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Erstes Kapitel.
Auf des Lebens erstem Gange.

Unter all den hohen, in gotischem Stil erbauten Häusern, mit den weit übereinanderhängenden Stockwerken, den vorspringenden Erkern und den reich verzierten Giebeln der vormaligen Reichsstadt Hohenstein nahm sich das große, stattliche Gebäude an der Ecke des Marktplatzes, das in französischem Geschmack gehalten war, fremdartig und besonders aus. Die lange Reihe der durch Pilaster voneinander getrennten Fenster, das schön geschmückte Portal, die kunstreichen Simse und Friese, das niedrige Dach, das mit Bildsäulen gekrönt war, alles stand im Gegensatze zu den übrigen mittelalterlichen Bauwerken, und der Blick des Fremden fiel sicher zuerst auf dieses Haus und veranlaßte dann eine Erkundigung nach dessen Besitzer.

Eine solche Frage vermochte jedes Kind in Hohenstein zu beantworten, denn der Hofrat Märtens gehörte zu den ersten und angesehensten Bürgern der Stadt, und die Familie hatte sich seit vielen Jahrhunderten rühmlich ausgezeichnet. Der Urgroßvater des Hofrats war der Erbauer des Hauses gewesen; er hatte weite Reisen gemacht und sich namentlich in Italien und Frankreich lange aufgehalten, denn er hatte vom Kaiser hohe persönliche Gunst genossen und war von ihm einer Gesandtschaft nach diesen Ländern beigeordnet worden. Als er dann in seine Vaterstadt zurückkehrte, um dort als kaiserlicher Rat zu leben, hatte ihn das alte Familienhaus – mit dem weiten Treppenhause, dem Laubengänge vorgelagert waren, den düsteren Gemächern, die durch die Butzenscheiben, außerdem beschattet von den oberen vorspringenden Stockwerken, nur dürftig Licht empfingen, den engen Korridoren, in denen man bald einige Stufen hinab-, bald hinaufsteigen mußte, und der altväterlichen Einrichtung – nicht mehr angeheimelt. Es wurde niedergerissen, und an seiner Statt entstand ein neues, palastartiges Gebäude, in dem die Renaissance, die er in der Fremde bewundern gelernt, ihre langen, geraden Linien und ihre reichste Ornamentik entfaltete. Das Innere stand damit im Einklang: die Decken der Gemächer, welche in dem alten Hause aus dunklem Eichengebälk mit Tafelwerk bestanden, zeigten jetzt prächtigen Stuck, dazwischen reiche Vergoldung und alle Gottheiten des Olymps; venetianische Spiegel in geschweiften Bronzerahmen gingen bis zur Decke, seidene Tapeten schmückten die Wände; kostbare, farbige Vorhänge verhüllten die hohen Fenster; die Möbel, in gespreizten Formen und mit Schnörkeleien, waren mit schwerem Brokat überzogen, und prachtvolle Kronleuchter ergossen des Abends einen blendenden Schein über all diese Herrlichkeiten.

An einem Märztage des Jahres 1794 herrschte in dem alten Patrizierhause eine Geschäftigkeit, die im schroffsten Gegensatze zu seiner sonstigen vornehmen Ruhe und Gleichmäßigkeit stand. Auf der Treppe, in den Gängen, ja selbst in den Zimmern wirtschafteten dienstbare Geister mit Besen und Staubtuch; die Vorhänge des zweiten Stockwerks, in welchem die Gesellschaftssäle lagen, waren in die Höhe gezogen; der alte Johann, der bewährte Diener des Hauses, führte das Kommando, und unter seinen Augen mußten Gärtner und Kutscher, die zur Hilfe herangezogen waren, ihre äußerste Geschicklichkeit entfalten. Die Haushälterin, die sonst das Küchenregiment selbst führte, hatte einem französischen Koche weichen müssen; sie hatte sich in ihre Vorratskammern zurückgezogen, um dort die besten Schätze des Hauses an glänzendem Damast, blinkendem Silber und funkelndem Krystall herauszuholen, oder auch um ihre reichen Hilfsquellen an eingekochten Früchten und anderen Materialien dem Eindringling in ihr Gebiet zur Verfügung zu stellen.

