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Siehe, von allen den Liedern nicht Eines gilt dir, o Mutter!
Dich zu preisen, o glaub's, bin ich zu arm und zu reich.
Ein noch ungesungenes Lied ruhst du mir im Busen,
Keinem vernehmbar sonst, mich nur zu trösten bestimmt,
Wenn sich das Herz unmutig der Welt abwendet und einsam
Seines himmlischen Teils bleibenden Frieden bedenkt.
Mit diesen Worten lehnt Eduard Mörike es ab, die eigene Mutter in Liedern zu verherrlichen. Er hat damit allen unsern Lyrikern das Wort geredet; denn kein Dichter vermag es, den Schoß, der ihn getragen, würdig zu besingen. Auch der größte unter ihnen hüllt sich in keusches Schweigen, so oft er der innigsten Beziehungen zu seinem Vaterhaus gedenkt. Bei dem Mutternamen verstummt auch Goethe. Wohl wandelt die Frau Rat in Verkleidung und Verklärung durch seine Dichtungen; als Götzens Hausfrau, als Hermanns Mutter können wir sie wiedererkennen. Aber kein Lied ist ihr gewidmet, und selbst in »Dichtung und Wahrheit« keine Schilderung. Schon der Leipziger Student, der mit aller Welt wortreich korrespondiert, läßt sein verhaltenes und verborgenes Gefühl lieber mißdeuten, als daß er es zu Papier brächte. Er macht die Schwester zum Dolmetsch seines Empfindens:
Grüß' mir die Mutter, sprich, sie soll verzeih'n,
Daß ich sie niemals grüßen ließ, sag' ihr
Das, was sie weiß, – daß ich sie ehre.
Wären wir also auf des Sohnes Mitteilungen angewiesen, wir würden über die Frau Rat wenig wissen. Aber wohl uns, daß sie selbst sich ein Denkmal errichtet hat, unvergänglicher und lebensvoller, als irgendwer es hätte schaffen können: ein Selbstporträt in ihren Briefen. Diese köstlichen Blätter hat man allerdings bis auf wenige schon längst ans Licht gezogen, zum Teil aber an so entlegener Stelle gedruckt, daß sie für die Mehrzahl der Leser unzugänglich waren. Es ist Zeit, sie einmal zu sammeln und in ihrem ganzen Reichtum reden zu lassen. Katharina Elisabetha, des Stadtschultheißen Textor Tochter, geboren am 19. Februar 1731, schien durch ihre Herkunft aus angesehenem Geschlecht dazu bestimmt zu sein, in den Familienzirkeln ihrer Vaterstadt Frankfurt eine Rolle zu spielen; aber sie war nicht durch eine reiche, anregende Jugenderziehung darauf vorbereitet, dereinst unter den geistreichen Frauen des Landes zu glänzen. Im Gegenteil: ihre Schulbildung erhob sich gar nicht über den gewöhnlichen Durchschnitt; wenn sie zeitlebens sogar mit der Rechtschreibung auf gespanntem Fuße blieb, so entschuldigt sie es humorvoll: »der Fehler läge am Schulmeister«. Auch etwas vornehme Bequemlichkeit, etwas Prinzessentum mag hinzugekommen sein. Und hätte sie nicht den klaren Geist und das wundersame, unbeengte und unbesiegbare Temperament gehabt, so wäre aus ihr wohl nicht viel mehr geworden, als eine der vielen lustigen Frankfurterinnen, über deren Oberflächlichkeit sie später zu klagen hatte.
Denn auch ihr äußeres Schicksal war recht dutzendmäßig: eine Heirat, mehr aus Pflichtgefühl als aus Liebe; ein vermögender Mann ohne Amt und Beschäftigung; und dann Kindtauf und Kindtauf. Der Herr Rat Goethe hätte nur einer der Lebemänner Frankfurts sein müssen, so wäre vielleicht auch die Jungvermählte in den Strudel der geistlos lebensfrohen Kreise der Wohlsituierten mit hineingezogen worden. So aber war sie gebunden an einen schwerfälligen, respektgebietenden, nicht immer liebenswürdigen Mann, der nicht die geringste Begabung und Neigung für das Treiben der eleganten Welt hatte. Wie damals allgemein, viel einseitiger als in späteren Zeiten, der ganze Charakter einer Haushaltung auf die Entscheidung des Hausherrn gestellt war, so ordnete sich auch Katharina Elisabeth den Wünschen ihres Gatten unter. Er verlangte seine häusliche Ruhe, Behaglichkeit und Ordnung, ahnte gar nicht den Egoismus dieser Forderung, und fesselte auch seine Frau, ohne ausdrückliche Befehle, nur durch seine eigne Passivität, mehr an das Haus, als ihr wohl anfangs lieb war. Er verbot die Geselligkeit nicht, aber er erschwerte sie. Und gerade dieses Hemmnis ist der jungen Frau schließlich zum Segen geworden. Sie war mehr als ihre Altersgenossinnen auf sich selbst angewiesen. Bei oft zurückgedämmter Unterhaltungslust bestand die Heiterkeit ihrer Seele ihre schwersten Proben; aber siegreich entwickelten sich die schönsten Gaben der Frau Rat in der Stille ihres häuslichen Kreises.
