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Viertes Kapitel.
Die Flucht.

Walter und Georg erfüllten die Erwartungen des Magisters, die dieser von ihrem gemeinsamen Streben gehegt hatte. Sie lernten eifrig und gern, und wenn Georg auch durch größere Begabung und andauernden Fleiß seinen Freund überflügelte, so bemühte sich doch dieser Schritt zu halten, und der Lehrer konnte dem Hofrat erfreuliche Fortschritte melden.

Karl zählte inzwischen die Tage bis zur Beendigung des Lehrjahres; der Schrank, den er als Gesellenstück anzufertigen hatte, war längst vollendet und genügte den strengsten Anforderungen, so daß selbst der Meister bereitwillig sein Lob spendete. Endlich kam der ersehnte Zeitpunkt; er wurde zum Gesellen gesprochen, und der Vater konnte ihm einige Thaler nicht versagen, um sich mit anderen Gesellen einige vergnügte Stunden zu machen. Wilhelm schlug zwar vor, das Geld in die Sparbüchse zustecken, die für Georg aufgestellt worden war, und Karl schwankte einige Augenblicke. Er hatte den kleinen Bruder aufrichtig lieb und gönnte ihm die ehrenvolle Laufbahn des Gelehrten; es war ihm leid gewesen, daß er damals im Familienrat gefehlt und nicht seine freudige Zustimmung hatte geben können, und er hätte gern viel zur Vermehrung des Sparschatzes beigetragen. Doch jetzt auf das ersehnte Vergnügen verzichten, das hieße sich zu viel zumuten; seit so vielen Wochen war er kaum aus dem Hause gekommen; jetzt knüpfte der Vater an die Erlaubnis zum Gesellenschmause nur die eine Bedingung rechtzeitiger Heimkehr. Nein, er vermochte nicht dem zu entsagen. Auch die anderen erwarteten von ihm, dem Meistersohn, daß er nicht kargen würde; sie durften ihn keinen Knauser schelten, und Georg sollte nicht darunter leiden, er wollte später recht sparen und ihm von der Wanderschaft aus manchen klingenden Thaler für die Sparbüchse schicken.

Als Karl von den jüngsten Gesellen der Gilde in feierlichem Zuge und mit Musik nach der Tischlerherberge, wo die Feier stattfinden sollte, abgeholt wurde, rief ihn der Vater nochmals in die Stube und sagte eindringlich: »Um elf Uhr bist du spätestens zurück; ich werde auf dich warten, um dich einzulassen. Sei pünktlich, es hängt viel für dich davon ab.«

Karl versprach es und wollte hinauseilen; auf dem Flur stand die Mutter in ungewöhnlicher Aufregung. »Karl,« sagte sie ängstlich, »ich bitte dich um Gottes willen, mache den Vater heute nicht böse, komme zur rechten Zeit heim!«

»Seien Sie ohne Sorge, Frau Mutter,« versetzte er fröhlich, »ich werde mich nicht verspäten.«

Die Mutter blickte mit Stolz auf den schlanken, hochgewachsenen Jüngling mit der breiten Brust und der aufrechten Haltung, dessen hübsches frisches Gesicht nicht den sonstigen Mißmut zeigte, sondern von Heiterkeit strahlte; er war gewiß kein böser Mensch, und wenn er nur vernünftig würde, dann werde ihm der Vater auch allen Ärger und Verdruß der letzten Jahre vergeben, und alles könnte wieder gut werden.

»Gott behüte dich!« sagte sie und umschlang ihn fest, als wolle sie ihm durch ihre Nähe Schutz verleihen. Er beugte sich zu ihr nieder und küßte sie, nicht ohne Rührung und in der festen Absicht, ihr jede Angst zu ersparen und noch vor der bestimmten Zeit zurück zu sein. Im nächsten Augenblick war er verschwunden, und draußen empfing ihn ein schmetternder Tusch und das Zujauchzen der Kameraden.

