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In aller Hitze lief ich zu dem Gemeindeschreiber. Derselbe suchte mühselig in manchem Buche herum, fand etwas, wie er sagte, aber nicht alles, unter anderem aber doch den Wollhut, mit dem der Meister als ein Zeichen seiner Freigebigkeit so groß getan, und da es spät war, hieß er mich am Morgen wiederkommen. Nun wollte ich dem Meister über den Hals, und zuerst mit ihm ausgschirren, dann mit ihm rechnen; der war aber schon zu Bette und gab mir auf mein Rufen keinen Bescheid. Mit der quälenden Ungewißheit im Herzen, was ich zu zahlen, wie viel zu ziehen hätte, mußte ich zu Anneli und lud dort meinen Zorn aus, und sprach den Vorsatz aus, morgen keinen Streich zu arbeiten, bis alles im Reinen sei. Anneli weinte aber und sagte, das komme ganz anders, als ich glaube; Lohn werde ich wenig oder gar keinen heraus erhalten, meine Schuld größer sein, als ich denke, und heiraten würden wir uns nicht können; es müsse ein unehlich Kind haben, die Schande ertragen; das habe es aber verdient an seiner Mutter. Es drückte ihm fast das Herz ab, um seines Kindes willen, das nun die Schuld seiner Mutter mittragen müsse. Das gute Anneli klagte mich nie mit einem Worte an, obgleich ich an allem schuld war. Ich wollte anfangs gar nicht glauben, daß es also gehen werde; allein, es behauptete die Welt besser zu kennen als ich, und schon lange gefürchtet zu haben, was geschehen werde. Auf alle Fälle erklärte ich, nicht von ihm lassen zu wollen; könne ich jetzt auch nicht alles zahlen, das Geld werde wohl zu leihen sein, meinte ich. Auch das widerlegte mir Anneli. Niemand würde uns trauen, indem es allerdings viele schlechte Leute gebe, die Geliehenes nie wiederzugeben begehren, und dadurch dem Redlichen böses Spiel machen.
Und wenn die ganze Welt uns verlasse, erklärte ich, so wolle ich Anneli doch nicht verlassen, und wenn wir die Heirat jetzt auch nicht zustande brächten, so wolle ich Tag und Nacht arbeiten wie ein Roß, bis ich das nötige herausgeschlagen. Das Bewußtsein gegenseitiger Treue gab uns Trost, und ziemlich gefaßt konnte ich am Morgen meinem Meister sagen, mit mir in sein Stüblein zu kommen; ich hätte mit ihm zu reden. Er wollte erst nicht Zeit dazu machen, sondern Ausflüchte; als er aber hörte, daß ich keinen Streich arbeiten werde, bequemte er sich. Ich warf ihm vor, daß er mich auf meine Schuld nicht aufmerksam gemacht, und wollte wissen, wie viel ich für fünf Jahre Dienst bei ihm zu gut habe. Er wollte mich wieder auftagen, indem er noch nicht alles zusammengetragen; er wollte mich nicht als Knecht verlieren, und wollte mir doch nichts geben. So ein Stockbauer ließe sich eher schinden, als daß er einem Knecht einen ordentlichen Lohn geben würde; er hat lieber das schlechteste Gesindel; denn ein solcher Stockbauer kennt nur den Unterschied zwischen zehn und zwanzig Kronen, aber nicht den Unterschied zwischen Menschen und Menschen, und wenn er schon die bessere Arbeit des bessern Knechtes gerne hätte, so bringt er es doch nicht über seine hundshärige Natur, sie zu bezahlen. Endlich sagte er, wenn ich es zwängen wolle, so werde die Rechnung wohl bald gemacht sein. Die ersten vier Jahre sei ich noch ein Bube gewesen, der nicht viel anders verdient als Kleider und Speise; er aber habe mir noch viel Geld zwischendurch gegeben, einmal drei Neutaler für eine Sackuhr auf einmal; er habe mir alle Trinkgelder zukommen lassen, welche eigentlich seinen Kindern gehört; somit glaube er, für diese vier Jahre habe ich nur zu viel erhalten; übrigens könne er mir alles zeigen, er habe es aufgeschrieben. Was half mir aber das, konnte ich es doch nicht lesen! Was das letzte Jahr anbetreffe, da habe ich mich gut gestellt und er wolle mir für dasselbe achtzehn Kronen geben; daran habe ich nun bereits zwölf Kronen empfangen, so daß er mir noch sechs Kronen schuldig sei; die könne ich haben, wann ich wolle, ich werde aber nicht weit damit springen.
