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»Mich wundert's, daß du Georg den Umgang erlauben willst,« sagte Frau Fisch am Abend zu ihrem Manne; »gleich und gleich gesellt sich gern, aber vornehm und gering thut nimmer gut.«
»Der arme Junge drüben dauerte mich,« entgegnete der Meister; »auf seinem Gesicht lag helle Freude, als der Herr Hofrat den Vorschlag machte, auch hat er sich heute sehr gut benommen und ist tapfer für unseren Georg eingetreten.«
»Ja das ist alles recht schön,« meinte die Frau; »nachher verachten sie aber Georg nebenan, wenn sie seiner überdrüssig sind.«
»Das wird sich Georg nicht gefallen lassen,« sagte der Vater bestimmt; »so klein er ist, so besitzt er doch seinen Stolz.«
»Wie soll es denn aber mit seiner Kleidung werden?« klagte die Mutter. »Er zerreißt alles, und ich habe Mühe, ihn ordentlich zu halten. Die abgelegten Sachen der anderen genügten für ihn noch immer; ich möchte jetzt nichts Neues anschaffen.«
»Sollst du auch nicht, Mutter,« entschied der Meister; »Georg ist ein Tischlersohn, und ist den vornehmen Leuten der Anzug eines solchen nicht gut genug, so kann die Freundschaft nicht bestehen. – Mache dir keine unnützen Sorgen, Mutter,« setzte er hinzu; »wir haben genug wirkliche.«
»Du meinst Karl?« sagte sie traurig.
»Der ist unser größter Kummer. Er will sich nicht in die Zucht des elterlichen Hauses fügen, und sein abenteuerlicher Sinn treibt ihn in die Ferne.«
»Ich hatte gehofft, es würde besser werden, nun Fritz Schleben fort ist,« seufzte die Mutter. »Der ist an allem schuld, denn er hat unserm Sohn die Ideen von einem freien Leben nach eigenem Gefallen in den Kopf gesetzt.«
»Es hat Karl sehr gekränkt, daß ich mich weigerte, ihn nach dreijähriger Lehrzeit zum Gesellen sprechen zu lassen,« sagte der Meister. »Er sieht meine Gründe nicht ein; dennoch hoffe ich, er wird, wenn er noch ein Jahr als Lehrling aushalten muß, fester und verständiger werden, damit ihm dann die größere Freiheit des Gesellenlebens nicht schadet.«
»Gebe es Gott!« sagte die Mutter seufzend. »Er ist so verschlossen, seit er deinen Willen erfahren, und ich fürchte, er verhärtet sein Herz immer mehr.«
»Wir können es nicht ändern!« sagte der Meister schweren Herzens. »Handeln wir doch nach unserem besten Wissen zum Wohle der Kinder; das übrige müssen wir in Gottes Hand legen.«
Während die Eltern in sorgenvoller Beratung bei einander saßen, las Karl in seinem Dachkämmerchen einen Brief, der ihm auf Umwegen zugegangen war. Er war ein großer, stattlicher Jüngling von siebzehn Jahren, schlank und kräftig gewachsen, aber seine hübschen Züge trugen beständig den Stempel des Mißmuts. Das elterliche Haus mit seiner streng geregelten Zucht behagte ihm nicht, er hatte die Beendigung der Lehrzeit herbeigesehnt, um als Gesell auf fröhlicher Wanderschaft hinaus in die Welt zu gehen, und nun bannte ihn der Machtspruch des Vaters noch ein Jahr in die verhaßten Fesseln. Er war sich bewußt, daß er bereits etwas Tüchtiges leisten konnte, mehr als mancher Gesell, und doch sollte er in dem Druck der Lehrzeit fortleben; er sah nur eine tyrannische Laune des Vaters darin, der ihn grundlos zu solcher Pein verdammte.
Fritz Schleben hatte ihm geschrieben; der war eines Tages auf und davon gewesen, niemand, selbst der Freund, wußte wohin; nun teilte er ihm mit, daß ihm alles geglückt sei. Er hätte es in dem langweiligen Neste nicht ferner ertragen können, und so habe er sich aus dem Staube gemacht; ein glücklicher Zufall hätte ihm die Bekanntschaft eines vornehmen Herrn verschafft, mit dem er jetzt als Bedienter in der Welt umherreise, ein herrliches Leben führe, alles Gute in Hülle und Fülle und dabei fast nichts zu thun habe. Karl solle es nur ebenso machen.