Die Geschwister standen auf der Straße und blickten ihm mit Stolz nach; auch Walter und Georg befanden sich bei ihnen und empfingen mit Genugthuung die Ehre seines Grußes. Der erstere wurde tief enttäuscht, als er sich in Zukunftsträumen über seinen Gesellenschmaus erging, vom Magister zu vernehmen, daß beim Studieren nicht vom Gesellewerden die Rede sei, und er erklärte, dann wollte er lieber Tischler lernen und geehrt werden wie Karl.

Dieser saß schon in freudigster Stimmung in der Tischlerherberge und ließ sich das Bier munden, das aus dem Fasse stammte, welches der Vater ihm bewilligt hatte. Die Gesellschaft bestand aus jungen Leuten seines Alters, die gleichzeitig mit ihm oder das Jahr vorher zu Gesellen gesprochen worden waren.

Als sie im besten Zuge waren, trat ein Mann in mittleren Jahren ein, von strammer Haltung und mit einem riesigen Schnurrbarte, wie ihn sonst wandernde Handwerksburschen nicht tragen, und doch bekundete ihn sein Ranzen und der Wanderstab als solchen, auch wußte er den Handwerksspruch ohne Anstoß herzusagen. Die jungen Leute blickten nicht ohne Unbehagen auf den fremden Eindringling, der sie mit höflichen Worten bat, ihm einen bescheidenen Platz auf der Ofenbank zu gönnen, da er von fern zugewandert und müde sei, sich auch gern an dem Frohsinn der Jugend ergötze.

Karl, an den er sich vor allem gewendet, gestand ihm in froher Laune gern das Begehrte zu und gebot der Wirtin, dem fremden Gesellen einen Krug von seinem Bier zu reichen, was dieser dankend annahm und mit einem Trinkspruch auf den Spender leerte. Diesem kam der Wandersmann bekannt vor; er besann sich aber vergebens, wo er ihn schon gesehen haben konnte, denn der Fremde verneinte entschieden die Möglichkeit früherer Bekanntschaft.

Er war neben Karl getreten, als er den Krug auf sein Wohl leerte und blieb dort stehen, bis dieser auf der Bank zurückte und ihm einen Platz an seiner Seite frei machte. Die anderen achteten nicht mehr auf die Unterbrechung, sondern tranken tüchtig und sangen dazu, so daß der Fremde unter diesem Getöse leicht eine Unterredung mit seinem Nachbar führen konnte, ohne von unerwünschten Zuhörern verstanden zu werden. Er sprach seine Verwunderung darüber aus, daß Karl erst jetzt Geselle geworden sei; nach seinem stattlichen Aussehen habe er ihn älter geschätzt.

Karl errötete und erklärte dem Frager, der eine sehr einschmeichelnde Art und Weise hatte, daß er von Rechtswegen schon seit Jahresfrist hätte zum Gesellen gesprochen werden müssen, und daß der Vater dies nicht gewollt habe, um ihn noch im Hause zu behalten.

»Der Herr Vater gehört wohl zu der alten, strengen Schule?« sagte der Fremde lachend. »Kenne das; habe selbst mit meinem Alten Sträuße genug gehabt, ehe ich auf die Wanderschaft kam. Doch dann geht ein anderes Leben an! Juchhe! Paßt mir's bei dem einen Meister nicht, so gehe ich zum anderen, und plagt mich der, so suche ich mir einen dritten, aber dazwischen das freie, schöne Wandern durch Feld und Wald, Dorf und Stadt, überall und doch nirgends zu Hause!«

»Wäre ich doch erst so weit!« seufzte Karl.

