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Endlich kam der Abend. Mir schien, als ob seit gestern ein ganzes Jahr verlaufen wäre; eine unendliche Kluft dehnte sich mir zwischen gestern und heute. Als ich fertig war mit Futtern, und ein Lager mir bereitet hatte zwischen meinen Tieren, lehnte ich mich traurigen, schweren Gemütes an einen Baum und blickte hin auf das öde Grab so vieler Dinge. Ich war nicht nur einsam hier im dunkeln Abend, sondern ich fühlte mich allein auf der Welt. Niemand hatte sich heute um mich bekümmert, als ein armer Knecht und einige Neugierige, die wissen wollten, wie es zu- und hergegangen. Meine nächsten Verwandten hatten mich verleugnet; mein Meister, vom Eigennutz überwältigt, nur an sich denkend, hatte seine Rolle gegen mich zu spielen vergessen, mich übersehen, nicht erkannt, was ich für ihn getan; manches, das ich lieb hatte, war dahin: mein Hut, meine Uhr, meine Hemder und meine Kleider; ein Büscheli Geld lag in der Asche. Niemand hatte mich darum bedauert, mit mir mein Leid geteilt, oder mir guten Mut gemacht. Das alles dachte ich nicht, aber ich fühlte dessen Wirkung. Matt und mutlos an Vater und Großmutter denkend, die unter der Erde lagen, mit denen ich hätte reden, denen ich hätte klagen mögen, versank ich in stummes Sinnen, und merkte nicht, daß es Nacht um mich ward, und ein kühler Wind durch das Hemd mir strich. Da legte sich von hinten eine Hand mir auf die Schulter; eine Stimme sprach: «Meiß, sä da hest neuis!» Ein Mädchen drückte mir etwas in die Hand und sprang durch die Bäume hin. Also jemand hatte doch an mich gedacht, und das war des Nachbars Jungfrau, das Anneli, etwa einen Scheibenschuß von uns. Es war kein Mädchen, um das man sich riß, um das die Buben kutterten. Groß war es wohl, aber nicht vierschrötig, hatte auch keinen Kopf wie eine rotangestrichene Kegelkugel, sondern ein länglichtes, schmales Gesicht; es machte keinen Staat, lief weder den Tanzplätzen noch den Märkten nach, und galt für dumm, das heißt es hatte kein schlimmes Maul, das heißt auf unzüchtige Reden und Neckereien wußte es nicht zu antworten, sondern wurde rot.
Ich hatte das Mädchen viel gesehen, aber nicht viel anders mit ihm geredet, als ihm Zeit gewünscht, mich seiner nicht besonders viel geachtet, wie ich überhaupt um Mädchen mich nicht viel bekümmerte. Nun hatte ich von Anneli ein seidenes Tuch in der Hand, und in eine Ecke desselben waren zehn Batzen eingebunden. Ich kann nicht sagen, es sei mir gewesen, als ob ein zweiter Blitz bei mir eingeschlagen, ein elektrischer Schlag mich durchzuckt hätte. Aber wissen möchte ich, wie es der Erde zu Mute ist, wenn in ihren winterkalten Schoß der erste Frühlingsregen fällt, der erste Tau sie tränket; wenn da die Würzlein alle sich regen zum freudigen Leben und die Blümlein gebären, die Augenweide der Menschen. So, denke ich, sei mir zu Mute geworden. Eine sanfte Wärme glomm in mir auf, ein süßer Schauer rieselte mir aus der Kammer des Herzens hinaus durch die Brust; ein immer wachsendes Sehnen wurde geboren, dem Mädchen zu danken, bei dem Mädchen zu sein; wonnige Gefühle, deren Namen ich nicht kenne, knospeten in mir, und die Knospen hoben leise ihr Köpflein auf aus dem kalten Sarge des Herzens, in dem so manches schon begraben, wo nur Moder, Verwesung und starre Totengebeine waren, und die