Der Brief reizte diesen und stieß ihn wieder ab. Die Welt zu sehen war sein brennendes Verlangen, und die Wanderschaft als Handwerksbursch entsprach nicht ganz seinen Wünschen, schließlich mußte er immer wieder Arbeit suchen und bei einem Meister sich dem verhaßten Zwange fügen; aber Bedienter mochte er auch nicht sein, dagegen sträubte sich sein Stolz als Bürgerssohn. Wenn er doch erst wüßte, wie er zur Ruhe und zum Glück käme. –
Mit dem ereignisreichen Tage ihres Kampfes begann eine treue Freundschaft zwischen Georg und Walter, und die Öffnung im Zaun wurde von beiden um die Wette benutzt, denn sie waren bald unzertrennlich. War der steife Zwang des Hofratshauses ihnen oft lästig, so fühlten sie sich in der Tischlerwerkstatt um so wohler, wo sie sich bemühten, den Hobel zu führen und den Hammer zu gebrauchen und dabei Gottlieb oft nicht wenig mit ihren Ansprüchen quälten.
Die Schulzen hatte Georg erst großes Mißtrauen entgegengebracht, das sich aber bald verlor, und in Kinderstube und Garten verlebten die drei manche vergnügte Stunde miteinander. Blieben sich die Knaben auch fortan in treuer Freundschaft zugethan, die jede Gewaltthätigkeit gegeneinander ausschloß, so schlummerte in beiden das kriegerische Feuer nur unter der Decke. Alle ihre Spiele handelten von Krieg; sie bauten Schanzen und Festungen, sprachen von Schlachten und Siegen, so daß man hätte denken können, sie seien als richtige Soldatenkinder im Heere aufgewachsen. Die Schulzen hatte ihre stille Verwunderung darüber; die gute Seele ahnte nicht, daß sie selbst die Veranlassung dieser Eigentümlichkeit war, durch ihre unermüdlichen Erzählungen von ihrem Seligen und seinen Erlebnissen im Siebenjährigen Kriege, den er fast bis ans Ende mitgemacht, bis endlich in einem der letzten Gefechte ihm eine Kanonenkugel das linke Bein fortriß.
»Das war ein trauriges Ende für solchen tapferen Korporal, mit dem der König zum öftern selbst gesprochen und den er vor der ganzen Front gelobt hatte,« erzählte sie den andächtig zuhörenden Knaben. »Nun war er ein Stelzfuß; aber er durfte die Uniform forttragen, und er sah noch immer stattlich genug aus mit seinem grimmigen Schnauzbart. Ich war noch ein junges Ding und hatte manchen anderen Freier; aber ich sagte doch gern ja, als er mich fragte, ob ich seine Frau werden wollte, und habe es nie bereut. Der König gab ihm eine Pension, die war aber nicht groß, und dazu bekam er auf königliche Verwendung die Stelle als Schulmeister, denn der Alte Fritz hielt was auf seine ausgedienten Soldaten und sorgte für sie. Das Gehalt betrug nur einige Thaler fürs Jahr, aber jedes Kind mußte sonnabends seine sechs Dreier Schulgeld mitbringen. Damit hatte man eben seine Not, denn sie vergaßen es oft oder behaupteten wenigstens, sie hätten nicht daran gedacht, und man mußte sich den Mund rauh reden, bis man die paar Pfennige endlich erhielt. Bloß als Nichtsthuer mochte solch alter Krieger nicht leben; aber als Schulmeister war eine schöne Unterkunft für ihn, denn mit der Fuchtel verstand er umzugehen und konnte die liebe Jugend schon in Ordnung halten, und lesen konnte er auch ganz gut. Nur mit dem Schreiben ging es schlecht; er brachte wohl seinen Namen zu stande, aber nur mit Mühe, und weiter reichte seine Kunst nicht. Ich war zum Glück schreibverständig, und der arme Mann lernte von mir im Schweiße seines Angesichts die Buchstaben, die er den Kindern zeigen mußte, und es geschah zuweilen, daß er sie vergessen hatte, wenn er in die Schulstube trat, oder daß er die dummen Dinger verwechselte und den Kindern einen ganz falschen Buchstaben statt des richtigen hinmalte. Es ist nicht leicht, das Lernen; ihr armen Schelme werdet's auch bald erfahren.«
Diese Zeit des Lernens, vor der namentlich Walter ein starkes Grauen hatte, kam in sehr bedrohliche Nähe; vorher aber trat ein Ereignis ein, das ihn ebenso freudig wie schmerzlich berührte.
