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Hat der geneigte und vielgeliebte Leser schon früher erfahren, was Langeweile ist? Es sollte uns freuen, wenn dem so wäre, aber außerordentlich schmerzen, wenn er die Bekanntschaft dieses fünften Elementes, wie jemand die Langeweile genannt, erst durch uns machen sollte. Wenn aber auch der geneigte Leser weiß, was Langeweile ist, so hat er sich doch vielleicht noch nie die Mühe gegeben, dieselbe gründlich zu studieren und in ihren Einzelheiten kennen zu lernen. O, es gibt unendlich viele Abarten von Langerweile! So haben wir die gewöhnliche hausbackene Langerweile, bei der man alt und dick werden kann; wir haben eine stille und sinnige Langeweile nach großen Diners zum Beispiel, die uns wohlthut und angenehm zur Siesta hinüberführt; – wir haben eine ungeduldige Langeweile, wenn wir zwischen vier kahlen Brandmauern auf jemand warten müssen; – wir haben eine beängstigende Langeweile, wenn uns das Krankenzimmer nicht losläßt, wenn draußen alles blüht und duftet, und wenn wir, wie der Bär in seinem Käfig, täglich vierhundertmal den Teppich von rechts nach links und dann wieder von links nachts rechts mit unseren Schritten messen; – wir haben eine tödliche Langeweile, eine ingrimmige, die mit den gefährlichsten Symptomen auftritt und sich vom krampfhaften Händeballen bis zu allerlei Schrecklichem steigern kann, die furchtbare Langeweile nämlich, die uns eine dicke, gemütliche, bekannte Dame verursacht, welcher wir auf der Straße begegnen, die uns aufhält und mit ihrem fetten, strahlenden Gesichte anlächelt, gerade an der Ecke, wo wenige Schritte vor uns die unbekannte Dame verschwand, der wir durch die halbe Stadt folgten. – Da stehen wir, angefesselt voll Kummer und Wut. – Es gibt eine sanfte Langeweile, wenn du in der Ecke des Wagens lehnst, halb schlummernd in den weichen Kissen, eine Langeweile, die mit leichte Fäden hinübergreift in das Reich der Träume, eine süße Langeweile, eine Langeweile, welche so geneigt ist, dir schöne Bilder längst entschwundener Tage lebendig vor die Seele zu zaubern. – Es gibt eine einfache, zweifache, dreifache und vielfache Langeweile. Du kannst dich mit einem Dutzend langweiliger Gesellen aufs gründlichste langweilen. Du kannst dich zu dreien langweilen, aber außerordentlich kannst du dich zu zweien langweilen, und eine solche Langeweile zu zweien kann unter Umständen die schrecklichste werden. – Jemand, der es wissen konnte, hat mir gesagt, es sei das Schrecklichste, wenn ein verliebtes Paar schon vor der Hochzeit anfange, sich gegenseitig zu langweilen; wenn er vom Wetter spricht, und sie das gewisse spitze Maul macht, wobei sich die Nase bedeutend aufbläht, und wodurch man das Gähnen zu verbergen sucht.
Wenn wir uns aber auch erlaubt haben, die vorliegende Geschichte mit Langerweile oder langweilig zu beginnen, so sei es doch fern von uns, gleich das erste Kapitel gerade mit der schrecklichsten Spezies dieser langsam tötenden Macht, einem langweiligen Liebespaare – ein solches mag vielleicht später wohl noch vorkommen –, anzufangen. Da sich aber ein Erzähler der Wahrheit befleißigen soll, und da er die traurige Notwendigkeit einsieht, daß die Geschichte, die er schreiben will, der Situation gemäß langweilig anfangen muß, so kann er nichts thun, als mit traurigem Herzen eben langweilig zu beginnen.
Ja, geneigter Leser, es ist das sehr traurig für einen gewissenhaften Erzähler, denn du hast keine Idee davon, wie wohl es einem Schriftstellergemüt thut, wenn er selbst so – mit gezogenem Säbel, auf kurbettierendem Roß, mit flatternder Feder und spritzender Tinte sein Geschäft vor das Publikum führen und sagen kann: Hier sind wir beide, die Geschichte und ich!
»Es war,« so könnten wir alsdann vielleicht anfangen, »an einem trüben Sommerabend, der Himmel, der eine helle Nacht versprach, hatte sich mit grauen Schleiern überzogen; es wetterleuchtete nicht nur fern am Horizonte, sondern auch auf dem Gesichte des jungen Freiherrn Kalb von Kalbsfell, der usw•, usw•« – Stand er nun am Fenster seines Schlosses, oder lehnte er an einer dicken Buche, wir wissen, daß es auf seinem Gesichte ebenfalls wetterleuchtete, und daß seine schöne Physiognomie der Beweglichkeit fähig und auch im stande war, fremde Eindrücke widerzuspiegeln.
