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60. Kapitel

Zweiter Besuch bei Kantor Friedemanns – Erfreuliche Nachrichten über Karla – Ein Zettel liegt auf dem Tisch

 

Ich sehe noch die Gesichter der Familie Lindstaedt vor mir, als ich ohne viel Weiterungen nächtlich in ihre Stube fuhr, in der sie schon zu Bett lagen. Es verschlug ihnen ordentlich die Rede, als da der verschollene, der verbannte Schloßherr plötzlich leibhaftig zwischen ihnen stand, über den sie wohl Tag für Tag in aller Unschuld orakelt und spektakelt hatten.

Aber ich ließ ihnen nicht viel Zeit zum Besinnen; wegen der Bauerei hockten sie alle in einer Stube zusammen, und so suchte ich mir selbst das älteste und am vernünftigsten aussehende Mädel, nötigte es aus dem Bett und in die Röcke, erfragte, wo wohl Fahrräder zu finden seien, und radelte schon auf der Straße nach Langleide, ehe sie noch recht zu dem Entschluß gekommen waren, mir wenigstens diesen Weg als ganz unstandesgemäß abzunehmen.

Vor sechs Wochen hätte es mir noch einer erzählen sollen, daß ich eines Tages wieder auf einem so vorsintflutlichen Gerät wie einem Fahrrad Landstraßen entlang trampeln würde, ich, der (un)glückliche Besitzer des rotlackierten Satan! Jetzt machte es mir das allergrößte Vergnügen, und wenn mich etwas wunderte, so war es nur, daß ich bisher noch nicht auf den Gedanken gekommen war, mich zu erkundigen, was eigentlich August Böök mit dem roten Deubel angefangen hatte, ob neu lackiert oder verkauft.

Er wird ihn aber schon verkauft haben! dachte ich bei mir. Sonst wäre er längst wieder da!

Und ich empfand nicht einmal Bedauern, so unecht waren auch die echtesten Freuden meiner Millionärszeit gewesen!

Jedermann weiß, man hat es nicht nötig, von Gaugarten nach Langleide mit dem Auto zu fahren, denn die Weglänge beträgt nur 3,8 Kilometer. Karla und ich waren die Strecke sogar schon zu Fuß gegangen. Damals hatte Schnee gelegen, heute war die Straße glatt und trocken. In zwölf Minuten schaffte ich es ohne Mühe.

Immerhin war es fast elf Uhr, als ich in Langleide ankam, und um diese Stunde schlafen die Langleider alle. Kein Licht war zu sehen, die Nacht war schwarz, und schwer fiel mir auf die Seele, daß ich keine Ahnung hatte, wo die Hebamme wohnte. In dieser Not geriet ich auf unsere guten, hilfreichen Kantorsleute, die ich zu Unrecht so lange vergessen hatte, fand das Haus rasch und klopfte entschlossen gegen das Schlafstubenfenster.

Alte Leute haben einen sachten Schlaf. Sofort war der Kantor am Fenster und fragte, was sei. Die Hebamme würde gebraucht, sagte ich, ohne mich zu erkennen zu geben, wo sie wohl zu finden sei?

Dies war mehr eine Frauensache, hinten im Bett rauschte es, und die Kantorin fragte, wo denn die Hebamme gebraucht werde?

In Gaugarten, sagte ich.

Ich sei aber wohl nicht aus Gaugarten, da ich nicht wisse, wo die Hebamme wohne, fragte die Kantorin.

Wo die Hebamme wohne? fragte ich den Kantor.

Das sei in der Nacht für einen Dorfunkundigen nicht leicht zu finden, meinte der Kantor.

Meine Stimme komme ihr aber bekannt vor, überlegte die Kantorin.

Es sei Not an der – Frau, erklärte ich. Sie möchten mir doch schnell Bescheid sagen.

Fünf Minuten solle ich mich nur gedulden, bis er angezogen sei, dann werde er mir den Weg zeigen, schlug der Kantor vor.

Ich werde ihn schon allein finden, wenn er ihn mir nur erkläre, beharrte ich, denn ich wollte nicht gerne erkannt sein.