Er hatte in letzter Zeit wenig von der Mutter gesehen, die zu leidend war, um seine geräuschvolle Nähe auf lange Zeit zu ertragen. Da wurde er eines Morgens in ihr Zimmer gerufen, wo sie im Bette lag und mit glücklichem Lächeln auf die daneben stehende Wiege deutete, in der Walter ein kleines Geschöpf mit rotem Gesichtchen und winzigen, zu Fäusten geballten Händen erblickte.
»Dein Schwesterchen, Walty,« flüsterte die Mutter, indem sie ihn zu sich winkte.
Dem Knaben wurde seltsam zu Mute, als er die neu geschenkte Schwester anschaute; er sehnte sich so sehr nach Geschwistern, aber in seiner Phantasie hatten sie stets ganz anders ausgesehen, ungefähr wie Georgs große Brüder und Schwestern. Solch kleines, hilfloses Wesen war ihm etwas Fremdes; noch vermochte er sich nicht zu freuen, und es that ihm weh, als er die zärtlichen Blicke bemerkte, mit welchen die Mutter an der Wiege hing.
»Du wirst die Kleine sehr lieb haben und ihr Beschützer werden, nicht wahr, Walty?« fuhr die Hofrätin fort, ganz erstaunt über sein Schweigen, denn sie hatte den stürmischen Ausbruch lauten Jubels erwartet.
Er nickte stumm und stürzte aus dem verdunkelten Zimmer, in dem ihm so beklommen zu Mute war, wie noch nie im Leben. Die Schulzen, die an der Wiege saß, folgte ihm mit bekümmerten Blicken. Sie hütete sich, der Frau Hofrätin eine Erklärung seines Benehmens zu geben, und doch fühlte sie mit ihrem armen Liebling; war sie doch selbst geteilt zwischen der Freude über das neugeborene Kind und der Furcht, ihr geliebter Walter könnte in seiner Stellung als »Einziger« eine Einbuße erleiden, und ihr bester Trost blieb, daß es nur ein Mädchen war und daß der Erbe und Stammhalter des Namens wenigstens in diesen Rechten nicht geschmälert würde.
Als sie entbehrt werden konnte, schlich sie hinaus, um Walter zu beruhigen; sie mußte ihn lange suchen, bis sie ihn endlich in der Wagenremise fand, wo er auf einigen Futtersäcken eingeschlummert war, auf seinem jetzt freundlich lächelnden Gesicht die Spuren der vergossenen Thränen. Beim Erwachen fand er sich auf dem Schoß der Schulzen, die jämmerlich weinte.
»Du armes Lamm,« schluchzte sie, »du fühlst es trotz deiner Unerfahrenheit, wie viel du verloren hast! Aber wenn sie sich auch alle von dir wenden, ich bleibe dir treu, und ich leide nicht, daß sie dir die Kleine vorziehen.«
Walter mußte sich erst besinnen, wie er an den wunderlichen Ort kam und weshalb die Schulzen so jammerte. Sein Groll erwachte von neuem.