So hatte ich mir die Sache denn doch nicht gedacht, mir nicht vorgestellt, daß er mich so scham- und herzlos behandeln würde. Ich begehrte auf, erinnerte ihn an meine Dienste, an seine Worte. Und der Bauer verleugnete den Fuchs nicht, sondern gab mir gute Worte, erinnerte an sein Brandunglück, an die übliche Sitte, daß Güterbuben noch einige Jahre auf den Höfen blieben, auf denen sie erzogen worden, versprach für die Zukunft viel; nur solle ich das Mensch fahren lassen, das habe mir einen bösen Kopf gemacht, mich hineingesprengt, und sei nichts wert und verderbe noch mich.
Er hatte aber das unrechte Trom ergriffen; denn in bitterstem Zorn loderte ich auf. Er und seine Frau, die dazu kam, mußten Dinge hören, wie sie mir in den Mund kamen, und wenig fehlte, ich hätte mich damals an ihm vergriffen oder an seinem schäumenden Weibe, das auch nicht ungerne seine Nägel an mir versucht hätte. Ich packte auf der Stelle meine Kleider zusammen und ging hinüber zu Annelis Meister, noch zitternd und kochend in aufgeregter Wut. Derselbe hörte mit Schadenfreude meine Erzählung. Er wußte mir eine Menge Ähnliches zu erzählen, von der Verdrehtheit des saubern Gerichtssäßen, und hieß mich da essen. Nach dem Essen sagte er mir alsobald, nun solle ich um einen Platz aus; er könne und wolle mich nicht behalten; mein alter Meister würde es an ihm sonst zürnen, und er möchte es nicht mit ihm verderben; er sei sein nächster Nachbar, und er möchte nicht, daß er etwas gegen ihn zu zürnen hätte. So geht es: um eines Knechtleins willen, das Unrecht leidet, verderbt ein Bauer es nicht gerne mit dem andern, es sei denn, er hätte seinen baren Nutzen davon; und wie die Bauern sind, sind auch viele Herren. Ich ging zum Müller und suchte Platz. Der tat nicht mehr halb so nötlich mit mir; entweder meinte er, weil ich diesen Augenblick keinen Meister habe, so müßte ich mich drehen lassen, oder er wollte es mit meinem alten Meister nur in dem Fall verderben, wenn er mich um den halben Lohn haben konnte; so konnte ich nichts mit ihm machen, denn ich wollte großen Lohn haben. Gerade so ging es mir auch bei dem Wirte; es war, wie wenn sie es mit einander abgeredet hätten. Ich wollte nicht anbeißen und wurde böse, holte bei dem Gemeindschreiber noch meine Rechnung, die sich auf sechzig Kronen belief, während andere Kinder in der gleichen Zeit nicht die Hälfte gekostet hatten. Bei meinem ersten Kostmeister mußte man zehn Kronen geben, weil mich sonst niemand wollte. Dieser verleidete mich so, daß man beim gleichen Lohn bleiben mußte. Bei meinem dritten Herrn kostete ich ein Unbedeutendes, nur eine kleine Entschädigung für die ersten mir angeschafften Kleider; hingegen bei dem letzten war die Summe fast so groß wie im Anfang. Er hatte es einzurichten gewußt, daß er für die Nachtmahlskleider Geld bekam. Dann hatte er noch Lohn, und drittens waren Arzneikosten, und zwar ordentlich viel, für mich bezahlt worden. Ich konnte gar nicht begreifen für was; denn ich war nie krank gewesen. Endlich erinnerte ich mich, daß wenn eins von der Familie einen Trank trinken mußte, ich den Rest davon bekam oder den zweiten Aufguß, es mochte nun eine Purgaz oder eine Laxierig, ich gesund oder krank sein; aber man wußte mir dieses Schlucken so schön vorzustellen, daß ich mich gern dazu verstehen ließ; denn ich erhielt zugleich immer Birnenschnitze oder dürre Kirschen dazu. Wahrscheinlich gingen alle diese Tränker auf meine Rechnung, und damit man doch behaupten konnte, ich hätte sie genommen, kriegte ich den Rest. Der Doktor, dem dieses hätte auffallen sollen, indem er mich immer kerngesund sah, fragte diesem wenig nach, sobald er nur etwas brauen konnte; und wer weiß, ob er's nicht auch gewußt; er wäre gewissenlos genug gewesen, solche Streiche zu Gunsten eines reichen Bauern auf Kosten eines armen Kindes zu machen.