Knospen blühten schüchtern auf, und Blümlein hold und lieblich ohne Zahl wärmten sich im Sonnenlicht aufgehender Liebe, verschämt noch die Gesichtchen in rosigem Taue verschleiert; aus dem Sarge war ein blühend Brautbett geworden. Was in der Erde Tage, Wochen bedarf, das vollbringt ein Menschenherz, wenn die Stunde günstig ist, in Augenblicken. Lange stund ich still am Baume, das Tuch betrachtend in der Hand; und immer dunkler wurde es um mich her, aber immer heller und heiterer in mir. Die Trostlosigkeit war geschwunden. Die Wehmut, das Sehnen nach denen im Grabe war fort; Heiterkeit, Freude, Lust woben sich in mir rasch durch einander, und aus diesem Chaos trat immer deutlicher und immer lieblicher die Gestalt Annelis hervor mit seinen verschämten Augen; ich fühlte ordentlich warm auf der Schulter seine Hand, und wie Orgelton klang es mir immerfort: «Meiß, sä da hesch neuis!» Und ich hatte ihm nicht gedankt! Da ergoß es sich brennend über mein Gesicht; ich hätte mich verbergen mögen in der Erde tiefste Gründe, und schalt mich mit allen möglichen Namen.
Und hin wollte ich, das Versäumte gut zu machen; aber der aufgehobene Fuß wurde durch manche Bedenklichkeit wieder niedergezogen: Wo war es jetzt, war es nicht böse, durfte ich von meinem Vieh weg; was sollte ich ihm eigentlich sagen? Dann trieb es mich doch wieder hin; sehen wollte ich es wenigstens, in seiner Nähe einen Augenblick sein, mich auf irgend eine Weise künden. Endlich zog es mich noch widerstrebend fort; bald schlich, bald lief ich dem Nachbarhause zu, je nachdem ein Gefühl mich bewegte. Vorsichtig umstrich ich das Haus, hoffend Anneli noch beim Brunnen zu sehen; aber alles war stille und schien zu Bette. Ich wußte nicht was anfangen, bis mir einfiel, der Hausmeister und sein Knecht hülfen an der Brandstätte wachen, Anneli sei gewiß in seinem Gaden, und niemand werde mich stören, wenn ich ihm vors Fenster schleiche. Leise stieg ich hinauf; aber oben durfte ich nichts sagen, nicht klopfen; wind und bange wurde mir; viel hätte ich gegeben, wenn ich wieder hinunter gewesen wäre; da mußte ich plötzlich niesen, ein, zwei, drei Mal; über mir öffnete sich das Fensterlein, und Annelis Stimme sagte: «Wer isch da?»
Daß auch das Mädchen in banger Unruhe war, bald sich Vorwürfe machte, sich vorhielt, was ich von ihm denken müßte, dann wieder doch sich freute, und leise hoffte, ich werde doch noch kommen oder doch seiner gedenken, vernahm ich erst nachher. Erschrocken sagte ich: «Nume-n-i», und stotterte verlegen meinen Dank und die Versicherung, ich wolle ihm seine Guttat mein Lebtag nicht vergessen. Anneli meinte, ich hätte ihm gar nichts zu danken, und es hätte gerne mehr gegeben, wenn es mehr gehabt; ich hätte ihm ja einist auch gegeben, als ich mehr gehabt als es. Ich wußte gar nicht, was Anneli damit meinte, und behauptete, ihm nie etwas gegeben zu haben, und mir wurde fast angst, es hätte einmal einen andern für mich genommen. Anneli sagte: «Eh Meiß, chennst mi de Wäger nit ume? es het mi scho lang duret, daß d' nüt zu mr gseit hesch, als guete Tag u guet Nacht; i ha gmeint, du sigisch z'hochmüetig worde. Bsinnst di de nüt meh, vor zwölf Jahre a dr Bettlergmeind hesch mr Wegge gäh, wo mr hei briegget us Hunger? u das ha-n-i dr nie vergesse, u-n-i ha großi Freud gha, wo-n-i di wieder gseh ha, i ha di grad