»Könnten wir das dumme, kleine Ding nicht wieder in den Brunnen werfen?« meinte er. »Der Storch kann es ja von neuem auffischen und anderen Leuten bringen; ich mag keine Schwester mehr!«
»Es geht nicht an, mein Liebling,« seufzte die Schulzen. »Du mußt dich darin fügen, und es ist, noch ein Glück, daß es eine kleine Mamsell ist und kein Junge.«
»Nein, das ist schade,« entschied Walter; »einen Jungen würde ich durchprügeln, aber bei Mädchen geht so etwas nicht; für die muß man sorgen, es sind so schwache Würmer.«
»Du gutes Herz,« rief die Schulzen gerührt, »du bist ein echter Ritter, du willst Böses mit Gutem vergelten!«
Es war ihr selbst nicht klar, was das kleine, erst wenige Stunden alte Wesen Böses verbrochen haben sollte, und doch erblickte sie mehr und mehr ein kleines, räuberisches Ungeheuer in demselben. So vermochte sie sich selbst nicht dieser düsteren Stimmung zu entreißen, und sie würde sich in die tiefste Betrübnis hineingejammert haben, hätte Walter dem nicht ein Ende gemacht. Sein heiteres Temperament konnte sich nicht auf lange niederdrücken lassen, und so schwenkte er auf die andere Seite über, verteidigte die Kleine gegen die Schulzen, die sie immer heftiger anklagte, und vergaß darüber nicht nur alle Eifersucht, sondern gewann die Schwester, deren Beschützer er werden wollte, schon herzlich lieb, so daß er ihr auch in Zukunft es nicht übel nahm, daß seine alte Schulzen, die trotz allen Grolls die treueste Wärterin der Kleinen wurde, ihm nur noch wenig Zeit widmen konnte.
»Es ist eigentlich so in der Ordnung,« sagte er im Vertrauen zu Georg, doch nur, als er sicher war, von der Schulzen nicht gehört zu werden; »für einen großen Jungen wie ich paßt die Kindermuhme nicht mehr. Jetzt haben wir ein freies Leben und können thun, was wir wollen, und die Schulzen hat auch ihre Beschäftigung.«
Die neue Freiheit dauerte jedoch nicht allzu lange, denn Walter versetzte das Haus mehrfach in größten Schrecken; einst als er auf einen hohen Baum geklettert war, in dessen Spitze er schließlich das Gleichgewicht verlor und einen schlimmen Fall gethan haben würde, hätte sich nicht ein starker Ast in sein Wams gedrängt und ihn daran in der Schwebe gehalten, bis Georgs Zetergeschrei Hilfe herbeirief; ein andermal, als er auf die Straße entwischt war, wohin er durch die Töne von Querpfeife und Trommel gelockt war. Beides sollte einen großen Tanzbären in seinem mühevollen Berufe anfeuern, der durch die Stadt geführt wurde und zum Ergötzen von jung und alt seine Künste zeigen mußte. Um das Interesse noch zu erhöhen, forderte der Bärenführer die zugeströmten Kinder auf, einen Ritt auf seinem Bären zu unternehmen; doch fand sich niemand, der kühn genug zu solchem Wagnis gewesen wäre. Walter stand einige Augenblicke unschlüssig; eine Ahnung regte sich lebhaft in ihm, daß sein Vorhaben wohl schwerlich die Billigung der Seinigen erhalten würde; doch dauerten solche Bedenken nicht lange, die Verlockung war zu groß, und er meldete sich zum Besteigen des Ungetüms.
Der Besitzer des Bären schaute lächelnd auf den winzigen Knirps in dem feinen Anzug, der ein Herrenkind sein und sicher die allgemeine Aufmerksamkeit herbeiziehen mußte, und im nächsten Augenblick hatte er ihn auf den lebensmüden Petz gehoben, der schwerfällig und leise brummend weiterschritt.
»Der kleine Hofrat! Was wird sein Vater dazu sagen!« murmelten die Zuschauer, die sich um den jungen Reiter drängten und sich mit einem geheimen, aber nicht unangenehmen Grausen vorstellten, wie leicht die natürliche Wildheit des Bären seinen Mangel an Zähnen, auch die Hindernisse von Nasenring, Kette und Maulkorb überwinden und in seinem Reiter nicht den Hofratssohn, sondern nur ein appetitliches Fressen sehen möchte.
Walter war von jeder Befürchtung frei; er fühlte im Gegenteil eine warme, stetig wachsende Zuneigung für sein Reittier, dem er durch Streicheln, Liebkosungen und Zupfen des zottigen Pelzes Ausdruck gab. Er wollte auch von keinem Herabsteigen hören, sondern zog stolz wie ein römischer Triumphator einher, im Geleit sämtlicher Straßenjugend, bei der leider Georg fehlte, der wegen zerrissener Hosen Hausarrest hatte.
Zwar hatte Walter die Klugheit, den gefahrdrohenden Marktplatz zu vermeiden, aber dennoch wurde sein Siegeszug zu einem jähen Ende gebracht, als bei dem Umbiegen um eine Straßenecke plötzlich sein Vater vor dem erschrockenen Bereiter auftauchte. Der Hofrat wurde vor Schreck leichenblaß; im nächsten Augenblick war sein Sohn entthront, und er führte ihn, ohne eines Wortes mächtig zu sein, aber mit so festem Griff, als möchte er ihm sogleich die Hand entreißen und wieder davon laufen, nach Hause.