»Damit hat's keine Not mehr, Bruderherz!« lachte der andere. »Nun du Gesell bist, steht dir die Welt offen, kann dich dein Alter nicht mehr hänseln; gleich morgen würde ich mein Bündel schnüren.«

»Wenn's nur so ginge!« meinte Karl besorgt. »Aber der Vater hat noch nichts vom Wandern gesagt, und ich fürchte, es wird noch harte Kämpfe kosten, ehe er mich ziehen läßt.«

»Wäre noch schöner!« rief der Fremde lachend. »Das Wandern ist dein Recht Brüderchen, und gewährt er's dir nicht, so nimmst du dir's und gehst mit deinem Gesellenbuch bei Nacht und Nebel davon.«

»Das würde der Vater mir niemals verzeihen,« meinte Karl betrübt.

»Unsinn!« schalt der andere. »Du mußt tüchtig trinken, Bruderherz, damit du mehr Kourage bekommst. Nein, danke, nicht mehr von deinem Bier; ich habe drei Krüge von dir angenommen, nun mußt du auch auf meine Kosten trinken. Frau Wirtin, bringt uns eine Flasche vom besten Rotwein, wie ihn die Meister bei großen Gelegenheiten trinken! Hier ist ein Thaler, damit Ihr nicht ängstlich wegen der Zahlung werdet.«

Der Wein funkelte in den Gläsern, die anderen Zechgenossen blickten erstaunt auf diese Üppigkeit, waren aber schon in zu fröhlichem Zustande, um sich viel um etwas zu kümmern, was sie nicht direkt anging.

»Auf dein Wohl, Brüderchen, und auf baldige Wanderschaft!« sagte der Fremde. »Eigentlich ist's schade um dich,« fuhr er fort, »daß du als simpler Handwerksbursche in die Welt willst! Wäre ich ein Kerl wie du, über sechs Fuß hoch, mit solcher Brust, ich ginge unter die Soldaten und suchte da mein Glück.«

»Ist nur nicht viel dabei zu holen,« meinte Karl lachend. »Die armen Teufel dauern mich bei ihrer knappen Löhnung, unter der Fuchtel der Unteroffiziere, und das Gassenlaufen ist wahrlich kein Spaß!«

»Mußt nicht gefuchtelt werden, sondern selbst fuchteln, Freundchen,« versetzte der Fremde vertraulich. »So einem Prachtkerl kann's gar nicht fehlen; der wird bald Korporal, und wer weiß, was dir noch blühen mag! Derfflinger war nur ein Schneidergeselle – stoß an, er soll leben! – So – trink aus. Aber nun zwei Gläser auf sein Wohl! – Der hat's zum Feldmarschall gebracht und ist daneben steinreich geworden.«

»Einer unter Hunderttausenden,« meinte Karl bedenklich; »die anderen haben's um so schlechter, und so lange ein Bürgerssohn auf Ehre und Reputation hält, geht er nicht unter die wilden Horden.«

»Frau Wirtin, die Flasche ist leer, noch eine für diesen Thaler!« rief der Fremde und fuhr dann leise fort: »Das machen einzig die Friedenszeiten, daß die Bürger so gering vom Soldatenstande denken. Laßt nur einen tüchtigen Krieg kommen, dann ist er Herr der Welt, vor dem sich alles beugt. Zur Zeit des Alten Fritz war's anders, da hatte der Soldat gute Tage; übrigens geht es bald wieder los. Sieh nur nach Frankreich. Da gebietet jetzt der Bonaparte als erster General, und er war vor wenigen Jahren ein simpler Leutnant; wer weiß, wie hoch er noch steigt. Wir wollen auf den Krieg anstoßen!«

Karl zögerte mit dem Anstoßen und erwiderte: »Der Krieg ist für alle anderen Menschen das größte Unglück!«

»Kommt darauf an,« erwiderte sein neuer Freund. »Für den Soldaten ist er das Erwünschte; Bürger und Bauer müssen sich hineinfinden, und vielen hilft ein Feldzug zu hoher Ehre. – Wie, willst du schon fort, Bruderherz?«