ume gchennt, u-n-i ha mi gfreut, daß mr so nach bi-n-enangere si, aber du hesch mi nit welle chenne, u das het mi mengisch duret.» Das konnte ich nun nicht begreifen. Ich hatte die ganze Geschichte, geschweige denn des kleinen Mädchens Gesichtszüge, rein vergessen; ich wußte nicht, daß in einer Art von Mädchenherzen eine eigene Kraft herrscht, festzuhalten, was je einen Eindruck auf sie gemacht, je reichere Herzen, desto tiefern Eindruck, besonders die Eindrücke der Liebe und Anhänglichkeit. Aber auch Mädchen mit reichen Herzen, um die Reichtum oder Schönheit sich schlingen, oder die im Taumel der Welt sich baden, können die Tiefen eines armen Mädchenherzens nicht ergründen, das in armseliger Einsamkeit hinter dem Spinnrade oder in harten, dienstbaren Verhältnissen lebt, das vielleicht nur einmal in seinem Leben Zeichen der Liebe, wenn auch nur der Gutherzigkeit empfangen; können nicht begreifen, wie tief diese Zeichen sich eingraben, weil sie in so manchen trüben Stunden der einzige Balsam für das verlassene, sehnende oder verwundete Herz werden müssen. Wie mich dieses Erkennen freute, kann ich niemand sagen, konnte es Anneli auch nicht sagen; hatte ich doch nicht geglaubt, daß jemand auf der Welt meiner gedächte, und ein dankbar erkenntlich Herz war mir so nahe! Ich versprach mich über mein Vergessen so gut mir möglich, versicherte, daß ich es nicht mehr vergessen wolle. Unser Gespräch fing bald an zu stocken; mich fror es entsetzlich in meinem luftigen Kleid; Anneli wurde ängstlich, die Meistersfrau könnte unser Geplauder hören. Ich wäre so gerne im Gaden gewesen, um noch manches zu sagen, für das ich nicht Worte finden konnte, und Anneli hätte mich so gerne hinein gehabt aus Erbarmen mit meinem Schlottern, und weil auch es gerne länger bei mir gewesen wäre; allein ich durfte nicht darum fragen, meinte, es sollte mich hinein kommen heißen, und Anneli hielt sich nicht dafür, mir es anzubieten, weil es sich ohnehin schämte und fürchtete, ich möchte es für anlässig halten. Darüber wird nun vielleicht manche Bauerntochter lachen, und manches Knechtlein sich aufblähen und meinen: so dumm wie ich sei er doch nicht; und mancher Erfahrne wird glauben, ich lüge; das sei alles nicht so gegangen, indem ja der Brauch allgemein sei, daß, wo die Buben den Verstand nicht hätten, die Mädchen ihnen denselben machten.
Aber lacht nur, meinet nur, es ist doch so. Ich weiß gar wohl, daß es Schnuderbuben gibt, die noch während der Unterweisung oder gleich nach derselben, wenn sie vielleicht noch nicht sechs Kreuzer verdienen oder nicht über drei Maß Krüsch wegsehen können, in allen Gaden herumschnausen, sich den Eingang erzwingen, durch wüstes Tun, das Mädchen mag sie wollen oder nicht, sich überall blähen, wie Kröten auf den Dunkeln. Ich weiß es gar wohl, daß es Mädchen gibt, die keine Schamhaftigkeit kennen, die nicht geschwind genug das Fenster öffnen können, die nur auf dem Ellenbogen schlafen, damit ja kein Geräusch ihnen entgehe; Mädchen, die hineinkommen heißen, ehe man sie darum fragt, die an Märkten und Tanzeten bitten und betteln, ja sich förmlich an die Kuttenfecken hängen, damit man mit ihnen heim komme; daß es Bauerntöchter gibt, welche die Knechte locken, wenn sie nichts Besseres kriegen können. Das alles weiß ich gar wohl; aber solcher Art waren weder ich noch Anneli.
