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Meine Krankheit und dem Spital seine

Die gestrige Tagreise, die gehabten Gemütsbewegungen, verbunden mit allem Frühern, ließen mich am folgenden Morgen unwohl erwachen. Meine Wunde war wieder entzündeter; es fröstelte mich über und über und heftiges Kopfweh lastete zentnerschwer über meinen Augen. Ich stund dennoch auf, glaubend, frische Morgenluft werde mir wohler machen. Zu Annelis Grab wollte ich, wollte es wieder grüßen, wollte es bitten, mein Schutzgeist zu bleiben, bis der gütige Vater uns zusammenführe. Mühsam trugen mich meine Schritte hin auf die mir wohlbekannte Stätte, wo die Kindbetterin besonders ruhte. Dort sank ich ins feuchte Gras und dachte unserer Scheidestunde, seines letzten Blickes, und immer dunkler wurden mir meine Gedanken; aber immer hellere Bilder drängten sich an meinen Augen Vorüber; ich glaubte Anneli zu sehen, mein Kind, Mareili, Bonjour, Napoleon, und noch manche andere Gestalt, und diese alle vereinigten sich, stoben dann wieder auseinander auf die wunderlichste Weise.

Ich konnte die Bilder immer weniger festhalten; sie verflossen immer wilder ineinander, wurden immer dunkler und dunkler, bis endlich schwarze Nacht über mich einbrach und jegliches Bewußtsein mir schwand. Doch stiegen dann zuweilen auch in dieser Nacht Gewitter auf, und mir war's als sehe ich den ganzen Himmel in einem flammenden Blitze, und diese Blitze entlüden sich alle auf meinem Kopfe und erfüllten ihn mit einem entsetzlich brennenden Feuer. Und wieder war mir, als stünde ich im Gefechte und alle Kugeln schlügen mir in meinen Arm, und obgleich schon hundertfach zersplittert, kamen immer neue Kugeln und fanden immer noch etwas zum Zersplittern. Da kam wieder die Nacht, in der ich nichts sah, nichts fühlte.

Endlich erwachte ich von einem hellen Schein, der mir in die Augen drang: Ich schlug die Augen auf; meine Weckerin war die Morgensonne, die durch enge Fenster hineinguckte auf mein Bett. Ich war nicht mehr auf Annelis Grab und konnte nicht begreifen, wo ich war, wie ich hieher gekommen. Am Fenster saß ein altes Mütterchen, hustete und spann Kuder; in zweien andern Betten berzete und stöhnte es; im dritten lag ich, unendlich matt; nur Augenblicke konnte ich die Augen offen halten, die Stimme fand ich gar nicht, der Kopf war mir so blöde, aus den Gliedern war alle Kraft weg, ich konnte mich nicht rühren, lange, lange nicht. Endlich vermochte ich ein Geräusch zu machen; die Alte brachte mir zu trinken und erschrak zum Einfallen, als ich, durch den Trunk gestärkt, sie fragte: «Wo bin ich?» Sie glaubte, ein Geist rede aus mir, denn niemand hatte daran gedacht, daß ich wieder zurecht komme. Ich vernahm nun, daß ich im Spital der Gemeinde sei, vom Kirchhof weg hieher gebracht und viele Wochen lang hier im Fieber liege und daß der Doktor gesagt, es sei nichts mit mir zu machen, ich stürbe auf jeden Fall. Doch hätte man mir noch alleweil zu trinken gegeben, wenn ich meine Zunge, fast schwarz vor Brand, herausgestreckt.