Dazu trug allerdings Eines ganz wesentlich bei: ihr unerschütterlicher Optimismus, der die Welt lebenslänglich trotz aller fehlgeschlagenen Hoffnungen durch ein rosenfarb und weißes Glas anschaute, er ruhte auf einem Grunde von Granit. Eine heiter-ernste Religiosität war ihr eigen. Und wenn die Frau Rat sich auch nicht gerade als eine regelmäßige Kirchgängerin bewährte, so durfte sie doch, wie später ihr Sohn, sich als ein wahrhaft frommes Gemüt bezeichnen. In allem, was tiefes heiliges Empfinden war, wußte sie sich eins mit ihrem Wolfgang. Seine protestierende Frage freilich »Was wär ein Gott, der nur von außen stieße« würde sie weder verstanden noch gebilligt haben. Für sie war doch der Schöpfer noch eine Persönlichkeit, die das All am Finger laufen läßt, ein fürsorgender, patriarchalischer, unergründlich gütiger, undurchschaubar weiser Vater, und auch ein Pädagog, der des Menschenkindes Flügel unter der Schere hält, der es liebt, Prüfungen zu verhängen, die der Mensch in seiner Kurzsichtigkeit als Unglücksfälle ansieht und die sich hinterdrein in größeren Zusammenhängen als eitel Glück und Wohltat erweisen.
In Frohsinn, der aus ernsten Lebensgrundsätzen erwuchs, erzog Frau Rat ihre Kinder Wolfgang und Cornelia, die beiden einzigen, die ihr aus einer größeren Schar geblieben waren. Wie sie dabei verfuhr, wissen wir nicht. Sie spricht sich als Großmutter und Urgroßmutter einmal lachend jegliches Erziehertalent ab; das brauchen wir aber nicht für bare Münze zu nehmen. Gewiß hat sie bei ihren jungen Jahren lieber mit den Kindern getollt, als ihnen Strafpredigten gehalten. Aber eine ungewollte Autorität muß sie besessen haben. Wir glauben sie noch aus ihren Briefen heraus zu hören, wenn sie ihrem Sohne, der längst der große Dichter und angesehene Staatsmann geworden, zur Seite tritt, als er im Zweifel ist, ob er Weimar verlassen, ob er einen Schöffenstuhl in Frankfurt annehmen, ob er einen ausgedehnten Landbesitz kaufen soll. So wie sie bei diesen Gelegenheiten ihn berät, so mag sie auch dem Knaben und Jüngling schon Zuspruch erteilt haben. Und der Sohn, der den »Vater-Ton« nicht vertragen konnte, hat sicher den Rat der Mutter dankbar angehört.
Als dann die beiden leiblichen Kinder ihr entwuchsen oder in die Ferne zogen, da hat die Frau Rat ihr mütterliches Empfinden auf eine große Schar andrer Jünglinge und Mädchen ausgedehnt. Ja, es waren sogar reife Männer, wie Merck, Wieland, Lavater, darunter, die sie mit der beglückenden Anrede »Lieber Sohn« beschenkte. Auf Alle hat sie ohne merkliche Absicht und Anstrengung den Segen ihrer Persönlichkeit wirken lassen; für alle war ihr brieflicher Rat und oft ihre materielle Unterstützung bereit, für manche auch in der blauen Stube, gleich linker Hand vom Eingang des Hauses, zu augenblicklicher Aufheiterung eine Bouteille »Tyrannenblut« aus dem unerschöpflichen Keller des Goethischen Hauses. So wurde aus der Frau Rat die Frau Aja, die Mutter der reisigen Heymonskinder.