Selbst der Herr Hofrat, der sonst hoch erhaben über die inneren Vorgänge der Häuslichkeit war und dem jede Störung seiner gewohnten Unnahbarkeit fern gehalten werden mußte, verschmähte es heute nicht, musternd und prüfend durch die Räume zu schreiten, im Speisesaal der gedeckten Tafel seine Aufmerksamkeit zu schenken, die Etiketten der Weine anzusehen, welche Johann in riesigen Flaschenkörben herbeitragen ließ, oder dem Gärtner seinen Rat bei der Anordnung der Blumengruppen angedeihen zu lassen.

Der Hofrat stand bereits in den Vierzigen, und das ernste, gefurchte Antlitz ließ ihn noch älter erscheinen, wozu die feierliche Würde seines ganzen Auftretens und seine langsamen, gemessenen Bewegungen wesentlich beitrugen. Er war mit großer Sorgfalt gekleidet; die gepuderte Perücke mit den Seitenlocken und dem schön geflochtenen Zopfe war tadellos, nicht ein Härchen hatte es gewagt, sich dem Zwange zu entziehen, und nicht ein Puderstäubchen lag auf dem dunkelblauen Samtrock, der vorn geöffnet das helle Gilet und die blütenweißen, feinen Spitzen des Jabots zeigte; über die wohlgepflegten Hände fielen breite Spitzenmanschetten; – der Anzug wurde vollendet durch samtene Kniehosen, schwarzseidene Strümpfe und Schuhe mit kostbaren Schnallen.

Es war lange her, seit die Festräume sich für einen anderen Zweck als den der Reinigung öffneten, denn der Hausherr hatte, seit die Vaterstadt ihre Reichsunmittelbarkeit verlor und zu einer preußischen Landstadt wurde, in bitterem Groll sich von allen Freunden und Standesgenossen abgewendet, denen er es verdachte, daß sie sich leichter in das Unabänderliche fügten.

Die Frau Hofrätin war eine zarte Frau, sehr viel jünger als ihr Gatte, von dem sie mit größter Schonung und Rücksicht behandelt wurde; dafür fügte sie sich unbedingt seinen Ansichten und seinem Willen und lebte still und geräuschlos an seiner Seite dahin.

Bei sich selbst hatte der Kaiserliche Rat – wie der Hofrat sich mit Vorliebe unterzeichnete, um zu zeigen, daß er Stand und Titel nicht dem verhaßten preußischen Regiment verdanke – oft die Frage erwogen, Hohenstein ganz zu verlassen und sich irgendwo im Reiche, wo kein fremder Potentat zwischen ihm und dem Kaiser stände, ein neues Heim zu gründen. Allein er war zu sehr mit allen Fasern seiner Seele mit dem Orte verwachsen, an dem seine Vorfahren so lange gelebt und gewirkt, und der Gedanke, sein Vaterhaus in andere Hände übergehen zu sehen, war ihm unerträglich. Daß dies dennoch nach seinem Tode geschehen würde, da er der letzte Sprößling der Familie und seine Ehe nicht mit Kindern gesegnet war, bildete den zweiten geheimen Kummer seines Lebens und verdüsterte den strengen Mann noch mehr.

Er liebte seine Gattin zärtlich, und da er wußte, wie sehr sie sich selbst nach dem versagten Glücke sehnte, so sprach er zu ihr nie über diesen Gegenstand. Sie schwieg ebenfalls, und doch wäre es ihr eine Erleichterung gewesen, hätte sie sich einmal an seiner Brust ausweinen dürfen, und hätten sie gemeinsam versucht, ihr Leid zu tragen und sich in ihrer Vereinsamung zu trösten.

So lebten die beiden Gatten seit zehn Jahren still und freudlos in ihrem prächtigen Hause, bis sich alles für sie verwandelte, als ihnen ein Kind, ein Sohn geboren wurde. Wie groß war die Freude und Dankbarkeit der Mutter, die sich an dem kleinen Gesicht in ihren Armen nicht sattsehen konnte, und mit welchem Entzücken, mit wie stolzen Hoffnungen betrachtete der Vater seinen Erstgeborenen, durch den das Leben neuen Reiz für ihn gewonnen! – Das glänzende Tauffest, zu dem sich das Haus rüstete, sollte auch nach außenhin Zeugnis ablegen von der stolzen Freude der Eltern.

Nur zwei Räume blieben unberührt von den geschäftigen Vorbereitungen: das Arbeitszimmer des Hausherrn und die große, stille Hinterstube mit dem majestätischen Himmelbett und dem bequemen Großvaterstuhl, in dessen Kissen die blasse Mutter ruhte, den Blick auf die Wiege gerichtet, die ihr zur Seite stand und in der ein kleines, dunkelhaariges Haupt sichtbar war, während den übrigen Körper die engen Hüllen einschnürten, mit denen man damals die jungen Erdenbürger peinigte.