»Ich muß,« sagte Karl erschrocken; »die meisten Gesellen sind schon gegangen, ohne daß wir es im Gespräch bemerkten, und der Vater erwartet mich um elf Uhr.«

»Unsinn,« versetzte der Fremde; »jetzt wird's erst gemütlich. Wir trinken noch einige Flaschen guten Weines. zusammen. Laß die anderen laufen. Dein Alter muß Raison annehmen. Man ist nur einmal jung, und noch dazu an einem Tage wie dem heutigen! Da kommt Wein. Stoß an! Auf den künftigen General Karl Fisch!«

»Da müßte ich doch erst Soldat werden!« rief Karl, dessen Zunge von Wein schwer war.

»Wird schon geschehen!« sagte der andere zuversichtlich. »Ich täusche mich selten im Menschen, und dir sehe ich's an, daß du nicht für Hobel und Säge, sondern für den Säbel geboren bist. – Wer weiß, weshalb wir uns kennen lernten! Ich habe viele gute Freunde im Heere und könnte dir vielleicht von Nutzen sein. Einige Zeit bleibe ich noch hier in der Stadt. Kannst du's bei deinem Alten nicht mehr aushalten, so finde dich nur bei mir ein, ich wohne für gewöhnlich im »Blauen Löwen«; was ich für dich thun kann, soll geschehen. Eine Rolle blanker Thaler bekommst du obenein. Stoß an! Auf Wiedersehen!«

Mit unsicherer Hand führte Karl sein Glas zum Munde und stürzte es hinunter. »Jetzt muß ich fort,« sagte er entschieden. »Ich glaube, es ist schon sehr spät.«

Der neue Freund machte keinen weiteren Versuch, ihn zurückzuhalten, sondern half ihm bereitwillig seine Mütze suchen, da sich ihm alles vor den Augen drehte. Er begleitete ihn bis an die Hausthür und schaute ihm lachend nach, als er ihn schwankenden Schrittes sich entfernen sah.

»Der hat genug,« murmelte er vergnügt vor sich hin; »sein Alter wird ihm einen guten Empfang bereiten, wenn er jetzt nach zwei Uhr in diesem Zustande in seine Bude kommt. Ich will mich auf alle Fälle in der Nähe halten; man kann nicht wissen, was geschieht. Habe ich ihm doch seit lange auf Schritt und Tritt nachgespürt, da gilt's im rechten Augenblick bei der Hand zu sein.«

Meister Fisch befand sich schon in zorniger Aufregung, die sich von Stunde zu Stunde steigerte, denn er harrte vergeblich auf den Ausbleibenden. Die Mutter duldete es nicht im Bett, trotzdem ihr Mann sie ausschalt, weil sie nicht ruhig schlafe, wo es doch gar nichts helfen könne, wenn sie sich mit ängstige. Die Unthätigkeit vermochte sie ebensowenig zu ertragen; sie griff zu ihrem Strickstrumpf, und die Sorge und Angst ihres Herzens beflügelten die Nadeln in ihrer Hand. Die Arbeit wuchs zusehends, die Wanduhr schlug Stunde um Stunde; die Eltern saßen stumm bei einander und lauschten in der stillen Straße auf den ersehnten Schritt. Endlich brach die Frau in Thränen aus, während der finstere Ernst auf der Stirn ihres Mannes sich in hellen Zorn verwandelte.

»Sei nicht zu hart gegen ihn, Vater,« bat sie; »er ist nur leichtsinnig!« – »Es giebt keine Entschuldigung für ihn,« sagte der Meister streng; »solche Verhöhnung der väterlichen Befehle, solch ein Bruch von Zucht und Sitte ist himmelschreiend!«

Die Uhr hatte längst drei geschlagen, als endlich schwere, unsichere Schritte sich näherten und mit Heftigkeit an der Thürklinke gerissen wurde.