Und nun dehnte sich von der Santa Casa am Hirschgraben der erquickende Briefwechsel aus, von dem wir allerdings für manche Jahre leider nur karge Bruchstücke besitzen. Er zerlegt sich wie von selbst in kleinere Briefkonvolute; jedem Korrespondenten, mit Ausnahme natürlich der Familienmitglieder, ist etwa ein halbes Jahrzehnt gewidmet. Denn es widersprach der unbedingten Wahrheitsliebe dieser ehrlichen und praktischen Frau, einen Briefwechsel, der sich erschöpft hatte und zu dem keine innere Nötigung mehr vorhanden war, in konventioneller Weise nichtssagend fortzusetzen.
In den angeregtesten Jahren beginnen die Briefe. Der Sohn ist noch im Hause und steht im Sonnenschein seines jungen Ruhmes. Frau Rat ist stark beeinflußt von Susanne von Klettenberg, der treuen Herzensberaterin. Da kommt Lavater ins Haus, der Verfasser der »Aussichten in die Ewigkeit«, der ein noch höher gesteigertes Empfinden zu wecken weiß und durch sein seherisches und menschenfreundliches Auftreten die empfängliche Frau ganz gefangen nimmt. Schwärmerische Briefe sind die Folge, aber Briefe zugleich, aus denen doch auch ein paar fremde Züge uns entgegenschauen. Lavaters Art veranlaßt die Frau Rat zu ungewohnter Anspannung: Betrachtungen, die beständig einen Punkt umkreisen, sind dem Wesen dieser gesunden Natur nicht gemäß; auch war Elisabeth Goethe nicht schwächlich genug, um des schweizerischen Propheten dauernd als Beichtigers, Trösters und fernen Beraters zu bedürfen.
Dieselben Dezembertage des Jahres 1774 aber, in denen durch den Tod der Klettenberg alte Fäden zerrissen, knüpften auch die wichtigsten Bande für die Zukunft des Goethischen Hauses. Carl August ist auf der Durchreise durch Frankfurt; und ein Jahr später wohnt Goethe schon in Weimar.
Von nun an wandern die Gedanken der Frau Aja zumeist nach Thüringen hinüber. Sie nimmt teil an den Schicksalen des Fürstenhauses, sucht durch kleine Besorgungen, die sie übernimmt, sich nützlich zu erweisen, freut sich der Ehren, die ihrem Hätschelhans dort am Hofe zu teil werden. Ein Weimarer Zimmer wird am Hirschgraben eingerichtet für alle Gaben der Erinnerung, die von den Ufern der Ilm herübergesandt werden. Schöne Geister gehn bei der Frau Aja ein und aus, Meßfremde und Genies in bunter Reihe vermitteln den Verkehr mit der großen Welt.
Ja, bald widerfährt dem Goethischen Hause sogar groß Heil durch die Einkehr der Weimarischen Fürstlichkeiten selbst. Das leuchtendste Ereignis war natürlich der Besuch Carl Augusts im Jahr 1779. Aber schon ein Jahr früher hatte Anna Amalia sich eingefunden, die der Frau Rat nach ihrer ganzen Eigenart am verständlichsten und vertrautesten sein mußte. Brachte sie doch auch Thusnelde, die lustige Gesellschafterin, mit, zwischen der und Frau Aja es des Lachens und der Neckereien hinfort kein Ende nehmen wollte. Sieht man von einigen Versicherungen der Untertänigkeit ab, in denen der Korrespondentin nicht viel Abwechslung zu Gebote steht, so sind die Briefe an die Herzogin Mutter der reinste Ausdruck des Wesens der noch jugendlichen Frau Rat. Und selbst jene reichlich wiederholten Huldigungen haben nichts Konventionelles, nichts Gequältes an sich, sondern sind der freiwillige Zoll einer ehrlichen Begeisterung. Daß auch dieser Briefwechsel nach wenigen Jahren einschlief, hatte seinen Grund darin, daß die beiden Frauen sich nicht öfter persönlich begrüßen konnten und daß Goethes Interessen sich schon vor der italienischen Reise, dann in Italien selbst in Bahnen wandten, wohin ihm Andre zunächst nicht folgen konnten, so daß auch er zeitweilig vereinsamte. So lange aber der Briefverkehr währte, hat Goethes Mutter Segen auf die Fürstin herabgerufen, die ihr Leben so erhellte.