Der Hausarzt hatte seiner Patientin diese Ruhe zur Pflicht gemacht, um sie für die Anstrengungen des nächsten Tages zu kräftigen. Sie gehorchte ihm nicht ungern; es war zu schön, so in der beginnenden Genesung, in dem wonnigen Gefühl des neu geschenkten Lebens dazuliegen und dabei das Wesen, das jetzt ihre höchste Wonne bildete, in nächster Nähe zu haben, es nicht nur betrachten, sondern in jedem Augenblick berühren, liebkosen zu können!

Leise und geräuschlos war ihr Gatte ins Zimmer geglitten; sie hatte nur auf die Wiege geachtet, so daß sie ihn gar nicht bemerkte.

»Wie geht es Ihnen, mon enfant?« fragte er, einen leichten Kuß auf ihre Stirn drückend. »Ich sehe, Sie sind ganz darin vertieft, den Knaben zu betrachten. Es ist ein strammer Bursch, der seinen Eltern zur guten Reputation gereicht. Nun wollte ich mich aber mit Ihrer Erlaubnis von Ihrem Befinden informieren.«

» Mille grâces, mein Schatz,« antwortete die Hofrätin, »ich bin ganz wohl; Sie wissen, ich thue es nur aus Konsideration für Ihre Wünsche, daß ich noch ruhe. Wie könnte es bei solchem Glücke anders sein!«

»Gott wolle uns Freude an ihm erleben lassen,« sagte der Hofrat warm. »Wir wollen es nicht an Sorgfalt bei seiner Erziehung fehlen lassen und den Herrn alle Tage bitten, uns mit seiner Gnade zu erleuchten. Es ist in unseren bösen Zeiten nicht leicht, ein Kind zur Gottesfurcht, Tugend und guten Konduite anzuhalten; es wird täglich schlimmer in der Welt, und mit jeder Zeitung langen neue Hiobsposten an. Die Frau Liebste muß nicht erschrecken,« fuhr er beschwichtigend fort, »ich spreche von Frankreich; bei uns sind ja die Zustände, gottlob, anders, und der Herr im Himmel wird nicht zugeben, daß es bei uns auch nur zu ähnlichen Dingen kommt.«

»Die arme Königin Marie Antoinette!« seufzte die Hofrätin. »Obwohl es nun schon ein halbes Jahr her ist, seit sie das Schafott bestieg, kommt mir ihr Tod doch keinen Tag aus dem Gedächtnis. Wer weiß, ob wir nicht bald dasselbe von Madame Elisabeth, ihrer Schwägerin, hören.«

»Wäre wenigstens der Mord des Königspaares an den Unmenschen gerächt worden!« rief der Hofrat zornig aus. »Ich kann unseren Kaiser nicht begreifen, daß er alles so ruhig geschehen ließ, und die Preußen haben vergangenes Jahr Schimpf genug erduldet, trotzdem alles im Feldzuge erst so gut ging.«

Das Geschrei des Kleinen unterbrach das Gespräch der Eltern und rief die Kinderfrau aus dem Nebenzimmer herbei, eine derbe, rundliche Person mit gutmütigem Ausdruck der starken Züge, in kurzem, geblümtem Kattunrock, einer Jacke mit langen Schößen und einer weißen Mütze, deren faltiger Strich das frische Gesicht der Frau beschattete, die sich trotz ihrer vierzig Jahre die Beweglichkeit eines jungen Mädchens bewahrt hatte.

»Pst, pst, Junker!« sagte sie beschwichtigend, als sie das Kind aus der Wiege nahm; »das Stimmchen ist kräftig und gut, aber da Sie mich jetzt hergerufen haben, so brauchen sich der Herr Junker nicht weiter anzustrengen.«

»Er ist kein Junker, Schulzen,« wandte der Hofrat ein, »sondern hat gutes, altes Bürgerblut in seinen Adern.«

»Schadet nichts,« entschied die Schulzen; »er sieht so stattlich wie ein Fürstensohn aus, und läßt Gott ihm das Leben, so kann er's wohl zum Junker und mehr bringen, wenn er unter die Fahne kommt und ein Herr Offizier wird.«

