gesagt, es geht nicht mehr lange, ich muß an den Abmarsch denken.«

»Daß Gott bewahre!« wehrte Frau Fisch ab; »was sollte dann aus dem Herrn Oberbürgermeister und Mamsell Lottchen werden! Sie dürfen so etwas nicht sagen, die Schwäche kommt bloß, weil Sie sich solche Gedanken machen.«

Die Schulzen schüttelte den Kopf. »Nein, es ist aus, ich muß an die Ablösung denken,« sagte sie. »Unsere Mamsell ist ein Staatsmädchen, und obwohl sie kaum 14 Jahre zählt, leistet sie mehr, als zehn andere. Aber es wird doch zu viel für sie. Da habe ich an Minchen gedacht. Ich könnte sie vor meinem Ende noch anlernen zu einer tüchtigen Beschließerin.«

»Ach, diese Ehre,« meinte Frau Fisch, »daß Sie das Vertrauen zu ihr haben. Minchen könnte ja in keine bessere Schule kommen.«

»Wie steht es mit ihrem Schatz?« forschte die Schulzen. »Sie ist doch versprochen.«

»Ja wohl,« erwiderte Frau Fisch, »mit Schlossermeister Braun seinem Ältesten. Aber wer kann bei den Zeiten an Heiraten denken! Ich hätte längst gewünscht, sie möchte aus dem Hause, sich ein bißchen verdienen, ich habe ja an Dorchen genug, aber bloß als Dienstmädchen ging es nicht, das würde sich für eine künftige Frau Meistern doch nicht gepaßt haben; es ist gewiß kein sündiger Hochmut.«

Die Schulzen nickte einverstanden, dann wurde das Nähere festgesetzt, daß Minchen in kurzer Zeit die Stelle antreten sollte.

Kurz vor der Abreise hatte Georg doch noch das Verhör vor dem Oberbürgermeister zu bestehen, das er die ganze Zeit gefürchtet hatte. Er mußte bekennen, daß er mit Walter uneins war und den Grund des Zerwürfnisses erzählen, was er so schonend als möglich that. Der Oberbürgermeister sagte wenig und Georg wagte die Bitte, er möchte nichts gegen seinen Sohn erwähnen, konnte jedoch keine Zusage erhalten. Er selbst hatte den Freund in den Ferien sehr entbehrt, die verletzenden Worte desselben waren in seiner Erinnerung so verblaßt, daß er mit versöhntem Herzen zurückkehrte, bereit, bei dem geringsten Entgegenkommen von seiten Walters alles vergeben und vergessen sein zu lassen. Allein er fand eine große Veränderung. Zuerst war Walter aus seiner Verbindung geschieden und zu den Alemannen gegangen, dann vermied er offenbar jede Gelegenheit, mit dem früheren Freunde zusammenzutreffen. Als sie sich endlich begegneten und Georg die Grüße bestellen wollte, die ihm von Hause so reichlich mitgegeben worden waren, that Walter, als sähe er die dargebotene Hand nicht und entgegnete kurz: »Ich hörte bereits, welchen Dienst du mir bei meinem Vater geleistet hast.«

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Georg entrüstet.

»Einem Ohrenbläser gegenüber kann es nur eine Erklärung geben,« erwiderte Walter verächtlich, »auf der Mensur.«

Georg bebte vor Zorn. »Hat dir dein Vater Vorwürfe gemacht, so bin ich nicht daran schuld,« sagte er mit mühsam bewahrter Ruhe; »ich konnte ihm die Auskunft über unseren Streit und seine Ursache nicht versagen, als er sie von mir forderte, aber ich verfuhr so schonend wie möglich. Diese Beleidigung ist die letzte, die ich hinnehme. Auf der Mensur kann ich dir nicht feindlich gegenüber stehen; es wäre, als wollten sich zwei Brüder bekämpfen aber unsere Wege scheiden sich jetzt für immer. Der Gedanke an deine Mutter verbietet mir, zu thun, was ich möchte.«

Er wandte sich, Walter that das nämliche, und von nun an mieden sie einander mit ängstlicher Sorgfalt. Georg studierte fleißig, gab daneben noch Stunden, durch deren Honorar er einen Teil seiner Ausgaben deckte und behielt doch noch Zeit, dann und wann mit seinen Studiengenossen einen vergnügten Abend zu verleben. Dennoch fehlte ihm Walter mehr, als er sich selbst zugestehen mochte.