Denn es sind dunkle Jahre gewesen, in denen sie mit Anna Amalia korrespondierte. Im Hause am Hirschgraben sah es von Jahr zu Jahr trüber aus. Der »Papa« siechte in langsamem Kränkeln und Abstumpfen dahin; und der lebensfrohen Gattin blieb die schwere Aufgabe, den kindisch werdenden, nur noch vegetierenden Alten zu pflegen und zu zerstreuen. Da sehnte sie sich oft nach Besuch und Unterhaltung; da dachte sie an die lustigen Zeiten, an die Kindheit des Sohnes zurück. Sie klagte zwar nicht; aber aus Briefen klingt es doch zu uns herüber: es war recht einsam um sie her. Am 25. Mai 1782 starb dann der Herr Rat.
Und nun verlangte die Natur dieser fröhlichen Frau, der man wahrlich ihre fünfzig Jahre nicht anmerkte, ihr Recht. Ein Stück ihrer Jugend hatte sie überhaupt noch nicht genossen; sie durfte sich noch schmauselustig niederlassen am Tisch des Lebens. Man traute ihr freilich nicht zu, daß sie ihr Vermögen allein würde verwalten können; und in der Tat, rechnen hat sie eigentlich nie gelernt, wie u. a. die Briefe 21 und 151 beweisen; auch das »lage wohl am Schulmeister«. So wollte man sie denn unter Vormundschaft stellen. Aber dagegen protestierte nicht nur sie, sondern auch Goethe und ihr Schwiegersohn Schlosser mit Erfolg. Sie wurde volle Herrin ihres Eigens und ihres Lebens und richtete sich ein nach ihrem Gusto.
Eine gewaltige Leidenschaft für das Theater hatte sie von Jugend auf besessen. Sie liebte die starken Erschütterungen ernster und heiterer Art. Wie sie selbst der vollen Hingabe an die theatralische Illusion fähig war, so verlangte sie das Gleiche auch von dem gesamten Publikum. Wenn Einer im Zuschauerraum, und gar bei einem Goethischen Drama, seine Nachbarn störte: zunichte konnte sie ihn machen mit einem einzigen Blick oder einem Räuspern. Durch jahrelange Aufmerksamkeit hat sie sich ein so sicheres Urteil in allen Fragen der Schauspielkunst erworben, daß die ernstesten Bühnenleiter, auch später ihr Sohn, sie oft um ihren Rat befragten. Denn sie besaß nicht nur ein sicheres Gefühl für den literarischen Wert eines Dramas, sie hatte nicht nur dank ihrer gesellschaftlichen Stellung Kunde von dem Geschmack, der in den leider tonangebenden Kreisen herrschte, sondern sie konnte sich auch herrlich in all die Hoffnungen und Enttäuschungen, das ganze unsichere Dasein des wandernden Bühnenvölkchens von damals hinein versetzen, verstand drum auch so gut alle die kleinen Unzuverlässigkeiten der Komödianten, den freien Ton, die Sorglosigkeit inmitten der Sorgen.
So kam es denn, daß eine Menge Schauspieler Lust und Leben bringend bei der Frau Rat verkehrten, gewiß manche Schmarotzer darunter, aber auch die ersten Künstler jener Zeit. Zwei Männer hat die theaterfreudige Frau auch in ihren Briefwechsel hineingezogen. Noch bei Lebzeiten des Herrn Rat im Jahre 1777 war Großmann erschienen, der Dilettant unter den Theaterdirektoren des 18. Jahrhunderts, dem drum auch nirgends der Erfolg recht hat treu bleiben wollen. Er hatte sich am Hirschgraben durch sein weltmännisches Wesen einzuführen gewußt und die Frau Rat so völlig auf seine Seite gebracht, daß sie ihm nicht nur heimlich mit Darlehen aushalf, nicht nur für seine Familie besorgt war, sondern parteiisch neben ihm und seinen Künstlern überhaupt keine Schauspielertruppe mehr gelten ließ.
Leidenschaftlicher noch waren die Beziehungen zu Karl Wilhelm Ferdinand Unzelmann, der, 1753 geboren, seit 1771 bei der Bühne war und im April 1784 in die Großmannsche Truppe eintrat. Unzelmann war ein außerordentlich begabter, aber wegen seiner Launen stets in Kabalen verwickelter, empfindlicher Künstler, sehr vielseitig und in Rollen zweiten Ranges geradezu ein Genie. Auf ihn, der in Aufgaben höchster Tragik, wie Hamlet, Marinelli, Franz Moor, sich bisher mit wenig Erfolg versucht hatte, suchte die Frau Rat inspiratorisch zu wirken. Kein Zweifel, sie hat seinen Ehrgeiz nach größeren Rollen durch ihren Beifall verhängnisvoll verstärkt; sie hoffte sicher auf eine langjährige künstlerische Wirksamkeit Unzelmanns am Rhein und Main. Er war der tägliche Gast ihres Hauses, der Einzige, so viel wir wissen, der sie mit ihrem Vornamen Elisabeth hat anreden dürfen; und nur in den Briefen an ihn unterzeichnet auch die Frau Rat sich mit diesem Namen.