Die Kantorin löste den Knoten, sie rief: Das ist ja der junge Herr Schreyvogel aus Gaugarten, Mann! Gott, ist es schon so weit mit Ihrer jungen Frau? Sie meinte doch erst im November –?!

Ich beschwor den Kantor flüsternd, mit möglichster Eile in die Hosen zu fahren. Während er dies tat, klärte ich die Kantorin darüber auf, daß es dieses Mal noch nicht um Karla, sondern um Hanne Lindstaedt ging.

Frau Friedemann schwieg eine Weile. Ich hörte ordentlich, wie sie beleidigt im Bett schnaufte. Dann sagte sie fast weinerlich: Was das wohl für eine Welt ist, in der die Ehemänner für die ledigen Kinder der jungen Mädchen die Hebamme suchen gehen. In meiner Jugend war das anders, und Sie haben uns auch nicht einmal hier besucht, Herr Schreyvogel, so oft wir Sie mit dem Auto haben durchfahren sehen!

Sie besann sich und sagte sanfter: Aber Sie haben eine gute Frau, Herr Schreyvogel; keine Woche, in der sie nicht mindestens einmal bei uns eingesehen hat. Und jetzt baut sie ja sogar für die Leute – es war auch an der Zeit, daß was für die Gaugartener geschah – wenn es nur nicht zu fein für sie wird!

Der Kantor war fertig und befreite mich von meinem Schmähplätzchen am Fenster. Ehe wir noch gingen, rief uns die Kantorin zu, ich müsse vor dem Heimweg noch zu einer Tasse Kaffee kommen. Damit es nur rasch ging, gab ich mein Ja.

Der Kantor war ein sachterer Mann. Er erkundigte sich nach dem Mädchen Hanne, dann nach dem Administrator, dann nach dem Gut – alles Dinge, über die ich ziemlich ohne Stocken Auskunft geben konnte.

Bei der Hebamme ging es rasch. Sie hatte wohl alle in der Gegend zu erwartenden Geburten im Kopfe parat und fand es passend, daß Hanne gerade jetzt in einer ruhigen Zeit kam. Manchmal sei es geradezu verhext, dann schienen sich alle auf eine Woche oder gar auf einen Tag verabredet zu haben.

Mich erkannte sie nicht im Dunkeln, wenn sie mich überhaupt kannte. Ich schnallte ihr die Tasche auf den Gepäckträger ihres Rades, und wir sahen sie abfahren – gleich hatte sie das Nachtdunkel verschluckt.

Ja, sagte der Kantor, jetzt wird Malchen ihren Kaffee ziemlich fertig haben. Aber wenn es Ihnen verquer ist, Herr Schreyvogel, so finde ich schon eine Entschuldigung.

Ich sagte, es sei mir nicht verquer. Mein Gewissen sei auch ohnedies schlecht genug, daß ich sie so lange vergessen hätte ...

Ich weiß, meinte der Kantor warnend, wie sehr mein Malchen jemanden in aller Unschuld mit Fragen und Klagen piesacken kann. Aber sie meint es nicht bös. Und Sie beide hat Malchen seit jenem Weihnachtsbesuch immer besonders gerne gehabt ...

Als wir aber wieder bei den Friedemanns ankamen, war nicht nur der Kaffee schon fertig, sondern auch das Piesacken. Vielleicht hatte sie gedacht, daß ich mein Versprechen wegen ihrer spitzen Reden vorhin nicht halten würde, und ließ es nun gut sein, weil ich Wort gehalten hatte. Wir saßen noch eine ganze Stunde beisammen und redeten von Land und Leuten und dem Besuch damals und von August Böök und dem Bürovorsteher Fiete und dem alten Steppe. An die neuere Zeit rührten wir vorsichtig nicht, und das war mir ein Zeichen, daß die beiden Alten etwas wußten. Es konnte bei dem Geschwätz, das in der Gegend im Umlauf war, ja auch gar nicht anders sein.

Als ich schließlich ging, legte mir die Kantorin ans Herz, mich nur nicht mit meiner Rückkehr zu beeilen, ich würde den Frauen bei ihrem Geschäft nur im Wege sein.