»Der Freche!« murmelte der Meister, als er die zinnerne Öllampe, deren Docht die Mutter während des langen Wartens oft geputzt, ergriff und in den Hausflur trat, um aufzuschließen.

Karl stolperte hinein und lehnte sich erschrocken gegen die Wand, als er in die zornigen Augen des Vaters blickte.

»Ich bin wohl etwas länger geblieben, Herr Vater?« stammelte er. »Ich fand einen guten Freund, mit dem ich die Zeit verplauderte.«

»Schweig und entschuldige dich nicht, denn das ist unmöglich,« sagte der Vater mit gedämpfter, aber vor Zorn bebender Stimme. »Du bist in solcher Verfassung, daß? ich heute nicht mit dir reden will. Morgen sprechen wir weiter. Das aber will ich dir schon jetzt sagen, daß es mit der Wanderschaft für dich vorbei ist. Wem ich nicht für einige Stunden außerhalb des Hauses trauen kann, den kann ich nicht ohne Aufsicht in die Welt hinausgehen lassen.«

Karl starrte den Vater mit weit aufgerissenen Augen an; was er vernahm, wirkte wie ein kaltes Sturzbad auf ihn und ernüchterte ihn plötzlich. Er wollte noch etwas entgegnen, sich aufs Bitten legen, doch der Vater war schrecklich in dieser kalten Ruhe, die seinen Zorn verbarg, und er fand kein Gehör.

»Geh in deine Kammer!« befahl der Meister. »Du kennst meinen Entschluß. So weit reicht meine Macht als Vater noch, meinen ungeratenen Sohn in Zucht zu halten.«

Ohne ein weiteres Wort stieg Karl die enge Bodentreppe hinauf und ging in sein Dachkämmerchen. Der Rausch war verflogen und er war wieder Herr über sich; alle die widerspenstigen Gedanken, die der Fremde mit seinem Wein und seinen Reden in ihm angeregt hatte, tummelten sich noch in seinem Kopfe. Mit der Wanderschaft war es für lange Zeit vorbei. Daß der Vater Wort halten würde, war nicht zu bezweifeln. Neue und harte, drückende Knechtschaft lagen vor ihm, denn nun würde ihm der Vater jedes, auch das unschuldigste Vergnügen versagen; die anderen Gesellen genossen ihre Freiheit und verlachten ihn, der wie ein unmündiges Kind behandelt wurde; im Hause begegnete ihm täglich der Zorn des Vaters, der Gram der Mutter. Nein, solche Zukunft war unerträglich! Fort mußte er; ging es nicht mit Erlaubnis der Eltern, dann heimlich, ohne dieselbe. Nicht einen Tag wollte er verlieren. Aber wohin? – Er packte seine Kleider zusammen und schnürte den Ranzen, den er schon lange für die ersehnte Wanderschaft bereit hatte. Doch zum Wandern gehörte etwas Geld, ein Notpfennig, wenn er sich einmal vergebens an die Mildthätigkeit der Menschen, wende, die jeder Handwerksbursch unbedenklich in Anspruch nehmen müsse. Ja, was noch schlimmer war, was ihm die Ausführung seines Vorhabens unmöglich machte, er hatte kein Wanderbuch; das war noch in den Händen des Vaters, der ihm sein Zeugnis für die Lehrzeit hineinschreiben mußte; die Lossprechung von seiten der Gilde und die Bestätigung der Obrigkeit mußte er gleichfalls im Wanderbuche aufweisen, sonst nahm ihn kein Meister in Arbeit, und die Behörden behandelten ihn nicht als ehrlichen Handwerksburschen, sondern als umherstreifenden Vagabunden.