Walter war ängstlich zu Mute; das Abenteuer auf dem Baume war den Eltern verborgen geblieben, da er Besserung gelobt und um diesen Preis das Schweigen der Dienstleute erhalten hatte; nun aber war die Sache noch schlimmer. Wenn der Vater nur gesprochen oder gescholten hätte! Aber er blieb still und blaß, und im Treppenhause mußte er ein Glas Wasser fordern und sich auf einen Stuhl niedersetzen, weil seine zitternden Kniee ihm den Dienst versagten.
Das erregte Walters Reue mehr als die schärfste Strafpredigt; er kam sich wie ein überführter Verbrecher vor und versprach Besserung, welchem Gelöbnis jedoch von seiten des Hofrats und des übrigen Haushalts wenig Bedeutung beigelegt würde. Der Missethäter wurde unter strenger Aufsicht gehalten, und die Schulzen, die auch bei der Kleinen nötig war, klagte über die Unfähigkeit des Menschen, an zwei Orten zu gleicher Zeit zu sein; sie war stark in Anspielungen auf die Ruchlosigkeit der jetzigen Jugend; ja, sie pries ihren Seligen glücklich, weil er so böse Zeiten nicht mehr erlebt habe.
Hatte der Hofrat auch wenig gesagt, so handelte er dafür um so mehr; schon nach acht Tagen zog ein Magister ins Haus, in dessen Obhut Walter jetzt kommen und bei dem er seine Studien beginnen sollte. Der Hofrat konnte sich nicht entschließen, ihn in eine öffentliche Schule zu schicken, sondern dachte ihn im Elternhause und unter seinen eigenen Augen am besten behütet und bewacht. Er hatte schon lange und mit großer Sorgfalt nach einem Lehrer gesucht, und Magister Veit, ein junger, sehr strebsamer Gelehrter, schien ihm in jeder Beziehung die geeignete Persönlichkeit.
Walter ging ohne Lust an die Bücher, in denen er seine geborenen Feinde erblickte, die ihn jetzt sogar von Georg trennten; denn dieser war fast zur selben Zeit in die Bürgerschule geschickt worden, um dort Religion, lesen, schreiben und die Anfangsgründe des Rechnens zu lernen.
Als Meister Fisch nach einigen Wochen im Sonntagswams sich pflichtschuldigst bei dem Lehrer nach seinem Sohne erkundigte, vernahm er, was ihn hoch erfreute. Georgs schnelle Fassungsgabe, sein Eifer und seine Aufmerksamkeit, sowie sein Geschick im Herstellen von Zahlen und Buchstaben wurde gerühmt und ihm ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft eröffnet; ein Junge mit solche, Begabung, meinte der Lehrer, müsse es weiter bringen als zum bloßen Handwerker, und dem Meister ging das Herz auf, als er seiner Frau und Gottlieb das Vernommene mitteilte.
Der Hofrat erlebte weniger Freude bei einer Besprechung mit dem Magister, denn dieser klagte sehr über Walters Zerstreutheit und Mangel an Lust zum Lernen; dies wurde ihm nicht schwer, aber die Gedanken schweiften fortwährend umher, und er war ohne jeden Eifer. Der Magister glaubte, daß die Lernbegier seines Zöglings durch einen Gefährten bei seinen Studien erweckt werden möchte, sonst würde wenig von ihm zu erreichen sein. Darin mußte der Vater dem Lehrer beistimmen; doch war es nicht leicht, einen passenden Kameraden zu finden. Unter den Standesgenossen erwies sich dies sogar als ganz unmöglich, da deren Stolz ihnen nicht erlauben würde, einen Sohn gleichsam um Walters willen hinzugeben; auch hatte der Hofrat gerade in den befreundeten Familien an Erziehung und Kindern vielfach zu tadeln, und so dachte er endlich an Georg, der als ruhiger, verständiger Knabe sich seine Gunst gewonnen hatte.