Freilich ging ich zweispaltigen Herzens fort, warf mir vor, daß ich nicht gefragt ums Hineingehen, und war wieder froh darüber, weil ich gar zu ungerne gehabt, wenn es mir abgeschlagen worden wäre. Die erschöpfte Natur machte jedoch diesen Gedanken bald ein Ende, und ich erwachte erst, als meine hungrigen Kühe mich aus süßen Träumen brüllten. Auch träumerisch verrichtete ich mein Tagewerk. Bald vergaß ich, was ich machen wollte, staunte lange, hörte nicht, wenn man mich rief, lächelte wieder für mich selbst, lief in den Schopf, um mein Halstuch zu betrachten, das ich dort verborgen hatte. Ohne Neid konnte ich sehen, wie reichlich man meinem Meister Steuern brachte, und nicht einmal recht dankbar freute ich mich, als ich von einem alten ehrlichen Bauern eine Kleidung und zwei fast neue Hemden erhielt. Was war dies gegen das Halstuch! Mehr und mehr erwachte in mir die längi Zyti nach Anneli; alle Augenblicke meinte ich, es müsse aus dem Hölzli hervorkommen; und als seine Meistersfrau selbst ihrem Manne das Essen brachte, zürnte ich recht über Anneli, daß es nicht auf irgend eine Weise seiner Frau den Auftrag abgeschwatzt. Aber je näher der Abend kam, desto gelinder wurde mein Zürnen, desto fester mein Entschluß, im Dunkel der Nacht Anneli zu besuchen, sein Stimmchen zu hören, sein Gesichtchen zu sehen. Dieser Entschluß erhob mich. Rasch förderte ich meine Abendgeschäfte, und schon glaubte ich gehen zu können, als es eine Kuh blähte; nun war meine Freude aus. Die Blähung war hartnäckig; sie hielt uns einen großen Teil der Nacht hin; ich mußte mich auf den folgenden Abend trösten. Nach einem langen langen Tage kam wieder der Abend, und die ungeduldige Freude zappelte mir in allen Gliedern. Da fing es an zu blitzen, schwarze Wolken stiegen rings um uns empor; uns alle faßte ein tiefer Schrecken, jedes Rollen des Donners ließ uns erbeben bis ins tiefste Mark hinein. Lange schien es, als sei das Gewitter über unser Haupt gebannt und wolle betrachten, was seine Macht zerstört. Als es vorbei gezogen war und wir wieder Atem schöpften, und ein Gottlob nach dem andern von unsere bleichen Lippen kam, eilte es mit erneuerter Gewalt auf wechselndem Winde zurück, als ob ihm eingefallen wäre, noch zu zerstören, was der Menschen Anstrengung ihm entrissen. Doch unsere Angst fand droben Erbarmen, und eine mächtigere Hand bannte den zuckenden Strahl in den Wolken. Aber es dämmerte bereits der Morgen, und Anneli hatte ich nicht gesehen, und der Kummer: Was wird Anneli sagen, was wird es von dir denken, daß du nicht kömmst, dich nicht zeigst? quälte mein Herz.
Sollte vielleicht ein vornehm Herrlein oder Fräulein in einer langweiligen Stunde sich herablassen, dieses zu lesen, so werden auch sie ungläubig spotten und sagen, das hätte ich in einem Romane gelesen; denn so etwas erlebe und fühle ein Bauernknecht nicht. Und warum denn nicht? Es gibt verschiedene Kleider in der Welt, seidene und zwilchene, aber nur ein Menschenherz; in des Bettlers und in des Königs Brust ist es für Freuden und Leiden empfänglich.
Der Königssohn und das Bettlerkind haben das gleiche Herz für Liebessehnen und Liebesbangen, und wie oft die Sonne untergeht in grausige Wolken, so geht beiden meist die Liebe unter in wüster Sinnlichkeit.