Aber der Versuch schlug fehl. Das Publikum, gewöhnt an Unzelmanns feine Komik als Figaro, an seine treuherzigen Knappen, seine eleganten Roués, seine schurkischen Subalternen, wollte von seinen tragischen Leistungen nichts wissen. Und so schloß der verstimmte Mime für sich und seine Frau 1788 einen Vertrag mit Berlin ab. In ihrem ganzen Leben ist die Frau Rat nicht so fassungslos gewesen wie bei dieser Nachricht. Sie bot anfangs alles auf, um Unzelmann in Frankfurt zurückzuhalten. Den Abschiedsschmerz hat sie mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Leidenschaft durchkostet; nicht ohne Bitterkeit sah sie die ersten Triumphe des Schauspielerpaares in Berlin. Aber dann machte sie, resolut, wie das ihre Art war, einen Strich unter dieses Kapitel. Sie verwand die Enttäuschung. Verstimmung, Mißverständnisse blieben nicht aus; die Pausen zwischen den Briefen wurden größer, die Anreden kühler. Und binnen Jahresfrist seit der Übersiedelung nach Berlin schwand das Ehepaar Unzelmann völlig aus dem Gesichts- und Interessenkreis der Frankfurter Freundin. Ja, als nun der wetterwendische Künstler eine Rückkehr nach Frankfurt und gar die Übernahme der Theaterdirektion plante, riet ihm die kluge Frau in richtiger Würdigung seines Charakters rundweg davon ab.
Nach diesem Sturm des Jahres 1788 trat für Frau Aja die schöne Beruhigung eines langen glücklichen Lebensabends ein. Heimische, alles Fremde in den Hintergrund drängende Ereignisse nehmen sie ganz in Anspruch: der Krieg, die Auflösung des alten Haushalts auf dem Hirschgraben, der Einzug in die neue Wohnung im Goldenen Brunnen am Roßmarkt. Und dies ist die Zeit, in der nun auch mit dem aus Italien heimgekehrten Sohn eine erneute, reichliche und herzliche Korrespondenz wieder aufgenommen wird. Wie hat sie ihn verstanden; wie richtig hat sie seine zweijährige Reise in ihrer Bedeutung für sein ganzes künftiges Leben aufgefaßt; wie ist sie, wenn man selbst in Weimar sein Verhalten, seine Kühle mißdeutete, nie an ihm irre geworden, sondern stets beflissen, ihn gegen Andre zu verteidigen! Mit welcher Vorsicht hat sie ihm jede Unbequemlichkeit aus dem Wege geräumt! Schon in früheren Jahren hatte sie verfügt, damit der Hätschelhans nicht belästigt werde, solle Philipp Seidel schreiben oder gar dichten; später muß Fritz von Stein, und endlich August oder der Onkel Vulpius an die Stelle treten. Und wie sorgt sie um die Gesundheit des einzig Teuren! Nicht nur die alljährlich wiederkehrenden Sendungen von Kastanien oder von Spaawasser, nicht nur die liebevoll ausgewählten Weihnachtsgaben werden pünktlich besorgt und verpackt; nicht nur die großen Kriegskontributionen, zu denen Goethe als Frankfurter Bürger noch verpflichtet war, zahlt die Frau Rat aus ihrer Tasche; sondern sie hat auch, wo sie es sonst konnte, ihm sein Leben zu erleichtern gesucht. In Weimar liegt noch heute ein winziges formatloses Blättchen mit ein paar still beredten Zahlen, so wenig geschäftsmäßig, so rührend ungeschickt, wie nur eine Mutter es fertig bringt. Darauf steht:
1778. | 700 |
1782. | 888 |
1782. | 1000 |
1785. | 1000 |
1794. | 1000 |
1801. | 1000 |
f 5588 | |
600 | |
f 6188 |
Diese Summe hat mein Sohn empfangen.
Nun wenden sich auch immer häufiger die verschiedenartigsten Menschen an die Frau Rat mit der Bitte, sie möge für sie Fürsprech bei dem Sohne werden; und es ist belustigend zu sehen, wie abwechslungsreich die welterfahrene Frau sich dieser Aufträge entledigt, nicht immer im Sinne des Bittenden, wohl aber zum Besten der Sache.