»Wer sagt Ihr denn, daß er Offizier werden soll?« schalt der Hofrat ärgerlich. »Der Junge soll sich den Studien widmen, um dermaleinst, wie sein Vater, Großvater und alle seine Vorfahren sich in der Jurisprudenz, oder wäre es auch nur als Doktor der Medizin oder als Diener der Gottesgelahrtheit zu distinguieren.«

»Mag alles gut sein, Herr Hofrat,« beharrte die Schulzen, die als tapfere Korporalswitwe sich nicht so leicht einschüchtern ließ; »aber der Soldat bleibt doch der Erste und Höchste, und ich sehe nicht ein, warum der kleine Mosjeh nicht General oder Feldmarschall werden soll. Mein Seliger war geringen Standes, ein Bauerssohn, und hat's doch zum Korporal gebracht,« setzte sie stolz hinzu, »und König Friedrich hat ihm mehr als einmal sein Kontentement bezeigt.«

»Ja, wir wissen das alles,« beruhigte sie der Hofrat, dem vor ihren endlosen Erzählungen bange war, und der lieber auf den Rückzug dachte. »Jeder Stand hat sein Gutes; aber wie Sie Ihre Söhne, wenn Gott sie Ihr gelassen hätte, zu Soldaten destiniert hätte, so wünsche ich auch, daß meiner die Karriere seiner Voreltern einschlage.«

Dagegen wußte die Schulzen nichts einzuwenden, und da der Kleine von neuem zu schreien begann, so stimmte sie aus kräftiger Kehle ein Wiegenlied an, das bei ihrem Mangel an jeder musikalischen Begabung schrecklich genug war, um den Hofrat aus dem Zimmer zu scheuchen, indem er dachte, daß die Reinheit der Vaterfreuden später ungetrübter sein würde, wenn der Kleine weniger brüllte und die Gegenwart der Schulzen nicht mehr so unumgänglich nötig wäre.

Am nächsten Tage aber machte der neue Erdenbürger seiner Familie keine Schande, sondern benahm sich so gesittet, wie man es nur von einem Säugling verlangen konnte, so daß selbst die Schulzen zweifelhaft wurde, ob das Musselinbeutelchen mit süßem Brei, das sie dem Kleinen zur Erhaltung der guten Laune in den Mund gestopft, nicht überflüssig sei, da das verständige Kind sich auch ohne solche Bestechungsversuche würdig betragen haben würde.

Die Frau Hofrätin hatte den Ehrensessel des Hauses eingenommen; sie trug ein schweres Brokatkleid, in das Rosensträuße von Silber eingewirkt waren; das hochfrisierte und gepuderte Haar war mit kostbaren Federn geschmückt, auf den Wangen lag hochrot die Schminke, von der sich schwarze Schönpflästerchen abhoben; auf dem Schoße hielt sie ihren Sohn, und hinter ihr stand die Schulzen im vollen Gefühl ihrer Würde. Nicht nur die ganze Verwandtschaft und Freundschaft war geladen und erschienen, sondern auch alles, was durch hervorragende Stellung Anspruch auf solche Ehre machen konnte.

Da waren verschiedene Offiziere der Garnison, die dem Bürgerhause durch ihre Anwesenheit eine Auszeichnung zu erweisen glaubten und deren Umgang der Hausherr sonst stolz verschmähte. Sogar der Stadtdirektor bewegte sich unter den Gästen, der jetzt im Namen des Preußenkönigs die Stadt regierte und gleich ungern von den alten Geschlechtern wie von den gemeinen Bürgern gesehen wurde; denn so oft es auch bei dem alten Regiment Streit gegeben zwischen den Behörden, die aus den Geschlechtern und der Bürgerschaft hervorgingen, jetzt war das vergessen, und alle gedachten einmütig und mit Wehmut an die verlorene Selbständigkeit zurück.

Heute jedoch hatte der Hofrat allen Groll vergessen, alle Meinungsverschiedenheit war für ihn verschwunden, und er bemühte sich nur, es den Gästen behaglich zu machen und sie in frohe Stimmung zu versetzen. Solche Aufgabe war nicht leicht für ihn, denn auf den Gästen lag die Steifheit, die man für unerläßlich zum guten Ton hielt. Die Herren standen unbeweglich da, die Hände an den zierlichen Degen gelegt, der zum Galakostüm gehörte; zuweilen sagten sie den geputzten Damen, die auf hohen Hackenschuhen unsicher dahergingen, ein steifes Kompliment; im ganzen vernahm man wenig Unterhaltung, nur das Schwirren der Fächer und Rauschen der schweren Gewänder, wenn deren Trägerinnen bei ihren Verneigungen sich zum Boden hinabbeugten.