Man kann sich denken, mit welcher Erbitterung ich den Gemeindschreiber verließ. Ich wußte nicht, ging ich über die Bäume oder unter dem Boden weg. Ich hatte geglaubt, wenigstens fünfzig Kronen ausstehenden Lohn zu besitzen, und nun war mein Glaube ein Traum; dagegen wies man mir eine Schuld von sechzig Kronen, von welchen ich nichts gewußt, und diese Schuld war kein Traum. Sollte ich sie ganz bezahlen und noch dazu Anneli mit einem Kinde erhalten, so könnte es Jahre gehen, ehe wir zwei Eheleute wurden. Da wallte es wieder in mir auf, wie aus einer siedenden Quelle ein heißer Brunnen; ich sah nichts mehr als den, der mich um fünf Jahre meines Lebens betrogen hatte, und meine Hände griffen aus, als wollten sie seine Gurgel packen, und wahrscheinlich sprach ich noch laut dazu. Da redete mich eine bekannte liebliche Stimme an: «Meiß, was isch dr, chennst mi nümme? Herr Jeses wie gsesch us, und was wosch ga mache?» Ich brauchte lange, bis ich wußte, wo ich war, und wer vor mir stand. Endlich erkannte ich Mareili, die mir so lieb gewesene Schwiegertochter auf jenem Hofe, mit welcher ich seither nie geredet, wohl aber sie in der Kirche gesehen hatte.
Sie drang in mich, zu sagen, was es sei, das mich so aus dem Hüsli herausbringe, daß ich tue, als wolle ich jemand ermorden. Ehe sie mich erkannt, hätte sie geglaubt, es gelte ihr; nun wisse sie wohl, werde ich ihr nichts tun, obgleich ich ihr früher auch nicht geborget hätte; aber sie habe mich anreden müssen, weil sie fürchte, ich mache ein Unglück, und wolle jetzt wissen, was ich habe. Ich schnauzte sie an, wenn sie noch glaube und glauben könne, daß ich jenen Streich begangen, so brauche sie auch nicht zu wissen, was ich habe. Sie wäre mir vor allen lieb gewesen, und das habe mich am meisten gedauert, daß auch sie mir ihn zugetrauet; das sei nicht recht von ihr gewesen; sie hätte doch sehen sollen, daß ich ihr alles getan, was ich ihr an den Augen abgesehen.
Auf mehrere Hin- und Herreden versicherte sie, mich für unschuldig zu halten; aber ich solle jetzt reden, sie könnte nicht den ganzen Abend bei mir stehen. Ich erzählte ihr den ganzen Hergang der Geschichte, und erweckte wirklich ihr ganzes Mitleiden, und sie sagte mir: «Meiß, chumm morn zue-n-is, u säg ne de, du heigisch äys nit gmacht, u häb em Großvater a, er müeß dr helfe.» – «Ne nadisch, Mareili, zue-n-ech chum i nit, u dm Großvater häb i nit a; i wott nit no einisch ga ane chneue; wer weiß, ob's öppis hulf, u si mi nit notti sur aluegti. Es meents niemere guet mit mir, als Anneli und villicht du; susch isch alles unger eir Dechi, und eis D... Pack: der Pfarrer, dVorgsetzte u die angere Bure, und ke Schelm verchlagt der anger, u ke Chräye chratzet der angere dAuge-n-us.» – Mareili bat vergebens, sagte endlich, ich habe noch immer den gleichen bösen Kopf, wie vorhin; der werde mich nicht weit bringen; hätte sie Zeit, so wollte sie noch mit Anneli reden, die müßte mich anders brichten, aber mit dem Großvater wolle sie doch reden, daß mir geschenket werde; und wenn ich einen guten Platz wolle, so solle ich nur zu ihres Vaters Bruder nach Y. gehen und sagen, sie hätte mich geschickt, und wenn ich dann eine Gotte mangle, so solle ich nur zu ihr kommen, sie sage es mir nicht ab, wenn ich nämlich nicht zu hochmütig dazu sei.