Er ließ den Tischler zu sich bitten und machte ihm den Vorschlag, Georg an Walters Stunden teilnehmen zu lassen. Er hatte sicher erwartet, Meister Fisch werde mit Freuden und unter vielen Danksagungen ein Anerbieten annehmen, das für ihn so ehrenvoll und schmeichelhaft sein müsse, und war daher sehr erstaunt, als der Mann nach langem Schweigen ihn bat, ihm Bedenkzeit zu gewähren.
»Überlegt's Euch meinetwegen,« sagte der Hofrat mit mühsam unterdrücktem Ärger; »ich hätte nicht geglaubt, daß so viel Besinnen nötig wäre, wenn sich Eurem Sohne solche Chancen eröffnen!«
»Es handelt sich um sein ganzes Leben, Herr Hofrat,« sagte der Meister ernst. »Georg hat einen sehr guten Kopf, wie sein Lehrer sagt, und lernt er nun all diese gelehrten Sachen, so erwacht wohl die Lust in ihm, ein studierter Mann zu werden, und er ist dann zum Tischler verdorben.«
»Ist nicht schon mancher Handwerkersohn ein Gelehrter geworden?« fragte der Hofrat mit erzwungenem Lächeln, dem Tischler recht gebend, und doch empörte sich sein Stolz dagegen, daß dieser nur an seinen eigenen Sohn und nicht an Walter dachte, der einen Gefährten brauchte.
»Das wohl,« entgegnete der Meister ruhig; »Doktor Martin Luther war ja auch der Sohn eines armen Bergmannes, aber ich habe viele Kinder und muß wohl bedenken, ob ich dem einen so viel gewähren kann auf Kosten der anderen Geschwister.«
»Nun gut,« erklärte der Hofrat kurz, »ich gebe Euch drei Tage Bedenkzeit und erwarte dann Eure Entscheidung.«
Als beim Abendessen die ganze Familie mit Gesellen und Lehrlingen um den weißgescheuerten Tisch saß, auf dem die dampfende Suppenschüssel stand mit dem Laibe Schwarzbrot daneben, bemerkten alle die Wolke auf des Meisters Stirn, und es ging noch stiller zu als gewöhnlich, denn er hielt streng auf Zucht, und niemand außer Gottlieb durfte sprechen, der nicht durch ihn oder die Frau Meisterin dazu aufgefordert wurde. Karl war am unbehaglichsten zu Mute, denn er hatte fast stets die Mißbilligung des Vaters zu fürchten, und er war froh, als die Mahlzeit zu Ende ging und das Tischgebet gesprochen wurde, ohne daß ihn ein Strafgericht traf.
Der Meister machte Gottlieb ein Zeichen zu bleiben, als die anderen das Zimmer verließen, und berichtete dann ihm und seiner Frau von dem Vorschlage des Hofrats und seiner Entgegnung. Beide waren unbedingt für die Annahme und erblickten in Georg bereits den zukünftigen Gelehrten.
»Aber das wird Zeug kosten,« meinte Frau Fisch bedenklich. »Er muß sich dann auch nach seinem künftigen Stande kleiden; ich kann ihn nicht mehr in den abgelegten Sachen der Großen umhergehen lassen, wenn er alle Tage in Hofrats feinen Stuben sitzt.«
»Natürlich nicht,« stimmte Gottlieb bei; »er wird dann einmal ihresgleichen, und da muß er von vornherein so gehalten werden, daß ihn die Vornehmen nicht verachten.«
»Wenn es nur nicht so schrecklich an den Geldbeutel ginge!« seufzte die Meisterin.