Als letzter der Gäste erschien der erste Geistliche der Stadt, und sofort trat erwartungsvolle Stille ein. Der Hofrat trat zu seiner Gattin und verbeugte sich zierlich vor ihr, indem er ihr die Fingerspitzen reichte; sie legte mit einem tiefen Knicks die ihrigen hinein; die Schulzen trat würdevoll und gemessen vor sie hin, um ihr das Kind abzunehmen und sich damit an die Spitze des Zuges zu stellen; die Gäste folgten dem Beispiele des Hausherrn und reihten sich paarweise an, und so begab man sich in den anstoßenden Saal, der zur Taufkapelle umgeschaffen worden war.

Die heilige Handlung begann, nachdem die Paten zu dem Altar getreten. Der Geistliche hielt eine lange Rede, in der er die Verdienste der Vorfahren des Täuflings hervorhob, von der Tugend und dem Ansehen der Eltern sprach und für das Kind Großes prophezeite, da die Vergangenheit der Familie Hohes von der Zukunft und dem einstigen Träger des Namens erwarten ließ. Der Vater hob stolzer den Kopf und freute sich der Anerkennung der Verdienste, auf die er so begründeten Anspruch zu haben glaubte.

Darauf verschwand Walter, wie der Kleine genannt worden war, aus der Gesellschaft, in die nach Entfernung der Hauptperson neues Leben kam. Die Gratulation bei den Eltern war gebührend abgestattet, die reichen und kostbaren Geschenke übergeben worden, und man ging zur Tafel, wo der edle Wein allmählich die Zungen zu lösen begann. Zwar fehlte es auch jetzt nicht an steifer Grandezza, an hochtönenden Komplimenten und gedrechselten, mit französischen Brocken gemischten Phrasen, doch zuweilen erregte auch ein heiterer Scherz das Lachen der Jüngeren, und die älteren Mitglieder der Gesellschaft gedachten der trüben Zeiten, die sich immer bedrohlicher gestalteten.

Noch hielt man an der Hoffnung fest, daß es nur des festen Willens der Fürsten bedürfe, um die frechen Franzosen für alles zu bestrafen, was sie verübt und an ihrem König gefrevelt hatten, und selbst der unglückliche Feldzug der Preußen hatte die Zuversicht der Offiziere nicht erschüttert, die auf Krankheit und ungünstige Witterung alle Mißerfolge schoben.

»Der Kaiser zögert gar zu lange; er müßte sich an die Spitze des Heeres stellen,« meinte der Syndikus.

»Kaiserliche Majestät werden schon den rechten Moment abpassen,« sagte der Hofrat, der nicht den leisesten Tadel seines Herrn vertragen konnte.

»Unsers Königs Majestät wird diese Sansculotten schon zur Raison bringen!« rief ein junger Leutnant, an seinen Degen schlagend. »Die Franzosen haben es noch nicht vergessen, wie sie bei Roßbach vor uns gelaufen sind, und wenn unsere Armeen erst in ihr Land einfallen, werden sie schleunig zu Kreuze kriechen.«

»Das gebe Gott!« seufzte der Doktor.

»Herr, Sie zweifeln doch nicht an unserer Bravour!« fuhr der Offizier auf, besann sich aber noch zur rechten Zeit, daß er das Fest nicht stören dürfe; er wollte dem Doktor an anderem Orte die Leviten lesen, denn die Unbezwinglichkeit ihrer Waffen war ein Glaubensartikel aller preußischen Offiziere, um so mehr, als sie diese Siegesgewißheit noch nicht entscheidend auf die Probe gestellt sahen.

Der ehrwürdige Justizkommissarius Bredow, der Oheim des Hofrates, hielt es für geraten, dem erregten Gespräch eine andere Wendung zu geben; deshalb schlug er an sein Glas, um Schweigen zu erhalten, und erhob sich zu langer und feierlicher Rede, die dem Wohle des Neugeborenen galt, das von der ganzen Gesellschaft in bester Einmütigkeit getrunken wurde.