Mareilis Güte hatte mich gerührt und erweicht. Also einen guten Menschen hatte ich doch noch auf der Welt! Diese Botschaft versüßte auch Anneli das Bittere des andern. Anneli war nicht ganz mit mir zufrieden, daß ich Mareilis Einladung ausgeschlagen; sie meinte, das sei noch lange nicht ane gchneuet, wenn man den Sachverhalt erzähle; einmal seien die Menschen da, um einander zu helfen, und wenn man eines Menschen Hülfe in rechten Dingen nötig habe, so müsse man ihn dafür ansprechen; das sei der Weltbrauch, und heiße noch lange nicht betteln. Die Menschen seien gar selten, welche Freundschaftsdienste aufrichtig anerbieten, wie Mareili es getan. Nun, Anneli hatte recht; aber überzeugen ließ ich mich doch nicht. Möglich, daß der wackere Alte sich für mich verbürget hätte oder mir Geld vorgeschossen, wenn ich meine Sache ordentlich vorgebracht; aber das, was ich eigentlich wünschte, hätte er nicht getan. Er hätte meinem Meister seine Schlechtigkeit nicht vorgehalten, hätte der Gemeinde ihr eigen Unrecht nicht dargestellt, und das Übertriebene der Rechnung. Man sieht das Unrecht wohl ein; aber wenn es von einem angesehenen Menschen gegen einen unangesehenen begangen wird, so muckelt man davon im Stillen und im Rücken; aber öffentlich ins Gesicht und am rechten Orte rügt es selten einer. Ihr Herren und Bauern, solche Muckelmeister sind zu Stadt und Land; aber schämt euch dessen und bessert euch. Wohl gibt es hie und da einen Menschen, der eure Schande nicht teilen, kein Muckelmeister sein will, sondern am rechten Orte, auf den grünen oder hölzernen Bänken, seine Sache vorbringt, der dem Unrecht Unrecht sagt, wo er es findet im engen oder weitern Kreise, bei den von der Gemeinde Besteuerten oder den die Gemeinde Regierenden. Aber es steht dieser Mensch allein; es verläßt ihn die Feigheit; es finden ihn lästig die Männchen mit den breiten Rücken voll Rücksichten; es belächelt ihn spießbürgerlich die Spießbürgerlichkeit, es verfolgt ihn die schlechtgenannte Schlechtigkeit. Er steht allein – und die ihm gegenüberstehende Masse drückt dem Verlassenen das Herz ab!
Auch begehrte ich, nachdem ich einmal wußte, daß die Auferziehungskosten erstattet werden müßten, gar nicht, daß mit mir eine Ausnahme gemacht werde; aber das drückte mich ganz besonders, daß mich niemand auf meine Schuld aufmerksam gemacht, niemand mich zur rechten Zeit an das Abzahlen gemahnt. Auch finde ich es an sich nicht unrecht, daß denen, die aus ihren Säcken zur Erziehung eines fremden Kindes Geld zusammen legen, dieses Geld zurückerstattet werde, wenn es möglich wird. Aber unrecht finde ich es hingegen, wenn in Städten wie Bern, Burgdorf, Büren, Biel ein aus Armengütern erzogenes armes Kind das Empfangene zurückerstatten soll, während die Erwachsenen, Arme und Reiche, aus dem Stadtgut alle Jahre einseckeln. Da ist die Gewalt Meister und nicht das Recht. In einigen dieser Städte fängt die Verpflichtung zur Rückgabe freilich erst nach der Admission an, aber doch noch ehe das Kind etwas gelernt hat.
Aber wo die Gemeinde aus ihrem Sack fremde Kinder erhält, mit dem Rechte, die Schuld einst zurückzufordern, da sollte denn doch Gewissenhaftigkeit bei ihr wohnen; sie sollte bedenken, daß sie einem Kinde eine Schuld entstehen läßt, von welcher es nichts weiß, daß sie also die doppelte Pflicht habe, jeden Kreuzer, um den sie dessen Schuld vergrößert, auf das Gewissenhafteste zu verwenden, so anzulegen, daß er dem Kinde Zinsen trägt, mit welchen es die Schuld leicht zu bezahlen imstande ist, und keinen Kreuzer auf Rechnung zu bringen, bei welchem nicht genau untersucht worden, ob er hieher gehöre, und keinen leichtfertig auszugeben. Und der Staat sollte das Recht haben, jede Anforderung einer Gemeinde niederzuschlagen, wenn die Erziehung eines Kindes körperlich oder geistig vernachlässigt worden; wenn erweislich wäre, daß man nur Kostgelder erkennt, ausgerichtet, aufgeschrieben hätte, ohne um das Kind sich weiter zu bekümmern. Das würde mancher Gemeinde Verstand machen, die bis dahin keinen hat, wenigstens gegen arme Kinder nicht.
Obgleich ich nun nicht hinaufgehen wollte, hielt doch Mareili Wort, und ich vernahm, daß auf ihres Schwähers Verwendung mir ein Dritteil geschenkt worden sei. Freilich war dieses das Gewöhnliche, welches denen, die darum baten, geschenkt wurde; allein darum war es viel für mich, weil mich niemand dazu gebracht hätte, die Gemeinde darum zu bitten. Was auch besser war; denn einige Witzbeutel, vielleicht gar mein alter Meister, hätten sich nicht enthalten können, mir Lehren, Ermahnungen, Stichwörter zu geben; da wäre sicherlich ein Wetter ausgebrochen, das vielleicht mit zerschlagenen Köpfen geendet, und es wäre nicht das erstemal gewesen, daß man sich an einer Gemeinde geprügelt.