Ich hatte Mühe dieses zu fassen. Endlich ordentlich zu mir selbst gekommen, fühlte ich besondern Schmerz im Arm, fühlte seine Vernachlässigung, indem ich ihn nicht mehr bewegen konnte. Ich verlangte nach dem Arzt; die Alte ging, sagte es dem Spitalknecht, und brachte seine Antwort: Das werde nicht halb so pressieren; am Abend müsse jemand ins Dorf, um Salz zu holen, da werde es lange frühe genug sein. Ich wollte mir das nicht gefallen lassen; allein die Alte meinte, da sei nichts zu machen, und nahe an mein Bett tretend flüsterte sie, der Knecht sei gar e wüeste und unerchante. Wie man mich am Montag in den Spital gebracht, habe er das erst am Mittwoch dem Doktor sagen lassen, und gemeint, um dä wäre es nicht schade, wenn er schon verrecke. Aber ich solle sie um Gotteswillen nicht verraten; wenn er es wieder vernähme, was sie mir gesagt, so ginge es ihr viel zu bös; sie käme gewiß in den Schwingstuhl oder ans Block. An eine solche Ordnung war ich nicht gewohnt aus den französischen Spitälern; ich wußte, was dort die kleinste Vernachlässigung eines Kranken nach sich zieht, und hatte gar keinen Begriff davon, wie weit die Roheit eines Spitalknechtes getrieben werden kann, wie weit eine Kommission den brutalen Grundsatz, daß sie nur da sei zur Unterstützung des Knechtes, und nicht auch zur Sicherstellung und Bewahrung der Armen, ausdehnen kann; ich hatte keinen Begriff davon, wie hoch man Despotie und Zwang in einem solchen Hause schrauben kann, so weit zum Beispiel, daß man den Leuten daselbst das Kirchengehen verbietet, aus Furcht, sie möchten erzählen, wie sie behandelt werden.

Ich schickte sie noch einmal hin: da kam etwas herangepoltert in Holzschuhen (die Holzschuhe und noch andere rasselten oft bis nach Mitternacht in dem hölzernen Hause auf den Köpfen der Kranken herum, daß es mir in meinem angegriffenen Kopfe fast unerträglich wurde) und schnauzte mich an: Ich werde b. D. nicht wollen regieren, er müsse verantwortlich sein, er hätte b. D. viel zu tun, wenn er allemal aparti zum Doktor schicken wollte, wenn es einem in Sinn käme; hätte ich so lange da gelegen, so werde das nicht alles zwänge, wenn ich schon bis am Abend warte. Ich frug nach meinem Habersack, in dem ich mehreres für meinen Arm von unserem Wundarzt hatte; er wollte nichts von ihm wissen. Ich frug nach meinen Kleidern; es hieß, die hingen draußen im Spycher; man hätte nicht daran gedacht, daß ich sie noch einmal brauche. Ich forderte sie; die hätte ich gar nicht nötig, ich werde sie nicht anziehen wollen, und man hätte nicht der Zeit, für mich ume und ane zu springen; ich solle nicht meinen, daß ich hier nur befehlen könne. Ich verlor im Ärger wieder mein Bewußtsein, aus welchem mich der Arzt weckte, der nun, da ich noch nicht sterben wollte, es wieder für tunlich hielt, mit meinem Arm sich zu beschäftigen. Derselbe war fürchterlich vernachlässigt; einige Zeit glaubte man ihn abnehmen zu müssen. Wenn man nicht immer noch gehofft, ich stürbe, so hätte man mich wahrscheinlich nach Bern geführt; so aber fand man es nicht der Mühe wert. Er wurde endlich gerettet; allein, er wird mir steif bleiben.