Als am späten Abend die Gäste das Haus verlassen, alle, wie es den Anschein hatte, hoch befriedigt durch das Gebotene, versammelte der Hofrat wie gewöhnlich den gesamten Haushalt, um die tägliche Andacht zu halten, ehe man die Ruhe aufsuchte. Er pflegte aus dem Gebetbuche des seligen Hermann Francke zu lesen, dem er dann ein eigenes Gebet in wohlgesetzter Rede und von solcher Länge folgen ließ, daß mancher der Zuhörer im geheimen wünschte, er möchte weniger schön, aber kürzer beten. Heute jedoch wurde es dem Hofrat schwer, den Worten des frommen Mannes Ausdruck zu geben, und als er endlich das Buch zumachte, um die eigene Beredsamkeit, an der er eine heimliche Freude hatte, leuchten zu lassen, da versagte ihm die Stimme, er konnte alle die schönen Wendungen, die sonst seinen Stolz ausmachten, nicht finden, und es fielen ihm nur die Worte ein: »Herr, ich bin zu geringe aller Barmherzigkeit und Treue, die du an mir gethan! Gieb du mir nun auch die Kraft und Weisheit, mein Kind zu deiner Ehre zu erziehen und in deinen Wegen zu leiten.«

Dann ereignete sich das Unerhörte, daß der Herr alle Etikette vergaß, auch die vielen Augen, noch dazu die seiner Untergebenen, die auf ihn sahen, und daß er seine Frau in die Arme schloß und sie herzlich auf den Mund küßte.

Das vornehme Haus stand, wie schon erwähnt, an der Ecke des Marktplatzes, und da der Nebenflügel sich in eine schmale und düstere Gasse erstreckte, in der nur geringe Leute wohnten, so war der Nachbar des Hofrats nach dieser Seite hin ein braver, doch nicht sehr bemittelter Tischler, dessen kleines und ziemlich baufälliges Häuschen sich unmittelbar an das stolze Patrizierhaus anschloß. Meister Fisch hatte das Häuschen von seinem Vater ererbt, und als junger, aufstrebender Meister hatte er damals, vor fast zwanzig Jahren, die feste Absicht gehegt, dem altersschwachen Gebäude wieder aufzuhelfen und ihm eine gründliche Ausbesserung zuteil werden zu lassen. Doch war es bei dem guten Vorsatze geblieben. Die ersten Jahre hatte der junge Meister genug zu thun gehabt, um sich Kundschaft zu erwerben; dann kamen viele Kinder, auch Krankheiten und Tod, und es blieb nur so viel übrig, um das Allernotwendigste für das Haus zu thun. Es lebte sich auch so ganz gut darin, und der Meister hatte mit seinem treuen Weibe wohl schwere Zeiten, aber auch Freudenstunden genug in den kleinen dunkeln Räumen an sich vorüberziehen sehen.

Von den zehn Kindern, die den Fisch'schen Eheleuten in ihrer zwanzigjährigen Ehe geboren waren, lebten nur noch sechs; die beiden ältesten hatten sie hergeben müssen, als sie schon herangewachsen waren, die anderen waren klein gestorben. Karl, der bei dem Vater in der Lehre stand, war jetzt fünfzehn Jahre alt, und der jüngstgeborene Sohn erblickte mit dem des Hofrats an einem Tage das Licht der Welt.

Seitdem waren böse Wochen verstrichen, Frau Fisch hatte fast das eigene Leben daran geben müssen, und so hatte der Meister in seiner schweren Sorge mit der Taufe gezögert, während er sonst seine Kinder, der alten Sitte gemäß, am zehnten Tage nach ihrer Geburt in die Kirche schickte. Er hatte sich viel geängstigt und gebangt und lebhaft in seinem Herzen empfunden, daß es für ihn nichts so Schweres geben könnte, als den Tod seines treuen Weibes, und oft waren seine Thränen auf das neugeborene Kind gefallen, das so ahnungslos in seiner Wiege schlummerte.

Dann schlich er wohl aus dem Zimmer, in dem es ihm unerträglich eng wurde, und suchte den Lärm der Werkstatt auf, wo unter der Aufsicht des Altgesellen die anderen Gesellen und Lehrlinge fleißig schafften. Er nahm selbst Hobel und Säge zur Hand, aber es ging nicht; er wußte kaum, was er arbeitete, und traurig legte er die Werkzeuge wieder beiseite. Da wußte es der Altgeselle Gottlieb so einzurichten, daß er in die Nähe des kummervollen Mannes kam, um ihm zuzuraunen: »Nur nicht verzagt, Meister; der alte Gott lebt noch, und der weiß, daß wir die Frau Meisterin nicht missen können!«

Nie blieb die Zusprache des treuen Menschen erfolglos, und so kehrte auch diesmal mit neuem Vertrauen und frischer Kraft der Meister zu der Kranken zurück, bis endlich die Gefahr vorüber war und sie sich zusehends erholte und kräftigte.