Ich hatte in einem Reisebuch von einem wilden Volksstamm gelesen, wo die Frauen die Geburt in einer Viertelstunde erledigen, dann aber, als sei nichts geschehen, wieder an ihre Geschäfte gehen. Der Mann aber lege sich dort ins Bett oder auf die Matte, werde krank, stöhne und ächze vor Schmerzen und werde sorglich gehegt und gefüttert. Davon erzählte ich der Kantorin.

Sie lachte sehr und meinte, bei uns benähmen sich die Männer auch nicht anders, wenn man sie nur in die Nähe einer Geburt lasse. Dann aber sah sie mich voll an und sagte: Aber Sie sehen gut aus, Herr Schreyvogel. Sie haben ja ordentlich Farbe im Gesicht und hellere Augen bekommen. Ich habe auch immer auf Ihre Hände sehen müssen – damals hatten Sie so blasse, dünne Fingerchen, und jetzt sehen sie aus, als könnten sie eine richtige Arbeit tun!

Ich bestätigte lachend, das könnten meine Hände auch. Worauf Frau Friedemann rasch und flüsternd, als erzähle sie mir ein Geheimnis, berichtete, meine Frau sähe übrigens auch glänzend aus, trotz ihres Zustandes, nicht zum Wiedererkennen. Das mache sicher all die Bauerei. Hoffentlich sei falsch, was die Leute erzählten, sie habe sich ein bißchen mit dem Gelde übernommen ...

Ich lachte und sagte ihr, was sie (um Karlas willen) gerne hören wollte, nämlich, daß die Leute immer viel reden. Ich höre alle Tage wie sonst das Hämmergepoch und das Knallen der Fuhrmannspeitschen, die stets neue Fuhren Mauersteine und Dachziegel und Mörtel heranbrächten. Sie solle sich keine Sorgen machen.

Damit verabschiedete ich mich und versprach, bald wiederzukommen, diesmal aber in allem Ernst. Ich fuhr auch nicht gleich nach Haus, als ich draußen in der milden, reifen Spätsommernacht war, sondern führte mein Rad sachte über viele Waldwege und zwischen manchen dunkel reifenden Feldern hindurch.

Das Herauskommen aus dem engen Pförtnerhaus in die weite Welt hatte mir gut getan, und die Unterhaltung mit den beiden alten zutunlichen Leuten war noch besser ausgefallen: ich fühlte mich wohl und jung!

Nicht mehr hatte ich wie damals als reicher Mann das Gefühl, ich habe eigentlich nichts mehr zu tun in der Welt, keine Arbeit und keine Aufgabe, weil ich nämlich so viel Geld hatte. Sondern ich hatte einen Mut im Leibe, und einen Appetit auf Arbeit, daß es gar nicht zu sagen war!

Während ich so die nächtlichen Wege ging, schwor ich mir zu, daß es nun schon in allernächster Zeit mit dem bloßen Aufräumen und Saubermachen ein Ende haben müsse. Ich fing schon an, allerlei Pläne zu schmieden, was ich wohl angreifen möchte. Freilich war klar, daß am Anfang all dieser Dinge eine rückhaltlose Aussprache mit Karla stehen müsse. Aber ich hatte so eine Ahnung, als ziehe diese Aussprache auch ohne mein Zutun immer näher ...

So kam ich höchst aufgeräumt zu Hause an. Nur noch in der Pförtnerstube brannte Licht, es ging schon gegen Morgen, alles war still. Ich wollte nicht stören; auf Socken, die Schuhe in der Hand, tastete ich mich auf mein Zimmer, und als ich dort Licht anmachte, lag ein Zettel auf meinem Tisch: Ein Junge!

Das freute mich sehr. Die Hanne mußte daran gedacht haben, mir diesen Zettel aufs Zimmer legen zu lassen, was zeigte, daß ich wieder besser mit der Welt zurechtkam. Denn wenn die Menschen wieder anfingen, freundlich zu mir zu sein, so mochten sie mich auch gerne. Mochten sie mich aber gerne, so war ich nicht mehr so schlimm, wie ich gewesen.

*

 


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