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Ich hatte die trübselige Kolonne nicht verlassen, freilich nicht zum Vorteil meiner ernsthafter gewordenen Wunde. Ich war auf einem requirierten Wägelein nachgeführt worden, hatte aber öfter Maroden Platz gemacht, und so mich über Vermögen angestrengt. Zu diesem kam noch eine unglückliche Gemütsstimmung. Unsere Träume, was waren sie? Schaum. Von Napoleon nirgends die Rede. Von Nachtlager zu Nachtlager hofften wir auf Nachrichten, aber umsonst. Anfangs glaubten wir, er sei etwas zu weit weg gewesen, um erscheinen zu können; aber da hätten doch seine Anhänger für ihn geredet, für ihn sich gesammelt; und davon keine Spur.
Wie wir uns drehen und winden mochten, den Glauben an sein Leben, sein Wiederkommen mußten wir nach und nach fahren lassen, und mit ihm all unser Hoffen. So war wieder mein Traumbild für die Zukunft mir zerfallen; eine schwere Gegenwart drückte mich, eine öde Zukunft gähnte mich an. Mein armer Alter litt noch mehr als ich; seine ganze Kraft schien ihn zu verlassen; schwere Seufzer waren Zeugen seiner traurigen Gefühle, und manche Träne sah man stecken in den Furchen seiner dunkeln Backen.
So lange wir in Frankreich waren, hatten wir nichts über unsere Zukunft gesprochen, immer noch Hoffnung hegend. Als wir aber unsere Grenzen überschritten hatten, da mußten wir ausmachen, was nun geschehen solle. Wir beschlossen, jeder solle nach seiner Heimat ziehen, nachzusehen, ob sich dort nicht irgendwo eine Anstellung für ihn finde, welche es möglich mache, daß der andere zu ihm ziehen könnte. Bonjour hatte sein kleines Vermögen, das zum Teil in seiner Heimat angelegt war, zu ordnen; zudem mußte jeder zu Schriften kommen, um allenthalben sich aufhalten zu können. Noch hing es von dem Zustand meiner Wunde ab, ob ich in Bern in den Spital müsse oder heimgehen könne. In Bern, nach einigen Tagen Rast, fand der Wundarzt dieselbe nicht bedenklich, und bei Befolgung seiner Anordnungen glaubte er sie bald geheilt, ohne Lähmung oder merkliche Schwäche. Es war ein traurig Scheiden von Bonjour, ob es gleich kein langes sein sollte. Wir waren jahrelang zusammen gewesen, er mein Vater, ich sein Sohn geworden, hatten in der Gegenwart zusammengehalten und eine gemeinsame Zukunft uns auferbaut; darum tat das Scheiden uns so weh. So oft schon getäuscht, war es, als ob wir es ahneten, daß die Hoffnung baldigen Wiedersehens auch eine Täuschung sein sollte.
An einem schönen Herbsttage, am wolkenleeren Himmel die milde Sonne, auf den Weiden die läutenden Kühe, wanderte ich langsam meiner Heimat zu. Mir war weich, aber wohl ums Herz; die liebliche Luft, das unaussprechliche Heimelige, das aus jedem Zaune, aus jedem Hügel mich anlächelte, gossen einen stillen Frieden über mich aus; eine vertrauungsvolle Ruhe erfüllte mich.
Ich trug freilich nicht Epauletten, keine Ehrenzeichen; aber ich war doch nicht mehr der Gleiche, der die Heimat verließ. Ich war nicht mehr der unwissende, rohe Bursche, der nicht wußte, wie das Land heiße, in welchem er wohnte, der weder seinen Namen schreiben, noch sagen konnte, wie viel 7 mal 7 sei. Ich war mir bewußt, über den meisten in meiner Gemeinde zu stehen und mehr zu wissen, als alle Schullehrer, die mich unterrichtet hatten. Jahre waren über mich gegangen; ich war nicht mehr der brausende, sprudelnde Jüngling; ich war ein Mann geworden. So hoffte ich durch mich selbst, nicht durch Orden, langen Säbel und glänzende Uniform, in meiner Heimat Geltung zu finden; träumte, bald meinem zweiten Vater schreiben, ein ruhig Plätzchen, ein lieblich, sonnigwarm Gärtchen zum Ruheplatz seines Alters ihm anbieten zu können. Ich kam auch nicht ohne Geld heim. So wie mein Alter den Grundsatz von seinem Hauptmann hatte, daß man lernen solle, wenn man auch noch nicht wisse, wofür: so hatte er auch einen zweiten: zu sparen, wenn man auch nicht wisse, für was, für wen. Er meinte, zum Offizier brauche es Geld, und so viel als möglich müsse man vermeiden, mit Schulden anzufangen; erzählte, wie tausend Bursche gedankenlos in der Jugend ein Geld vertäten, mit welchem sie später in der Welt sich hätten forthelfen, etwas anfangen, ein sorgenfreies Alter sich bereiten können. Die meisten derselben gingen später in Not und Elend zugrunde, und manche lange Nacht müßten sie auf ihrem Strohlager unter ihren Hudeln schlaflos sich wälzen und an die schönen Batzen alle denken, die sie leichtsinnig und üppig verschwendet. Darum mußte ich auch sparen, und wenn wir hie und da eine Flasche tranken, so zahlte er sie.