Es war am Vorabend des Tages, an dem die Eltern den Kleinen zur Taufe schicken wollten, und der Tischler saß an dem Bette seiner Frau. Die rot und weiß karierten Vorhänge des Betthimmels waren zurückgeschlagen, und Frau Fisch hatte sich in ihren Kissen aufgerichtet, um ihrem Mann besser ins Gesicht sehen zu können.

»Du hast mir den dritten Paten noch immer nicht genannt,« sagte sie mit ihrer alten Lebhaftigkeit; »die Jungfer Grete ist eine schmucke Person und als Tochter des Böttchermeisters Weil recht angesehen, auch gegen Schlossermeister Müller habe ich wahrlich nichts einzuwenden. Wer aber soll der dritte sein?«

Der Meister zögerte einen Augenblick, als fürchte er das Mißfallen seiner Frau: dann sagte er gelassen: »Ich dachte, wir wollten Gottlieb dazu nehmen; er ist ein treuer Mensch, der mit mir zugleich in die Werkstatt getreten ist und seitdem dort und im Hause redlich unser Bestes wahrgenommen hat.«

»Du hast wohl recht, Vater,« entgegnete die Frau bedenklich, »und ich stimme mit dir überein, daß es keinen besseren Menschen geben kann als unseren Gottlieb – aber Sitte bleibt Sitte, und er ist doch immer nur unser Gesell. Was würden die Leute sagen, wenn wir so Ungewöhnliches thäten, und würden sich nicht die Mitgevattern in ihrem Stolz beleidigt fühlen?«

Der Meister schwieg nachdenkend, denn er mußte zugestehen, daß die Frau klug sprach; aber er mochte doch den Herzenswunsch nicht ausgeben. Da fing sie selbst wieder an: »Trotz alledem, Vater, möchte ich wie du unserem treuen Gottlieb unsere Freundschaft erweisen, und ich bin sicher, wir könnten ihm keine größere Freude machen, als wenn wir ihn zu Gevatter bitten. Vor dem lieben Gott gilt er gewiß so viel wie mancher Meister, vor dem die Leute tief den Hut ziehen, und deshalb wollen wir uns nicht daran kehren, wenn auch andere uns tadeln. Ich denke, die Jungfer Weil und Meister Müller werden uns beistimmen, wenn du ihnen die Sache vorstellst.«

»Das glaube ich auch,« sagte der Meister erfreut. »Die Hauptsache bleibt ja, daß wir beide darüber einig sind, und ich darf also gehen und Gottlieb zu Gevatter laden?«

»Thue es und sage ihm auch von mir,« versetzte die Frau, »ich könnte mir keinen lieberen Paten für unser Kind wünschen.« Damit ging der Meister frohen Herzens in die Werkstatt hinüber.

Feierabend war längst angebrochen, aber Gottlieb band sich nie so streng an den Glockenschlag; er war stets der erste und der letzte bei der Arbeit, und besonders Sonnabends verweilte er lange in der Werkstatt, um sich genau zu überzeugen, daß alles in Ordnung und wohl gerüstet für den morgenden Feiertag sei. Karl war gleichfalls anwesend, aber mißmutig und verdrossen, und der Altgeselle mußte dem trotzigen Lehrling dieselbe Weisung oft wiederholen, ehe dieser sie ausführte.

»Ist's denn nun endlich in Ordnung?« fragte er. »Nach Feierabend könntet Ihr mir doch die Ruhe gönnen, wenn ich mich den ganzen Tag geplagt habe? Warum soll ich's, des Meisters eigener Sohn, weniger gut haben als alle übrigen? Die anderen sind längst frei, und ich muß hier nach Eurer Pfeife tanzen.«

Gottlieb trat zu dem Knaben, legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm ernst in das blühende Gesicht; die jungen, kecken Augen senkten sich vor seinem forschenden Blick scheu zu Boden, und er bemühte sich, vergebens, sich von dem festen Griff los zu machen.