»Es wird noch mehr als das kosten,« sagte der Meister ernst. »Wie sollen wir dereinst das Geld für die Universität erschwingen?«
»Wie mancher arme Student arbeitet sich durch,« meinte Gottlieb; »unser Georg kann später Stunden geben und sich dadurch etwas verdienen, und Ihr werdet ihm schon zu Hilfe kommen, Meister.«
»Das wohl,« erwiderte dieser; »aber was ich mehr für Georg thue, entziehe ich meinen anderen Kindern.«
»Die laßt Ihr ja alle etwas Ordentliches und Rechtes lernen,« tröstete Gottlieb. »Karl ist ein tüchtiger Tischler, und es liegt nur an Euch, daß er noch nicht Geselle wurde; Wilhelm hat sein erstes Lehrjahr bald hinter sich, und Fritz soll einmal Böttcher werden. Die Mädchen können nicht besser erzogen werden, als es von der Frau Meisterin geschieht; also könnt Ihr schon etwas an den Jüngsten wenden, damit er die ganze Familie zu Ansehen bringt.«
Der Widerstand des Meisters ließ sich leicht beseitigen; er selbst war hoch erfreut, daß sich seinem Sohne die Aussicht auf eine solche Laufbahn eröffnete, und es hielt ihn nur sein Gerechtigkeitsgefühl zurück, das eine seiner Kinder vor den anderen so zu bevorzugen. Als daher auch sein letzter Einwand beseitigt war, sagte er: »Nun denn in Gottes Namen, wir wollen Georg nicht in seinem Glücke hinderlich sein; nur halte ich es für recht, daß wir auch die Geschwister befragen, ob sie damit einverstanden sind.«
Er öffnete die Thür und rief die Namen hinaus, denn die fröhlichen Stimmen aus Hof und Garten zeigten an, daß die Jugend dort den schönen Sommerabend verbrachte.
»Wo ist Karl?« fragte der Vater finster, als außer Georg, der nicht gerufen worden war, auch der älteste Sohn fehlte.
Ein verlegenes Schweigen folgte; endlich antwortete Wilhelm: »Er ist ein wenig ausgegangen.«
»Ohne meine Erlaubnis?« fuhr der Vater auf.
»Er wollte den Vater nicht stören,« entschuldigte Minchen, die Karl zunächst im Alter stand und immer für ihn eintrat; »er wird gleich wieder zurück sein; es war ein notwendiger Gang.«
Der Meister erwiderte nichts darauf, obwohl die Ader auf seiner Stirn anschwoll; endlich sagte er: »Gut, so mag er sein Recht als Ältester verlieren; wir werden ohne ihn entscheiden.«
Als seine Kinder ihn verwundert ansahen, fuhr er mit ernster Feierlichkeit fort: »Setzt euch alle um den Tisch; ich will etwas Wichtiges mit euch besprechen, und da ihr alle dabei beteiligt seid, so will ich auch ohne eure Zustimmung keine Entscheidung treffen. Nein, Gottlieb, geht nicht hinaus, sondern setzt Euch auf Euren gewohnten Platz; vor Euch haben wir nichts geheim zu halten.«
Der Meister nahm in seinem hölzernen Armstuhl am oberen Ende des Tisches Platz, die Mutter saß zu seiner Rechten und die Kinder folgten dem Beispiel der Eltern, nachdem sie respektvoll gewartet, bis sie sich niedergelassen hatten. Dann begann der Vater ihnen die Sache vorzutragen, die ihn beschäftigte, und er verhehlte ihnen nicht, wohin sich seine Entscheidung neigte.
»Ihr wißt, daß unser Georg einen klugen Kopf hat,« schloß er, »und ich möchte seinem Glücke nicht hinderlich sein. Aber ich bin ohne Mittel; das Handwerk nährt uns wohl, doch sind meine Ersparnisse gering in diesen schlimmen, kriegerischen Zeiten, wo alles daniederliegt und jeder nur die notwendigsten Anschaffungen macht. Was die Mutter und ich durch fleißige Arbeit und sparsame Wirtschaft erübrigen konnten, ist nicht viel und wird schwerlich in Zukunft mehr werden; es sollte euch allen gehören. Lassen wir Georg studieren, so müssen wir das Zurückgelegte für ihn verwenden, und ihr verliert euren Anteil daran. Seid ihr damit einverstanden und werdet ihr ohne Murren darauf verzichten?«
Die Geschwister sahen sich lächelnd und verlegen untereinander an, als fehle ihnen der Mut, in so feierlichem Familienrat sich zu äußern; endlich kam ein einstimmiges, freudiges »Ja!« aus ihrem Munde, und Minchen fügte hinzu: »Wir thun es mit tausend Freuden!«
»Ich danke euch,« sagte der Vater weich; »ich hatte es nicht anders von euch erwartet. Wundert euch nicht, wenn von jetzt an unser Leben noch einfacher wird; wir müssen versuchen, für Georgs Studienjahre schon jetzt etwas zu erübrigen.«
»Wir wollen gern sparen, wo es nur möglich ist,« sagte Minchen, und der lebhafte Fritz setzte hinzu:
»Ja, wir wollen dabei helfen! Ach, Herr Vater, stellt doch eine Sparbüchse auf, und wer ein paar Pfennige verdient – Ihr wißt, es giebt manchmal ein kleines Trinkgeld, wenn man Arbeit fortträgt –, der thut es in die Sparbüchse.«
»Ich habe auch etwas dafür,« stimmte Minchen bei; »wenn ich im Winter Handschuhe und Strümpfe für andere Leute stricke, verdiene ich manchen Groschen.«
»Ich aber habe einen halben Thaler von meiner Frau Pate geschenkt bekommen,« sagte Dorchen, die drei Jahre älter als Georg war; »das kommt als das Erste hinein.«
Die Kinder waren von solchem Eifer beseelt, daß sie kaum das Aufstellen der Sparbüchse erwarten konnten, und die Eltern sahen mit inniger Freude, wie sie willig und neidlos bereit waren, dem Bruder jedes Opfer zu bringen, und so wurde beschlossen, daß der Meister schon am nächsten Morgen dem Hofrat die Mitteilung von der dankbaren Annahme seines Anerbietens machen sollte.