Die größte Woltat aber für die Mutter waren natürlich die Besuche, die der Sohn seiner Heimat abstattete, besonders der ausgedehnte von 1797. Wie es Goethe damals wohnlich geworden ist am Roßmarkt, wie er sich wieder als Frankfurter gefühlt und die Sprechweise der Mutter sympathisierend aufgenommen hat, das spürt man an seinen gleichzeitigen Briefen und Dichtungen. Ist doch die von der Frau Rat gern gebrauchte Wendung von »Krieg und Kriegsgeschrei« und ihr Lieblingswort »musterhaft« sogar in die damals gedichteten Szenen des »Faust« eingedrungen.
Bei dem ersten dieser Besuche in den neunziger Jahren, dem von 1793, erfuhr Frau Aja auch, daß ihr Sohn seit Jahren in Gewissensehe mit Christiane Vulpius lebe und daß er Vater sei. Sie hat sofort zu dieser längst vollendeten Tatsache die rechte Stellung gefunden. Mit aller mütterlichen Liebe, aber auch mit dem Takt einer vorurteilslos gewissenhaften Frau hat sie sich entschieden: »Ich werde an dein Liebgen schreiben«. Und gleich beginnt sie, zuerst mit kluger Vorsicht, dann mit schnell zunehmender vertrauensvoller Wärme einen Briefwechsel, der für Christiane wie Himmelstau gewirkt haben muß. Alles was Goethes lasches, selbstisch unentschiedenes Tun und was das harte Urteil der Mitwelt an dem armen Geschöpf gefehlt hatte, das hat die Liebe der Mutter und Großmutter wieder gut gemacht. Daß der Sohn sich ein unverdorbenes Mädchen, obzwar niederen Standes, gewählt hatte, und daß ihn Frau Aja in dieser Verbindung glücklich sah, das war das Entscheidende. Wenn sie sich auch erst ganz befriedigt zeigte, als er nach der Schlacht von Jena die Demoiselle Vulpius zur legitimierten Geheimde Rätin von Goethe machte, so hat sie doch die »liebe Tochter« in ihrem Herzen gleich anerkannt und sie zu jedem berechtigten Genuß ihres Daseins ermuntert. Wie klingt es wohltuend, wenn die Siebzigjährige der Vierzigjährigen zuruft: »Tantzen Sie immer, liebes Weibgen, tantzen Sie« und so derselben Lebensfreude das Wort redet, die auch den Sohn an den »Lustigen von Weimar« entzückte.
Wer so jung am Empfinden blieb, der mußte schließlich auch Kindern gegenüber den rechten Ton finden. Und so ist es kein Wunder, daß wir in der Korrespondenz der Frau Rat auch entzückende Briefe an die lieben Enkelein antreffen.
Mit Weimar verkehrte Goethes Mutter in den letzten anderthalb Jahrzehnten ihres Lebens nur noch durch den Sohn und die Seinen. Von hier erhielt sie auch das Wesentlichste von literarischer Anregung. Man darf ihren Geschmack und ihr Urteil natürlich nicht etwa an dem einer Caroline Schlegel messen oder andrer Frauen, die die Beschäftigung mit der Literatur beinahe zum Lebensberuf gemacht haben. Mit schöngeistigen Damen, einer La Roche, einer Elise von der Recke, einer Frau von Staël wollte sie nichts zu tun haben. Frau Rat hat nie eine große Dichtung in ihrem Wert verkannt, nur manchmal ein minderwertiges Produkt zu hoch eingeschätzt. Sie war gar nicht engherzig in ihrem Geschmack. Am liebsten waren ihr phantasievolle, farbenfrohe Dichtungen. Daher stehn ihr von ihrem Sohn die Jugendschöpfungen obenan und die Dichtungen, in denen Kindheitserinnerungen verwertet sind, wie der Wilhelm Meister, von dessen früherer Fassung sie offenbar Kunde gehabt hat. Ihnen zunächst rücken Gevatter Wielands Werke, aus denen sie gern zitiert. Dann aber hat die bewegliche Frau ohne Widerstreben sich auch noch zum vollen Genuß von Schillers großen Versdramen hingearbeitet, die in den literarischen Zirkeln Frankfurts gern mit verteilten Rollen gelesen wurden.