Da die rohe, brutale Behandlung die gleiche blieb, und ich eben glaubte, die Behörde sei für beide Teile da, so begehrte ich einmal, der versammelten Kommission etwas vorzubringen. Ein Mitglied kam, und auch der Knecht. Ich wurde gefragt, was ich wieder zu räsonnieren hätte. Der Knecht meinte, ich solle meine Sachen jetzt nur sagen, was ich wollte, er wollte dann seine Sachen auch sagen. Und ehe ich noch etwas sagte, meinte das Mitglied: Man kenne söllig Kunde wohl; söllige sig niene wohl; wenn sie a-me-n-e rechte Ort hätte chönne sy, su wäre si nit unter die Rote gloffe. «Bhüet-is, i chenne di gar wohl, du bisch geng vo de ungattlichste eine gsi, und wirst jetz unger dene Hudle alle e ganze Kerli worde sy! Aber du muesch nit meine, du heigisch meh Recht als e-n-angere, u de di förchtet me nit; we me e Söllige förchte wett, me wär bös z'weg.» Nun versuchte ich auch etwas zu sagen, was Manier sei und nicht. Aber da hieß es plötzlich wieder: «Du bisch jetz nit z'Paris, du bisch jetz i üsem Spittel; wärisch dert blibe! Bhüet-is, mir hei di gar nit ume bigert. I gseh jetz scho, wer recht het; du bisch eine vo de Mehbessere; häb dä nume i dr Kur, dä manglet's.» Das war mein Verhör, das seine Frucht. Ich sah, daß unter solchem Regiment gar nichts zu machen, und Schweigen das Beste sei. Dieses wurde mir am schwersten, wenn ich alte, zitternde Leute mit Worten und Werken mißhandeln sah, oder wenn die Frau des Knechts, die ein Gesicht hatte, wie eine Stande voll Sauerkraut, ihr böses Maul hantieren ließ unter den Leuten. Meine Genesung ging sehr langsam vor sich unter solchen Umständen; man kann es sich denken. Erst als das Frühjahr schon hoch am Himmel stand, konnte ich zum ersten Mal die Stube verlassen und an die Sonne mich setzen. Ich sah erbärmlich aus und fühlte auf der Brust und in allen Gliedern eine unbegreifliche Schwäche. Doch war einmal der erste Schritt getan; ich hoffte, bald mehrere zu tun, bald diesen Ort verlassen zu können, weil ich es für unmöglich hielt, mich bei der schlechten Nahrung ordentlich erholen zu können.

Zwei Sachen plagten mich. Erstlich das Habhaftwerden meiner Effekten, über die man mir nicht Auskunft geben konnte oder wollte, und dann die Sehnsucht nach Bonjour. Ich konnte nicht begreifen, warum er nicht geschrieben, und wollte ihm schreiben, sobald es mir möglich war. Endlich glaubte ich den Weg nach dem Dorfe unternehmen zu können, und fragte um Erlaubnis. Ich mußte sagen, was ich unten machen wolle. Nach Briefen sehen, war meine Antwort. Dafür brauchst du nicht hinunter zu gehen; hieß es; es liegen zwei für dich schon lange da. Ich wollte aufbegehren, daß man mir sie nicht übergeben; allein es hieß, man hätte noch an andere Sachen zu sinnen, als an meine Briefe. Dieselben waren offen, wahrscheinlich weil man nicht dachte, daß ich sie je lesen werde, und allerdings von meinem Alten. Derselbe schrieb mir im ersten: Er hätte weder nahe Verwandte noch gute Bekannte angetroffen, scheine auch unwert gekommen zu sein; er wolle nur noch den Leset abwarten und einen Brief von mir, dann werde er wohl zu mir kommen. In einem zweiten beklagte er sich über mein Stillschweigen und über ein angreifendes Unwohlsein, das ihn zwar nicht ins Bett geworfen, aber doch vom Reisen abhalte; deswegen solle ich sobald als möglich ihn besuchen. Der letztere war schon drei Monate alt, französisch geschrieben, und man hatte nicht der Mühe wert gefunden, ihn mir zu übergeben. Man kann sich meinen Unwillen und meine Unruhe denken. Der erstere stieg noch als der Lümmel mich jetzt nicht ins Dorf lassen wollte, und meinte, ich wollte nur hinuntergehen, um die paar Batzen, die ich noch hatte, zu versaufen und ihn zu verbrüllen. Nun erwachte aber die ganze Überlegenheit des Mannes in mir. Mit wenigen Worten erklärte ich ihm, daß er mich verklagen, aber an meinem Gang nicht hindern könne, und durch das Hinterhalten der Briefe hatte er ein Unglück angestellt, das er vor dem Richter zu veranworten hätte. Der Mann war verblüfft; aber nach Art solcher Lümmels verbarg er seine Verlegenheit hinter desto lauterem Brüllen: ich könne seinethalben laufen wohin ich wolle, aber er wolle sehen, wer Meister sei, ob ich oder er; es werde wohl ein Block da sein für mich, schwer genug, ihn nicht ins Dorf zu schleppen. Doch ließ er mich fort.