Einige Bankscheine, die fast aussahen wie Lotteriebillets, ließen mich einige Zeit sorgenfrei. In Gedanken war ich fortgegangen; ergrübeln wollte ich, was für ein Geschick mir endlich werden würde. Ein frischer Luftzug weckte mich; ich sah auf und fand mich auf der Ecke des Berges, wo er ins Tal hinab sich senkt. Vor mir lag meine Heimat, am grünen Abhang das ehrwürdige Kirchlein, vor ihm der alte, immer gleiche Fluß mit seinen guten und bösen Launen, um das Kirchlein her die wohlbekannten Häuser, ob wohl noch mit den wohlbekannten Menschen? Tief unten im Tale glänzte in der abendlichen Sonne die Wetterstange auf meines seligen Großvaters Hause; ich sah das stolze Bauernhaus auf der Talwand oben mit seinen glitzernden Fenstern, und vor demselben die Elefanten der Schweiz, die stattlichen Kühe auf der Herbstweide. Ich sah gegen zwei der Schulhäuser hin, wo der Schulbub und der Schulmeister bald in heißem, aber vergeblichem Schweiß über einander schwitzten, bald, und das oft nicht umsonst, über einander gähnten. Da fielen meine Augen ins Tal hinauf; dort war das Haus, wo des Herrn Stimme mich aus dem Schlafe geweckt, und das ich neu erbauen half, und daselbst fast versteckt das alternde Haus, wo Anneli wohnte, wo meine Liebe war, meine Sehnsucht mit hinzog, der Stern meines Lebens auf- und unterging. Ich sah Anneli wieder und die geschwundenen Jahre waren vergessen; ich fühlte neu die alte Liebe, ich erlebte neu die alten Geschichten, mich brannten wieder die alten Leiden, ich begleitete Anneli zum Grabe, und es brach wieder auf die verharschte Wunde, die sein Tod mir geschlagen. Meine Augen brachten seinem Andenken wieder das heilige Opfer des trauernden Herzens, die Tränen, alle aus einer Quelle entspringend, und denn doch Kinder der verschiedenartigsten Empfindungen. Eines aber erwachte in mir nicht, nicht der alte Haß gegen die, welche ich schuldig an seinem und meinem Schicksal glaubte; ich ballte nicht die Faust, fluchte ihnen nicht. Mich ergriff ein süßes Sehnen nach dem verlornen Glück, nach dem lieblichen guten Mädchen bei dem guten Vater droben. Mir entwickelte sich das Bewußtsein, daß der Allgütige sein liebes Kind nach kurzem Leiden hinaufgenommen als seine gereinigte Magd, mich aber einen rauhern, längern Weg geführt zu meiner Reinigung, aber auch an Vaterhand. Ich erkannte in mir die Zeichen seiner Vergebung darin, daß seine Schickungen zu meiner Seligkeit gedient. Ich ergab mich ihm aufs neue und sprach: Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst. Wie hätte ich da zürnen, fluchen sollen denen, die mir Uebels getan, da der mir vergeben hatte, an dem auch ich schwer gesündigt? Ich begriff, daß sie nicht gewußt, was sie an mir getan, daß ihnen das Gefühl gefehlt für die Wunden, die sie mir schlugen, die Erkenntnis der Sünden, die sie an mir begangen. Ich nahm mir vor, versöhnt ihnen entgegen zu treten und die Hand zum Frieden zu bieten. Mein Herz war weit und offen; alle da unten im heimischen Tale hätte es umfassen mögen, und mir ward, als ob Gott mit Wohlgefallen mir zusehe, als ob er aus seinem sichtbaren Auge, der untergehenden Sonne, mir blicke und nicke. Da machte ich mich auf, und bei jedem Schritte pochte mir das Herz in ungeduldiger Erwartung, daß ein bekanntes Gesicht sich mir zeigen, eine bekannte Stimme mir großen Dank sagen möchte.
Knaben trieben die satten Kühe heim, ich kannte keinen. Von den Feldern mit Karsten, Karren, Wagen zogen die Erdäpfelgraber heim zu ihrem gewohnten Erdäpfelschmaus bedächtigen Schrittes, manches Scherzwort wechselnd; aber ich kannte niemand. Junges Volk war es meist, das mich verwundert ansah, mir manchmal bekannt aussah, aber nicht heimgewiesen werden konnte.