Die letzten Lebensjahre der Frau Rat sind äußerlich gleichförmig, in regelmäßiger Einteilung der Tage hingeflossen. Ihre eherne Gesundheit erlaubte es ihr, Speis' und Trank stets die gebührende Ehre anzutun; ihre auch im Alter noch stattliche Figur liebte sie bei Staatsvisiten festlich herauszuputzen. Lebhafte Geselligkeit war ihr ein unentbehrliches Bedürfnis. Reisen allerdings hat sie nie im Leben unternommen; nur die nächstgelegenen Städte wurden hin und wieder besucht. Mit dem Gedanken, Weimar einmal zu sehen, um dort verjüngt zu werden wie ein Adler, hat sie jahrzehntelang gespielt, ihn aber nie verwirklicht. Warum sie sich fernhielt? Gewiß war es nicht nur Bequemlichkeit, sondern auch noch manches andre: sie wollte ihren Sohn dort nicht stören und mochte auch wohl leise zweifeln, ob sie, herausgehoben aus ihrer heimischen Umgebung, dort unter den Höchstgebildeten der Nation und der höfischen Gesellschaft gute Figur machen werde. Und wozu brauchte sie auch zu reisen? Die Menschen kamen ja samt und sonders zu ihr. Und wenn man ihr von fremden Ländern und Leuten erzählte, so war ihre rege Phantasie vollauf im Stande, ihr den ganzen Genuß des Miterlebens zu gewähren.
So blieb sie durch und durch, ihrem Gesichtskreis nach, und auch gelegentlich in ihrer urwüchsigen Derbheit, eine Alt-Frankfurterin, bewandert in den historischen Überlieferungen der Krönungsstadt, aber auch mitlebend mit den gegenwärtigen Interessen der Bevölkerung, den alljährlich wiederkehrenden Existenzfragen: wie ist die Messe ausgefallen? und wie war der heurige Herbst? Sie hatte ein liebevolles Verständnis für ihre Heimatgenossen, für ihren Leichtsinn und ihr gutes Herz, und war stolz, wenn sie sich opferfreudig, tapfer und patriotisch als echte Reichsbürger erwiesen.
Auch den Wandel der Zeiten unter dem Eindruck der Napoleonischen Umwälzungen verfolgte sie mit offnem Auge. Ein neues Jahrhundert stieg herauf; die Stadt Frankfurt gewann ein ganz verändertes Aussehen; was in Frau Ajas jungen Tagen elegant und vornehm gewesen, verblaßte vor dem Luxus einer jüngeren Generation; freie Promenaden traten an die Stelle der einschnürenden Befestigungswerke; die Judenschaft emanzipierte sich. Aber inmitten all des Wandels blieb die Frau Rat mit ihrem Kanon festgewurzelter Bräuche, mit ihrer anspruchslosen Lebensfreude, und wieder mit ihrer selbstbewußten Grandezza bei feierlichen Repräsentationen eine Vertreterin der alten reichsstädtischen Würde. Sie konnte wohl zu Zeiten über sich selbst lächeln, wenn sie sich so in Wichs warf und in Positur setzte. Aber auch dieser Selbstironisierung lag ein sehr ernstes, stolzes Gefühl zu Grunde: sie durfte es sich erlauben, bald etwas formlos, bald etwas altmodisch formvoll zu erscheinen. Hatte sie doch dem vaterstädtischen Gemeinwesen seinen berühmtesten Sohn geschenkt. Das Wort, das ihr Bettina angedichtet hat bei Gelegenheit des Empfanges der Frau von Staël, Je suis la mère de Goethe, durchklang in der Tat all ihr Denken und Tun.
Bei alledem besaß sie einen Talisman: wie sie von jeher an der bloßen Existenz schöner und froher Menschenkinder ihre Freude gehabt hatte, so behielt sie auch bis ans Ende die Jugend lieb und wußte sie an sich zu fesseln. Es ist von symbolischer Bedeutung, daß in den letzten zwei Jahren Bettina zu ihren Füßen saß, um ihren Erzählungen zu lauschen.
In Lebensfülle ist Frau Aja geschieden. In den letzten Zeilen, die wir von der Hand der siebenundsiebzigjährigen Greisin besitzen, sagt sie, recht zum Zeichen ihrer Unverwüstlichkeit: »Das ist heute der 3te Brief, den ich schreibe!« Und wenn sie für ihres Lebens Abschluß sich gewünscht hat, daß im fünften Akt beim Fallen des Vorhangs applaudiert werden solle, so wollen wir ihr den Gefallen tun, wollen in die Hände klatschen und ein überzeugtes Bravo rufen. Denn eine glückliche Frau schloß am 13. September 1808 die Augen, aber auch eine Frau, die sich dankbar für ihr Glück erwiesen und das Leben sehr geliebt hatte. Als sie fühlte, es gehe zu Ende, traf sie ruhig alle Verfügungen für das Leichenbegängnis und streckte sich dann zur letzten Ruhe.