Von Walter und seinen neuen Freunden wurde viel gesprochen; es verging fast keine Woche, in der nicht ein übermütiger Streich den Unwillen der Bürgerschaft und Behörde herausforderte, und es war sogar schon zu thätlichen Zusammenstößen zwischen den Alemannen und den Dienern des Gesetzes gekommen; doch war es den ersteren stets gelungen, sich so glücklich aus der Sache zu ziehen, daß sie mit einer Verwarnung davonkamen. Jetzt ging plötzlich ein wunderbares Gerücht durch die Stadt. Seit einigen Nächten waren die Schlüssellöcher vieler öffentlichen und Privathäuser so fest und künstlich mit Papier und Lumpen verstopft gewesen, daß es stundenlanger Bemühungen bedurft hatte, diese Hindernisse für den Schlüssel zu entfernen. Die Nachtwächter und Polizisten hatten trotz aller Wachsamkeit die Übelthäter nicht entdecken können; folgten sie hier einer verdächtigen Gestalt, die an den Häusern entlang schlich, so entpuppte sich dieselbe als ein harmloses altes Mütterchen oder ein verspäteter Bürger, und unterdes war am anderen Ende der Straße das Unheil geschehen.

Die Bürger verloren endlich die Geduld, jeder neue Morgen brachte neues Ärgernis, wenn die Bewohner nicht aus ihrer unfreiwilligen Klausur hinaus konnten; man schalt auf die Polizei, und diese war im höchsten Zorn und entschlossen, alles daran zu setzen, um die Verüber des Unfugs festzunehmen.

Erwartungsvoll und racheschnaubend rückte die bewaffnete Macht der Stadt, aus Nachtwächtern, Polizisten und Gendarmen bestehend, am Abend aus und verteilte sich in verschiedene Hinterhalte, um auf das erste Signal eines Kameraden zu dessen Unterstützung hinzu zu eilen. Alles blieb still, die Stadt lag im tiefen Schlummer, ab und zu war noch ein Fenster erhellt, sonst war alles dunkel, kein Student ließ sich sehen, alle schienen höchst tugendhaft zu Hause zu sein. Kurz vor Mitternacht ging der Mond auf, die wenigen Öllampen, welche an den Straßenecken die Richtung andeuteten, ohne etwas zu erhellen, wurden in weiser Sparsamkeit ausgelöscht, das Mondlicht: erleuchtete die eine Seite, während die andere im Dunkel lag. Da regte es sich: feierlich abgemessene, schleppende Schritte kamen vom Marktplatz her, eine hohe weiße Gestalt wandelte langsam im Glanz des Mondes dahin, die weiten Gewänder flatterten hinter ihr her, das Gesicht und der Kopf waren verhüllt. Vor einigen Hausthüren stand die Gestalt still, murmelte unverständliche Worte, und erhob dabei den Arm mit der weißen Draperie. Es sah grausig aus, aber den tapferen Dienern der heiligen Hermandad bangte nicht, sie handelten in ihrer Pflicht, und es waren ihrer ja so viele; ein leiser Pfiff ertönte von dem nächsten, der von der anderen Ecke ebenso erwidert und weiter gegeben wurde. Die Gestalt, unter der sich einer der verruchten Studenten bergen mußte, achtete nicht daraus; so warnte man sich gegenseitig und zog sich kriegsgerecht heran, um den Missethäter von allen Zeiten zu umstellen. Jetzt war er eingeschlossen, er konnte nicht mehr entweichen, die Nachtwächter und mehrere Polizisten stürzten heran und schrieen: »Halt! Gebt Euch gefangen! Fort mit der Vermummung!«

Die Gestalt blieb ruhig stehen; als aber einer der Polizisten nach ihr griff, erhielt er blitzschnell und mit solcher Kraft einen Schlag über den rechten Arm, daß er diesen mit lautem Schrei sinken ließ. »Faßt ihn!« schrieen die anderen, »das soll er büßen!«

Sie wollten sich wütend auf die Gestalt werfen, da wendete ihnen diese das Antlitz zu, von dem jetzt die Verhüllung herabgesunken war; der helle Mondschein fiel daraus, und ein furchtbarer Aufschrei erfolgte von den Angreifern; ein Totenkopf grinste ihnen entgegen, und der fleischlose Arm eines Gerippes streckte sich nach ihnen aus. Sie wichen entsetzt zurück, und im nächsten Moment war die gespenstige Gestalt in die tiefe Nische einer Hausthür verschwunden. Als sie sich gefaßt hatten, war keine Spur des Spukes mehr sichtbar. Die Ängstlichen wollten die Flucht ergreifen, die Beherzten weiter nachforschen; sie untersuchten die Thür, die sie fest verschlossen fanden, und donnerten so lange dagegen, bis der Hauswirt, ein ehrsamer Schlächtermeister, halb erschrocken, halb ärgerlich erschien und nach der Ursache solch nächtlicher Ruhestörung fragte. Er verneinte entschieden, daß sein Haus sich geöffnet hätte und holte den Hausschlüssel, mit dem er selbst die Thür verschlossen hatte und der ruhig unter seinem Kopfkissen lag. Zwischen Unglauben und Entsetzen geteilt zog die bewaffnete Macht ab und machte am nächsten Morgen höheren Orts die Mitteilung, um einen scharfen Verweis wegen der bewiesenen Hasenherzigkeit zu empfangen.