Er setzte sich auf den Rand seines Lagers und stützte den schweren Kopf in die Hände. Es gab keine Hoffnung, das Buch zu erlangen, durch das ihn der Vater in festester Abhängigkeit hielt; bleiben aber wollte er um keinen Preis. Doch was sollte nun werden? – Da fiel ihm wieder der neue Freund ein, der alles vorhergesehen und sich zur Hilfe erboten hatte. Zu ihm wollte er, seinen Rat und Schutz in Anspruch nehmen. Jeder andere Gedanke trat vor diesem einen zurück; er überlegte nicht, daß er das Vaterhaus für immer verlassen, daß er ohne Abschied, ohne Segen von dannen gehen müsse. Er ahnte nicht die Tragweite seines Schrittes, er hatte nur die nächste, unmittelbare Handlung im Auge, die Flucht. So ergriff er den Ranzen, schnallte ihn um und zwängte sich durch das enge Fenster, das ihn schwer durchließ. Mit der Behendigkeit eines Eichhörnchens glitt er an dem Stamme des Birnbaumes hinab, der ihm auch jetzt als Brücke diente, überkletterte die Mauer und eilte der Richtung zu, in welcher der »Blaue Löwe« lag. Doch hatte er erst wenige Schritte gemacht, als er vor sich eine dunkle Gestalt erblickte. Er erschrak, weil sein erster Gedanke war, daß der Vater ihm den Weg vertrete; aber im nächsten Augenblick schon vernahm er deutlich die Stimme des Fremden, der seinen Namen rief.

In fliegender Eile erzählte Karl demselben das Vorgefallene, dieser aber sagte lächelnd: »Ich habe so etwas geahnt und blieb zu deinem Beistande in der Nähe. Komm zuerst mit in mein Quartier, dort sprechen wir weiter.«

Karl folgte schweigend dem Manne, vor dem ihn jetzt ein banges Gefühl warnte; er erinnerte sich nunmehr auch, daß der »Blaue Löwe« kein gut beleumundetes Wirtshaus war: eigentlich verkehrten dort nur Soldaten, und man hörte oft von wilden Zuchtlosigkeiten. Doch es war zu spät für Bedenklichkeiten.

Der Fremde wurde auf sein Klopfen bald eingelassen, und der verschlafene Wirt leuchtete ihnen mit einem Talglicht, das in einem unsauberen Messingleuchter steckte, die Treppe hinauf in das Zimmer des Gastes. »Ist Wein da?« fragte dieser kurz.

Der Wirt bejahte und wurde verabschiedet.

»Setz' dich, Bruderherz,« sagte der Fremde mit großer Freundlichkeit; »du bist kalt und mußt dich erwärmen. Trinke zuvor noch ein Glas Wein, ehe wir deine Lage besprechen.«

Karl folgte der Weisung und mußte ein zweites Glas leeren, das der neuen Freundschaft galt. Damit kam die sorgenlose Stimmung zurück. Er mußte über den Spott des Fremden lachen, mit dem dieser über die Armseligkeit des Bürgerlebens sprach, und beim dritten Glase saß er mit geröteten Wangen und glänzenden Augen und lauschte den Erzählungen des anderen von der Herrlichkeit des Soldatenstandes.

»Faß ein Herz, Bruder,« rief der Fremde endliche »komm zu uns! Hast doch wohl längst gemerkt, daß ich nicht bin, was ich scheine. Ich bin ein bayerischer Offizier, und im Namen meines Kurfürsten werbe ich dich mit dieser Hand voll blanker Thaler für seinen Dienst. Schlag ein! Du wirst ein strammer Soldat und bald ein tüchtiger Korporal werden. Denk' an den Derfflinger!«

Er hielt ihm die Hand hin, in die Karl seine Rechte legte und die bindenden Worte nachsprach, die der andere ihm vorsagte; dann nahm er das Geld in Empfang, das ihm sehr in die Augen stach, denn er hatte noch nie so viele Thaler bei einander gesehen. Dabei legte sich ein Schleier über seine Augen; ihm wurde so wirr zu Mute, er träumte und sank auf einen Stuhl. Nach einigen Minuten war er fest eingeschlafen.