Unter Seiden und Zwilchen stürmen die Wogen der Liebe, und ihre Stürme brausen in den Herzen in ähnlichen Akkorden; aber im Seidenkleide weiß man schön darüber zu reden, läßt Tränen funkeln, Seufzer knallen, Schwüre rollen; im Zwilchenkleide bleibt man stumm, und streicht still und wild durchs Feld. Aber das ist eben das Unglück, daß man allen denen, die unter einem sind, keine Gefühle zutraut, also auch keine Gefühle berücksichtigt, sondern auf ihnen herumtrampelt, wie eine Herde Elefanten auf einem Reisfelde: daß man glaubt, der Knecht sei nur eben Knecht, die Magd nichts als Magd, der Bauer bloß Bauer, der Bürger Bürger; daß man nicht aus jeglichem Kleide den Menschen herauszuwickeln versteht und nach der Liebe Gesetz ihn betrachtet, behandelt; ja, daß man glaubt, der liebe Gott hätte für jede Menschenklasse einen besondern Teig angemacht, feineren und gröberen, gemeineren und vornehmeren.
Am dritten Abend endlich hielt weder etwas auf Erden noch am Himmel mich ab; lange noch ehe, das Licht erlosch, strich ich um des Nachbars Haus herum; der Bauer, der noch in den Stall zündete, schien mir nicht heraus zu wollen, und als endlich alles still ward, wagte ich mich noch lange nicht vor das Gaden, aus Furcht, mich merke jemand. Doch die letzte Gewitternacht gab allen einen gesunden Schlaf, auch Anneli. Ich klopfte mehrere Male, umsonst; glaubend, es wolle mich nicht hören, war ich im Begriff, betrübt zu gehen, als es unters Fenster kam und überrascht fragte: «Meiß, bisch du's, was wotscht?» «Wetsch mi nit e wenig iche lah?» fragte ich endlich stotternd und zagend.
Anneli sagte nichts, öffnete schweigend das Fenster, und zum ersten Male in meinem Leben war ich allein mit einem Mädchen in stiller dunkler Kammer. Lange fand ich Worte nicht. Am Ende fing ich an, ihm noch einmal zu danken, fing allgemach an erzählen zu können, wie seine Gabe mich gefreut, weil ich mich von aller Welt verlassen geglaubt, niemand an meine Not gedacht, wie ich längi Zyti gehabt, bis ich ihm das sagen konnte, aber daran gehindert worden wäre, und nun fast gefürchtet, es möchte böse über mich sein. Anneli freute sich, daß ich seiner gedacht; es hätte sich fast geschämt und geglaubt, ich müßte es für eins jener Meitschene halten, die den Buben Wein zahlen und Kram bringen, und doch sei das wahrhaftig nicht der Fall; es hätte mit keinem Buben etwas. Als es mich aber nach der Brunst so entblößt gesehen, und gehört, daß mir alles verbrannt, hätte es weinen müssen, sei nach Hause gegangen, brütend, wie es mir etwas geben könne. Endlich sei ihm das Halstuch, das ihm früher eine Gotte gegeben, in die Hände gefallen, als das einzige unter seinen Kleidungsstücken, das ich brauchen konnte; das sei auch gar zu wenig gewesen, darum habe es noch Geld eingebunden, damit ich mir selbst etwas kaufen könne. Als es mir die Sachen gegeben, sei ihm plötzlich eine Angst angekommen, daß es habe davonlaufen müssen; es hätte mich schon damals fragen wollen, ob ich es nicht mehr kenne? Ein Wort gab das andere, eine Offenherzigkeit kam über mich, die ich nicht kannte. In herzlicher Traulichkeit erzählten wir zwei Waisen einander unsere Schicksale. Anneli hatte viel mehr gelitten als ich, da ihm seine Mutter, bald nachdem ich es gesehen, gestorben. Verwandte und Meisterleute hatten es vielfach mißhandelt; bei aller Arbeitsamkeit konnte es ihnen nicht genug machen; hatte noch andere Sachen auszustehen gehabt, Nachstellungen des Meisters, eifersüchtige Mißhandlungen der Frau, und nirgends Schutz, nirgends Trost, und nicht den Trotz in der Brust, der mir durchhalf. Wenn es nicht hätte beten können und auf den lieben Gott vertrauen, es würde sein Leid nicht ausgehalten haben; aber seine Mutter habe es an Gott gewiesen, der werde es nicht verlassen, solange es brav und fromm sei, und hier habe es seine Kraft gefunden. Ich begriff das letztere nicht recht; denn bei Gott Trost und Kraft suchen, hatte ich nicht gelernt; wohl hatte man mich zuweilen zum Beten gehalten; aber daß dies das gleiche sei, wußte ich nicht; ich meinte, beten sei halt beten, und weiter dachte ich mir nichts darunter.