Doch seitdem war es um die Ruhe der guten Stadt geschehen; bald hier, bald dort tauchte das Gespenst mit dem Totenkopf auf; es hatte weder Respekt vor dem Herrn Kanzleirat, noch vor dem Stadtschreiber, noch vor dem Professor der Geschichte, der mit seiner Frau spät abends von einem Besuche heimkehrte und aus seinen gelehrten Grübeleien durch deren Zetergeschrei aufgeschreckt wurde, als der fürchterliche Totenkopf mit zierlicher Verneigung an ihnen vorüberschritt; bald kamen die Mägde vom Brunnen zitternd nach Hause, bald stand das Gespenst vor einem erschrockenen Nachtwächter. Man schalt und spottete über den Unfug und fürchtete sich doch im geheimen, und wem der Unhold einmal erschienen war, der wagte sich nach dem Untergange der Sonne nicht wieder hinaus.

Natürlich fiel der Verdacht zunächst auf die Studenten, besonders die Alemannen, so unschuldig sie auch thaten; bei den Professoren waren sie außerdem sehr schlecht angeschrieben, ihrer vielen Tollheiten und ihres beständigen Fortbleibens aus den Kollegien wegen, und Magnificus ergriff die Gelegenheit einer festlichen Ansprache, um einige Andeutungen über den neuen Unfug fallen zu lassen, die besonders gegen die unruhige Verbindung gerichtet waren.

»Das soll er büßen!« sagte Walter zu seinen beiden Kumpanen, mit denen er in Gemeinschaft die Rolle des Gespenstes durchführte. »Jetzt wird Magnificus selbst meine Visite erhalten.«

Nur nicht zu kühn,« warnte Ernst. »Es ist zu verwundern, daß sie uns noch nicht gefaßt haben, und wir haben dies nur unserer Umsicht zu verdanken. Aber ich halte es für klug, wir geben den Spaß jetzt auf und lassen das arme Gespenst sang- und klanglos verschwinden. Wir haben uns doch köstlich dabei amüsiert.«

»Nein, das geschieht nicht,« widersprach Walter mit größter Bestimmtheit, »ohne Verabschiedung beim Rektor der Universität empfiehlt sich der höfliche Totenkopf nicht: eigentlich sollte er bei allen Professoren die Runde machen.«

Er bestand auf diesem Plan, obwohl den beiden anderen nicht gut dabei zu Mute war. Man ging nun an die Ausführung. Professor Kleine, der das Amt des Rektor Magnificus in diesem Jahre bekleidete, wohnte in einer ziemlich schmalen Straße, im ersten Stock, doch wollte man nicht gern eine Leiter benutzen, die schwer fortzubringen war. Walter war in seinem Element, er zog alle Erkundigungen ein und ordnete alles an. Das Studierzimmer des Professors lag nach dem Hofe zu, aber er pflegte spät zu arbeiten und dann die Verbindungsthür nach der Vorderstube aufzulassen. Ihm gegenüber wohnte ein Schneider, der viel von den Studenten, besonders von den Alemannen in Anspruch genommen wurde und der sich gegen eine Vergütigung zur Hergabe seines Hausschlüssels bereit finden ließ, auch seine Schneiderwerkstatt ihnen zur Verfügung stellte und sich vor jeder Frage hütete, um nicht als Mitwisser in schlimme Händel verwickelt zu werden. Er zeigte außerdem den jungen Leuten den Weg durch seinen Hof und Garten, welcher letztere an die Stadtmauer stieß und ein Pförtchen hatte, durch das man leicht ins Freie gelangen konnte.

Aus dem Fenster der Werkstatt, die in einer Höhe mit der Wohnung des Professors sich befand, sollte nun ein Brett gelegt werden, an dessen unterem Ende Walter sitzen und von hier aus bis an das Fenster gegenüber gelangen konnte, während Hermann und Ernst die gefährliche Brücke am anderen Ende mit aller Kraft festhielten und durch ihr vereintes Gewicht beschwerten, um sie in der Schwebe zu halten. Ohne an eine andere Gefahr als die, gefaßt und dann streng bestraft zu werden, zu denken, machte sich nun das Kleeblatt an die Ausführung des geplanten Vorhabens.


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