Mein erster Gang war ins Wirtshaus, um meine Effekten zu suchen. Glücklicherweise traf ich den Wirt, und gleich die rechte Seite. Ich entschuldigte mich, daß ich so lange sein Schuldner geblieben sei, und frug nach meiner letzten Üerti. Er meinte, das hätte nicht pressiert; aber es sei brav von mir, daß ich zu zahlen begehre. Er fand, daß ich gar leid aussehe, und gab mir eine gute Fleischsuppe, die mir wohltätig in alle Glieder drang. Ich wollte schon zutraulich werden und zu klagen anfangen über den Spital und dessen Vorstand; da sah er sich um, ob das jemand gehört, und meinte: Man könne es nicht allenthalben haben, wie man wolle; es seien auch gar allerlei Leute in einem solchen Spitale; er hätte schon manches gehört, allein man rede heutzutage gar viel. Übrigens gehe ihn die ganze Sache nichts an, und was ihn nichts angehe, darein mische er sich nicht. So ging es mir später noch an mehreren Orten. Die Leute erschraken ordentlich, wenn ich vom Spital zu reden anfing, sahen sich um, ob auf hundert Schritte jemand in der Nähe sei, und wenn sie keinen Menschen sahen, so redeten sie doch leiser, so leise als möglich, wahrscheinlich aus Furcht, der liebe Gott möchte es hören. Ich stellte mir vor, gerade so hätten es vor der Revolution die Franzosen mit der Bastille gehabt. Es kam mir aber sehr merkwürdig vor, was man auf dem Lande, und noch dazu in einem freien Lande, mit einer tüchtigen Portion Unverschämtheit, unterstützt von eigennützigen und herrschsüchtigen Menschen für einen Zwang ausüben, die Menschen in Angst und Schrecken jagen kann, auf der einen und auf der andern Seite eine Art Respekt einflößen, in welchem man alles Getane und Gesprochene recht gut und schön finden zu müssen glaubt. Ich sah das aber später noch viel schöner; ich sah, wie Gemeindsbeamtete, zum Beispiel Gemeindsschreiber, mit diesem unverschämten, hochfahrenden Wesen ganzen Gemeinden imponierten, sie verstummen ließen. Ich sah, wie die ehrsame Bauersame am Kreuzer hängt mit Leib und Seele; ich sah, wie solche Beamtete Geld hinter sich zogen, keine Rechnung gaben, mit dem Gelde wirtschafteten, daß es eine Burgerlust war. Ich sah, wie die ganze Bauersame Stück um Stück insgeheim einem ins Ohr sagte, das komme nicht gut, da werde die Gemeinde einisch e Donnerstäsche use näh! Ich hörte, wie selbst höhere Regierungsbeamtete, die doch auch von Amtes wegen etwas zu tun haben werden, trotz ihren geheimen Instruktionen, mit denen sie sich zuweilen bemänteln, ähnliches meinten; und doch sah ich vor hochgetragener Unverschämtheit alles beben, und keiner durfte das Maul auftun, um zu sagen, was Recht und Pflicht war, wozu das Gesetz verpflichtete. Es ist aber eben eine merkwürdige Sache um das Menschenherz, und sehr merkwürdig in demselben zu sehen, für den, der Augen dazu hat, wie sich in ihm Eigennutz, Menschenfurcht, Neid, Bosheit, Heuchelei, Schmeichelei zu einem grausen Knäuel geballt herumbalgen, und bald das eine, bald das andere Ungetüm obsiegt. Endlich frug ich meinen Wirt nach meinem Habersack; derselbe, meinte er, werde noch oben liegen; er habe nicht gedacht, daß ich einen mitgebracht, und glücklicherweise fand er sich noch vor.


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