Wohlthuend ist es auch, wenn es uns erlaubt ist, sagen zu dürfen: »Dem Morgen entgegen, der sich rosig ausbreitete über Berg und Thal, rollte ein eleganter Reisewagen, und der junge, schöne, blondgelockte Mann in demselben blies die Wolken seiner echten Havana mit einem unendlichen Behagen vor sich hin, die grauen kräuselnden Wolken, die, höher und höher aufsteigend, jetzt vom ersten Strahl der Sonne getroffen und vergoldet wurden.«
»Kreuztausend Schock Millionen Donnerwetter!« rief der Lieutenant von Sperberbach, als er morgens in der Frühe erwachte und zu seinem großen Schrecken entdeckte, daß er den Ausmarsch der Regiments verschlafen – das ist auch ein schöner Anfang!
Nicht minder:
»Mama,« sprach Luise.
»Mein Kind?« meinte die Mutter.
»Ich sah ihn wieder nicht im Theater.«
Die Mutter unterdrückte einen leichten Seufzer.
»Auch nicht auf der Promenade.«
»Du hast nicht recht gesehen.«
»Die Blicke der Liebe sind scharf, Mama.«
»Gott weiß es, mein armes Kind!«
»Auch ritt er nicht vorbei.«
»Gute Luise!«
»O, meine Mutter!«
Dann seufzten beide aus tiefem Herzen, und das Zimmer wäre mit einer unheimlichen Stille erfüllt gewesen, hätten sich nicht in diesem Augenblicke vor dem Hause die Töne einer Straßenorgel vernehmen lassen, kräftig, laut und feierlich:
Noch ist Polen nicht verloren – – – – –
Ein zweifacher Trost für das wunde Gemüt von Mutter und Tochter.
– – Das alles, wenigstens etwas Ähnliches, geneigter Leser, hätten wir zu Anfang dieser wahrhaftigen Geschichte auch sagen können. Aber es sei ferne von uns, dich auf solche Art bestechen zu wollen und unpassend zu beginnen.
Wir führen dich der Wahrheit gemäß in ein großes, elegantes Gemach, man könnte es einen kleinen Saal nennen, reich dekoriert, reich möbliert. Die Wände sind mit hellen, glänzenden Seidentapeten bedeckt und zeigen schwere, trotzige, goldene Bilderrahmen mit prachtvollen Landschaften, Schlacht- und Seestücken. Die Lambrien sind von feinen eingelegten Holzarten und laufen ringsumher bis zu einem riesenhaften Marmorkamin, in dem aber kein Feuer brannte, und über welchem ein ungeheurer Spiegel sich bis hoch an den vergoldeten Fries erstreckt, der unter dem Plafond dahinläuft. Dieser Plafond ist reich bemalt und in seiner Mitte hängt ein schwerer Bronzelüster mit unzähligen aufgesteckten Wachskerzen; der parkettierte Fußboden ist spiegelblank und das Ameublement, wie wir schon vorhin bemerkten, wenn auch reich, doch sehr einfach: es besteht aus einem Dutzend Stühlen, welche an den Wänden umherstehen, und einem großen Tische in der Mitte des Gemachs. – Richtig, dort in den beiden Fenstervertiefungen, welche die dicken Mauern des Schlosses bilden, stehen noch zwei Fauteuils und vor einem derselben ein kleines Tischchen mit Papier und Schreibzeug.
Wir sind im Schlosse des Regenten im Parterrestockwerke; die Fenster unseres Gemaches gehen auf einen umschlossenen Hof, und die Ruhe und Stille, welche dort, sowie in den hohem Korridoren und auf den breiten Treppen herrscht, lagert beängstigend vor Thür und Fenster; sie läßt sich nur ungern stören und unterbrechen, und wenn man von fernher Tritte eines menschlichen Fußes vernimmt oder jemand husten hört, so grollt die Stille darüber und äfft diese Töne mit lautem Echo nach
In dem weiten Gemache befinden sich zwei junge Männer, von denen der eine, ein Ordonnanzoffizier aus dem Leibdragonerregiment des Regenten, mit festgehaltenem Säbel an den Fenstern auf und ab spaziert, während der andere im goldgestickten Frack der Kammerherren dasselbe auf der Seite des Kamines thut. Beide sind vielleicht wenig über zwanzig Jahre alt, und wenn sich der eine so gut wie der andere entsetzlich zu langweilen scheint, so äußert sich das doch bei jedem auf verschiedene Art.