Aus der Gesamtheit der Briefe der Frau Rat erkennt man erst staunend, wie viel Goethe seiner Mutter an ererbter Anlage und Erziehung verdankt. Wenn sie gemeint hat, es habe bei ihrer Geburt kein Dichtergestirn am Himmel gestanden, so widerlegt sie sich selbst. Ihre Briefe haben wahrhaft künstlerischen Reiz; sie ging sicherlich oft erst lange mit sich zu Rate, ehe sie sich zum Schreiben setzte. Und so ist denn auch ohne die kleinen äußeren Hilfsmittel der Reimprosa oder der Knittelverse Frau Aja in Wahrheit eine Dichterin. Wie sie ein urwüchsiges mimisch-deklamatorisches Talent besaß, so hatte sie auch die Fähigkeit und Kraft, schriftstellerisch zu gestalten. Dramata freilich schrieb sie nicht; aber einzelne Szenen wußte sie prächtig zu dialogisieren und aus einem Einfall ein Dutzend neuer überraschend hervorzuspinnen. Eine Anekdoten- und Märchenerzählerin war sie, der auch das Greisenalter nichts von ihrer Lebhaftigkeit rauben konnte.
Und dazu zeigte sie sich, ohne von ihrer Eigenart das Geringste aufzugeben, verwandlungsfähig im höchsten Maße; die Gabe also, die der Sohn, ehe er seine späten zeremoniellen Formen annahm, so gern verwertete, nämlich im Verkehr mit Andern sich feinfühlig anzupassen, diese Gabe ist gleichfalls als ein Erbteil zu betrachten. Man achte einmal, wie die Frau Rat jeden ihrer Korrespondenten auf seine Art zu nehmen versteht: zu Lavater spricht sie in den Wendungen Klopstocks und der »unsichtbaren Kirche«, der Stillen im Lande; die Briefe an Krespel sind festgehaltene Stadt- und Familiengespräche, die an Unzelmann verraten ein wenig von dem Tonfall der chronique scandaleuse der Kulissen, die an Bettina stimmen in den schwärmerischen Ton dieses Mädchens ein. Und so hat jede Sonderkorrespondenz ihr eignes Ansehen, so daß selbst nach jahrelanger Unterbrechung die Frau Rat unfehlbar sicher wieder zu den gleichen Anrede- und Grußformeln greift.
Ein so beweglicher Geist war sicher vor dem Verrosten und vor Unzufriedenheit. Ja, er hatte von seinem Reichtum noch übergenug an Andre abzugeben. Frau Ajas Humor, ihr Talent sich zu freuen und Freude zu verbreiten, ihr klarer Überblick über die Verhältnisse ihrer Umgebung und ihre Ruhe, die aus Erfahrung floß, verschafften ihr ein unbeabsichtigtes Übergewicht über Andre. Sie verstand es, genau wie der Sohn, durch Teilnahme das Beste aus den Menschen herauszulocken und durch Lob Jedermanns Leistungen zu steigern. Denn sie hatte ihre Mitmenschen unendlich lieb, die vergnügten vor allen. »Fröhlichkeit ist die Mutter aller Tugenden«, das ist so einer ihrer Leitsprüche. Die Duckmäuser, die unter sich sehn, die Kopfhänger und Verdrossenen, die Goethe in seinen »Geselligen Liedern« abgestraft hat, sie konnte auch Frau Rat nicht leiden. Träumte sie sich in die Rolle einer Herrscherin hinein, so mußte ein lustiger Hofstaat sie umgeben.
So bleibt sie jung und lebendig durch alle Zeiten. Dasselbe Schicksal, das sie an ihrer Freundin Susanne von Klettenberg preist, die noch nach ihrem Tode durch die »Bekenntnisse einer schönen Seele« Gutes gestiftet habe, dasselbe Schicksal ist auch ihr Teil. Etwas von der alttestamentlichen Verheißung, die Gott dem Abraham gab, ist an ihr wahr geworden: »Und sollst ein Segen sein«. Denn wo man die Briefe der Frau Rat aufschlägt, überall geht eine beglückende Wirkung aus von dieser Spiegelung einer reinen und starken Persönlichkeit.