Als Karl einige Stunden später nach Hause schlich, machte er keinen Versuch, durch die Hausthür hineinzukommen, um dem Vater nicht zu begegnen, sondern erkletterte mit großer Gewandtheit die Mauer, die den Hof von der Straße schied, und erreichte dann mit Hilfe des großen Birnbaumes, der seine Äste bis auf das Dach streckte, die Bodenluke, welche seinem Kämmerchen Licht spendete und durch die er nur zu oft aus- und einging.
Geräuschlos und schnell wollte er die Kleider ausziehen und in sein Bett schlüpfen, als der Ton des Stahles, der auf den Feuerstein schlug, sein Ohr traf; gleich darauf erhellte ein Lichtschein den kleinen Raum, und Vater und Sohn standen sich gegenüber.
»Ich habe auf dich gewartet,« sagte der Vater mit einer Ruhe, die Karl mehr erschreckte, als der heftigste Zornesausbruch, »obgleich die Bürgerstunde längst vorüber ist.«
»Der Abend ist so schön,« stammelte er, »ich fand einige Freunde.« –
»Die gleich dir gegen alle Zucht und Sitte umherstreifen,« unterbrach ihn der Vater.
»Ihr laßt mich ja kaum hinaus, Herr Vater,« sagte Karl trotzig, »und ich kann's in den vier Wänden nicht aushalten. Da nehme ich mir heimlich, wozu ich ein Recht habe; ich bin alt genug, um meine Freiheit zu genießen, und könnte jetzt längst auf der Wanderschaft sein.«
»Schweig, du trotziger Bube!« donnerte Meister Fisch ihn an. »Wenn du rechten Gebrauch von deiner Freiheit machtest, würde ich sie dir gewähren. Aber in welcher Gesellschaft verbringst du deine Freistunden? Wagst du es, deine sogenannten Freunde vor die Augen des Vaters zu führen? Du bist ohne inneren Halt, jeder Verführung ausgesetzt, und nur Strenge kann dich davor bewahren. In sechs Wochen geht deine Lehrzeit zu Ende.« –
»Sie sollte es schon seit einem Jahre sein,« warf der Sohn trotzig ein.
»Still, und höre mein letztes Wort! Läßt du dir in dieser Zeit das Geringste zu schulden kommen, so erkläre ich dem Ältesten der Gilde, so schwer es mich auch ankommen würde, meinen eigenen Sohn zu brandmarken, daß ich dich nicht für würdig halte, zum Gesellen gesprochen zu werden. Danach richte dich. Ich werde dich Tag und Nacht überwachen, und bei einer einzigen Übertretung halte ich, was ich soeben gesagt habe.«
Damit verließ der Meister die Kammer, in der Karl voll Trotz und Ärger zurückblieb. Er zweifelte nicht, daß der Vater seine Drohung ausführen würde, und deshalb beschloß er, sich recht zusammenzunehmen und keine Veranlassung dazu zu geben; war er nur erst Gesell, so stand ihm die ganze Welt offen, und er wollte keinen Tag länger unter der Tyrannei aushalten, deren Druck ihn so erbitterte.