Der Werber beobachtete ihn lachend. »Der große Rekrut wird dem Oberst ganz gewiß sehr willkommen sein.« sagte er zu sich selbst. Nun aber schnell fort mit ihm, so lange der Schlaftrunk noch Wirkung thut. Die preußischen Werber werden wütend sein, wenn sie erfahren, daß ich ihnen solch einen Kerl abgejagt habe, auch ihn selbst reut es vielleicht, wenn er aufwacht und nüchtern wird.«

Er rief den Wirt und bestellte den Wagen, der für ihn in Bereitschaft stand. Karl wurde, an Händen und Füßen gefesselt, hinunter getragen, auf das Stroh gelegt und reichlich damit zugedeckt, ohne daß er erwachte. Unterdessen war es Morgen geworden, das Stadtthor wurde geöffnet und der Thorschreiber erhielt auf seine Frage zur Antwort: »Fleischermeister Braun aus Borstingen, der Vieh verhandeln will.« Ungehindert durfte er passieren und fuhr, so schnell die Pferde zu laufen vermochten, in südlicher Richtung davon.

Als Karl am anderen Morgen bei der Andacht, mit der stets der Tag begonnen wurde, fehlte, sahen sich die Hausgenossen untereinander bedenklich an; nur die Eltern machten sich keine besonderen Gedanken, da sie annahmen, daß er seinen Rausch verschlafe; sie sahen zwar ernst und niedergeschlagen aus, doch sagten sie nichts, und so wagte niemand sonst eine Frage. Nach beendetem Frühmahle aber eilten Gottlieb und Wilhelm hinauf in Karls Bodenkammer, die sie zu ihrem Schrecken leer und das Bett unberührt fanden. Nun kam Bewegung in das Haus; der Meister stürzte die Treppe hinauf, als wäre Feuer unter dem Dache, während der Mutter die Kniee den Dienst versagten. Beide hegten dieselbe Furcht vor etwas Entsetzlichem, aber das offene Fenster, der mitgenommene Ranzen und die fehlenden Kleider verrieten, daß es sich um eine überlegte Flucht handelte.

»Es ist geschehen, was ich oft gefürchtet habe,« sagte der Meister ruhig; »der ungeratene Sohn hat sein Schicksal selbst in die Hand genommen. Nun mag er zusehen, wie es ihm in Zukunft ergehen wird!«

Die Mutter weinte still vor sich hin; ihr Erstgeborener hatte sie ohne ein Wort der Liebe, ohne einen Abschiedsgruß verlassen; das war bitterer als der Tod. Wenn die Thür aufging, wenn sie eine laute Stimme vernahm, fuhr sie zusammen und hoffte den Entflohenen eintreten zu sehen; aber sie hoffte vergebens. Am Abend betete der Meister für den verlorenen Sohn, und das that er jeden Abend und Morgen, sonst aber erwähnte er seinen Namen nicht wieder, und Georg, der in kindlicher Unbefangenheit von dem Bruder sprach, wurde von Gottlieb Schweigen über ihn auferlegt, wenigstens vor den Eltern.

Still und ohne Klage trugen beide ihr Leid; aber nach einigen Wochen zeigten sich in Haupt- und Barthaar des Meisters viele weiße Fäden, und die Frau, die sonst so munter und rüstig im Hause schaffte, ging gebeugt einher; ihr Auge hatte den Glanz verloren und die Lippe das Lächeln verlernt. Keine Nachricht über den Flüchtling drang zu ihnen, denn Gottlieb, der von der Anwesenheit des fremden Werbers gehört, auch daß er einen guten Fang gemacht hatte, bewahrte seine Vermutung als Geheimnis, denn er wußte, daß die Eltern lieber den Sohn als einen Toten betrauern würden, als daß sie ihn lebend, aber für immer verloren bei den zügellosen, von den Bürgern so mißachteten Soldaten wüßten.


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