Zuweilen war es mir, als ob ich ein alterndes Mütterchen als eine stattliche Frau gekannt hatte, als ob ich einem rundlichten Weibe den Namen zu geben wüßte, wenn es ein schlankes Mädchen gewesen wäre. Ich hatte die entschwundenen Jahre vergessen und ihre Macht über das Menschengeschlecht. Vor den Häusern hin und wieder erkannte ich einen Mann, dessen festere Gestalt dem Wechsel der Jahre widerstanden war. Wie freundlich ich so einem einen guten Abend bot, wie kalt er mir dankte; denn keiner erkannte mich! Endlich trat ich ins Wirtshaus, wo ich so manchen Klapf gegeben, so manchen erhalten hatte. Jedes Stuhlbein heimelte mich an; ein wohltätiges Gefühl kam über mich, daß jene Zeit, wo ich mit den Stuhlbeinen eine so gute Bekanntschaft hatte, dahin sei; doch schenkte der Mann jenen Zeiten und dem damaligen Jüngling freundlich wehmütige Blicke. Auch der Wirt und seine Frau waren alt geworden und kannten mich nicht, sowie keiner der wenigen Gäste. Ich mußte ihnen erzählen von Paris und dem Kampfe daselbst; andächtig hörten sie zu, bis der Wirt mich endlich fragte, wohin ich wolle und wie ich heiße, weil er es aufschreiben müsse. Mir klopfte das Herz, als ich meinen Namen nannte; es klopfte in banger Erwartung, ob freundliche Gesichter mich willkommen heißen würden. Aber fast erschrocken sahen mich die Menschen an: An dich habe ich nicht gesinnet, es hat niemand geglaubt, daß du wieder kommest, hieß es von allen Seiten. Einer nach dem andern schlich sich fort, aus Furcht, ich möchte ihn für etwas, vielleicht für ein Nachtlager, ansprechen; jeder schien schon zu berechnen, daß die Gemeinde einen Tagdieb mehr werde zu erhalten haben. Der Wirt war bald mit mir allein; er wies mich nicht fort, fragte mich nicht nach Geld; allein auf seinem Gesichte war die Angst zu lesen, ich möchte ihm einstweilen allein zur Last fallen. Liebe Leute, ihr wißt alle, was das Heimkommen jedem Menschen, der nicht ganz fühllos ist, für eine Bedeutung hat. Wenn ein Hausvater, der Weib und Kind hat, einen einzigen Tag fort ist, was wünscht er zu Hause zu finden, was zieht ihn heim, wenn er weiß, daß er es findet; was zieht ihn Stunden früher heim und beschleunigt seine Schritte mehr und mehr, je näher er dem Hause kommt? Ist's nicht freundlicher Empfang, sind es nicht freundliche Gesichter? Was versüßt ihm Hitze und Mühe und läßt ihn die Ermüdung vergessen? Freundliche Gesichter! Was macht manchen Menschen unglücklich und stürzt ihn auf immer ins Verderben? Unfreundliche Gesichter, Streit und Schelten, wenn er heimkömmt. Nach der Heimat zieht es alle, und je mehr es einen dahin zieht, desto unglücklicher wird man, wenn man es einem dort nicht heimelig, sondern unheimelig macht. Nun war ich Jahre fort, war wieder in der Heimat, deren Anblick mich heute so glücklich gemacht hatte, fand keinen Ätti, fand kein Müetti, keine Frau, kein Kind, kein einzig freundliches Gesicht, kein herzliches Willkommen, sondern allenthalben den Ausdruck, daß ich unwert heimgekommen, liebe Leute, das tat mir weh, das brannte mir tief ins Herz hinein. Als ich auf meinem Lager war, übermannte mich der Schmerz; ich weinte bittere Tränen, daß in der Heimat mir nur Essig und Wermut bereitet sei.
Mir wollte das Herz wieder in Zorn aufwallen, böse Vorsätze wollten aufkeimen in mir, Mißmut mit meinem Los mich übermannen; ich fühlte mich verlassener als je. Da fing leise eine andere Kraft in mir sich zu regen an, die Kraft des Selbstbewußtseins, das Gefühl des eigenen Wertes; das Vertrauen, von Gott nicht verlassen zu sein, vereinigte sich damit. Beide erhoben mich allmählich über meinen Schmerz. Ich verzieh zum Eigennutz erzogenen Menschen eigennützige Gedanken, verzieh den Vielbeladenen ihre durch andere erzeugten Ängsten, begriff, daß ich in der letzten Zeit eben nicht den besten Ruf hinterlassen haben müsse, fing an, mich zu freuen, nun als ein anderer Mensch erscheinen, sie alle beschämen, ihnen nützlich sein zu können. Ich empfahl meine Wege dem, in dessen Wegen ich wandeln wollte und fand endlich Ruhe.