»Wo hast du jetzt, seit die Frau Mutter krank ist und der Meister sich nicht wie sonst um den Haushalt kümmern kann, deine Abende zugebracht?« fragte der Altgeselle streng. »Wer ist wie ein Dieb aus der Bodenluke geschlüpft, über die Dächer geklettert und hinaus vor die Stadt gelaufen, um in schlechter Gesellschaft alle möglichen Streiche zu verüben? Ich sage dir, Fritz Schleben ist dein Unglück; aus ihm wird nie etwas werden, und du wirst es büßen müssen, daß du dich so an diesen Burschen hängst.«

»Er ist mein Freund,« wandte Karl trotzig ein; »ein Duckmäuser ist er allerdings nicht, aber auch kein schlechter Mensch. Er kann es in diesem Nest auch nicht aushalten und sehnt sich hinaus in die Welt.«

»Wäre für die Stadt kein Schade, wenn er sich davon machte,« brummte Gottlieb zwischen den Zähnen; »er strebt hoch und kann höher kommen, als ihm lieb sein wird.« Er machte eine bezeichnende Gebärde nach dem Halse.

»Sind wir nun endlich fertig?« fragte Karl verdrossen. »Ich bin müde und möchte ins Bett.«

»Dann will ich dich nicht hindern,« meinte der Altgeselle ruhig; »ich wünsche dir recht ruhigen Schlaf. Die Bodenluken brauchst du nicht zuzumachen, ich habe es schon gethan; sie gehen so leicht nicht auf. Die Katzen werden es heute nacht auch zufrieden sein, wenn niemand da ist, der ihnen mit Erbsen gefüllte Schweinsblasen an die Schwänze hängt, wie es jetzt so oft geschehen ist.«

Karl wurde rot, wagte aber keine Erwiderung und verließ ohne »Gute Nacht!« die Werkstatt, deren Thür er hinter sich zuschlug. Gottlieb sah ihm kopfschüttelnd nach. Die Unbändigkeit des Knaben, die von jeher die Strenge des Vaters herausgefordert, verstärkte sich immer mehr zu Trotz und Widersetzlichkeit, und da der Meister ihn scharf im Auge behielt, so suchte er auf heimliche Weise seinen Übermut zu befriedigen. Dazu kam nun die Freundschaft mit Fritz Schleben, der ein Taugenichts war, der Sohn eines herumziehenden Musikanten, dessen Umgang dem Meister für Karl durchaus zuwider war. Aber die Verbote reizten diesen nur zu festerem Anschluß an den um einige Jahre älteren Gefährten, der täglich mehr Macht über ihn gewann.

Gottlieb wollte eben die Werkstatt verlassen, als sein Meister eintrat, in dessen ganzem Wesen etwas so Gemessenes und Feierliches lag, daß er ihn betroffen und erwartungsvoll zugleich an schaute.

»Lieber Herr und Freund, lobesamer Junggesell und ehrbarer Altgesell,« begann der Meister vor ihn hintretend, »ich komme zu Euch als ein Bittender. Mit Vergunst lade ich Euch ein, bei meinem neugeborenen Sohne die dritte Patenstelle anzunehmen und demselben die Sorge des christlichen Gevatters angedeihen zu lassen. Meine Frau Eheliebste hofft dieselbe Freundschaft von Eurer Affektioniertheit für uns, und wir haben Euch nicht einen Brief zugehen lassen, sondern ich wollte es Euch selbst sagen und Euch danken,« fuhr er, alles Zeremoniell vergessend, in warmem Tone fort, »für alle Treue und Anhänglichkeit, die Ihr mir und den Meinen in den zwanzig Jahren unseres Beisammenseins bewiesen habt.«

Gottlieb stand sprachlos da, und die Thränen liefen ihm über die Wangen. »Meister,« sagte er endlich, »ich that nur meine Schuldigkeit, und Ihr seid mir immer ein guter Herr und Meister gewesen, dem ich mit Freuden diente. Aber daß Ihr mir solche Ehre erweisen würdet, hätte ich nie gedacht, und ich will's Euch nicht vergessen, so lange ich lebe.«

Er konnte nicht mehr hervorbringen, die Männer schüttelten sich die Hände, und am anderen Tage hielt Gottlieb das kleine Geschöpf, das ihm von jetzt ab lieb wie ein eigener Sohn sein sollte, über die Taufe; das Ja aber, welches er dem Prediger erwiderte, als dieser die Bekräftigung der von ihnen übernommenen Pflichten von den Paten forderte, klang hell und fest, denn es kam aus seiner tiefsten Seele.


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