Mit Anneli hatte ich ein inniges Erbarmen, fühlte heftigen Zorn über alle, welche ihm wehe getan. In den Fäusten juckte es mich, jenen begehrlichen Meister abzubläuen; schnell frug ich, ob sein gegenwärtiger Meister oder der Knecht ähnliches sich zu Sinne steigen ließen? und auf die Versicherung, daß dies nicht geschehe, mußte es mir versprechen, es mir alsobald zu sagen, wenn es sich einer einfallen ließe, damit ich dem D.... die Beine abschlagen könne. Unter solchen Gesprächen verstrich die Nacht wie ein Augenblick, und Anneli mahnte mich ans Weggehen, bittend, ich solle doch ja hübscheli machen; es hätte gar zu ungerne, wenn man wüßte, daß es einen Kilter gehabt. Ich ging ungern, versicherte ihm noch, mein Lebtag werde ich es ihm nicht vergessen; und wenn ich ihm etwas tun könne, Tag oder Nacht, so werde es meine größte Freude sein. Ich frug noch ums Wiederkommen, und Anneli erlaubte es mir; doch bat es mich, nicht mehr als einmal in der Woche zu kommen, damit die Leute es nicht merken und uns ausführen. Das schien mir gar lange; ich wäre gerne schon morgen wieder dagewesen, allein Anneli war vernünftiger als ich. Es stellte mir frei, in der Woche zu kommen, welche Nacht ich wolle, denn ich würde nie einen andern antreffen; allein mehr wolle es nicht; übrigens gebe es immer Anlaß die Woche durch, daß man sich sehen und ein Wort miteinander wechseln könne; schon wenn man sich nur guten Tag sagen könne, tue es einem wohl. Wir hatten nichts von Heirat, nichts von Liebe gesprochen, nicht ein unzüchtig Wort, nicht einen unzüchtigen Gedanken gehabt, nicht einmal einen Kuß gewechselt; aber unsere Herzen lagen offen voreinander; und ob wir es gleich nicht wußten, daß wir es waren, nahmen wir doch Abrede, gerade wie zwei Verliebte. Ich habe seither erzählen hören, es habe Menschen gegeben, die in großer Herzensangst in einer Nacht grau geworden. Ob es wahr ist, weiß ich nicht; allein, daß in kurzer Zeit eine große Veränderung mit einem ergehen kann, das habe ich erfahren. Stolz schritt ich heim, ich war mir bewußt, nicht mehr allein auf der Welt zu sein; Anneli konnte ich vielleicht helfen, wenn es gequält würde; konnte jemand unter meinen Schutz nehmen, konnte wieder zu Anneli gehen, wenn ich längi Zyti hatte, konnte ihm wenigstens, wenn ich es traf, ansehen an seinen lieben Augen, daß es mich kenne; das alles machte sich mir nicht klar im Kopfe; aber das Gefühl davon hob meine Brust, strömte Freude in mein Herz, strahlte mir aus den Augen. Ich trat viel mannlicher daher als früher, hatte eine innere Lustigkeit, die manchmal ausbrach zu großer Verwunderung derer, die dies sonst nicht an mir gewohnt waren; doch war ich am liebsten allein, pfiff ein Liedchen und sann an Anneli.