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Vorweihnachtliche Kümmernisse – Geldknappheit und Fluchtpläne – Die Bettelbriefe – Ein Mann wünscht Unheil
Über all diesen Erlebnissen war das Weihnachtsfest recht nahe gerückt. Es hatte sogar schon zweimal geschneit, wenn sich der Schnee auch nicht gehalten hatte. Karla und ich sprachen oft von diesem kommenden Weihnachtsfest. Uns graute bei dem Gedanken, es im Palasthotel feiern zu sollen.
Ich wagte eine Andeutung beim Justizrat. Er verstand mich aber falsch, also stimmte er mir zu. Ja, es sei eine Plage mit diesen Festen, vor Neujahr komme das Steueramt bestimmt nicht wieder richtig in Gang, unsere Sache würde sich nun wegen dieses Festes als ›Rest‹ ins neue Jahr hinüberschleppen.
Karla klärte ihn über unsere wirkliche Meinung auf. Der Justizrat war sehr überrascht. Die Hutapschen Junggesellenweihnachten im großen Speisesaal seien weithin berühmt; er werde es bestimmt auch für uns Verheiratete reizend machen.
Ich sagte dem Justizrat energisch, daß wir ganz und gar nicht im Hutapschen Saal unter lauter Junggesellen zu feiern wünschten, nicht einmal solo in unserem Salon.
Der Justizrat gab zu, dies Weihnachtsfest sei zweifelsohne ein Problem. Nicht nur meine eigenen Angestellten, sondern auch die Angestellten des Hotels würden Geschenke von mir erwarten. Am richtigsten sei zweifelsohne bei allen Geld. Er werde Herrn Matz beauftragen, eine Vorschlagsliste aufzustellen. Über die Höhe der einzelnen Summe könnten wir ja dann noch reden ...
Ein wenig hitzig erwiderte ich, daß uns im Augenblick das Weihnachtsfest der anderen völlig schnurz sei. Es ginge uns um das eigene Weihnachtsfest!
Der Justizrat seufzte. Nun wohl, diese Schenkerei sei ja leider Mode. Er würde also den Kanossagang zu Obersteuerrat Neumann gehen und Freigabe unseres Bankguthabens beantragen bis zur Höhe von – ob uns dreitausend Mark für Privatgeschenke genügen würden?
Noch hitziger versicherte ich, daß mir dreitausend Mark piepe seien! Daß wir nicht bei Hutap feiern wollten! Daß wir für uns feiern wollten, irgendwo, in aller Gemütlichkeit, nicht als bestaunte Millionäre, sondern ganz privat. Allein, Herr Justizrat! Unseretwegen mit zwanzig Mark! Aber ganz allein! Ohne Kiesow! Ohne Matz! Ohne Hutap! Ohne Fridolin!
(In Gedanken: Ohne Sie, Justizrat!)
Der Justizrat lächelte. Natürlich, natürlich, er verstand schon ... Aber wo in aller Welt wir denn feiern wollten, wenn nicht hier? Etwa in Gaugarten? In Gaugarten waren sie, soviel er unterrichtet sei, beim Ausbessern der Zentralheizung. Gaugarten sei unmöglich! Aber er verstehe schon, ja doch, er verstehe vollkommen, er werde durch seinen Fiete allen im Hotel einen Wink geben, daß wir an diesem Abend ganz für uns sein wollten ...
Es war nichts zu machen, um keinen Preis wollte er die Zügel, an denen er uns hielt, locker lassen. Wir blieben zurück, geschlagen. Aber nicht besiegt. Wir waren entschlossen, diesmal wider den Stachel zu löcken. Wir wurden lebendiger. Wir planten, einfach auszureißen, und nicht nur für den Weihnachtsabend, nein, gleich für drei, vier Tage! Schließlich waren wir freie Menschen, auch als Millionäre mußten wir tun und lassen können, was wir wollten ...
Wenn am Weihnachtsabend das Zimmermädchen unsere Betten abdeckte, würde sie einen Brief darin finden: Abgereist! Aufenthalt unbekannt!! Rückkunft irgendwann!!!
Wir kauften uns eine Wanderkarte, und wenn wir jetzt abends allein waren, suchten wir auf der Karte Orte aus, die uns abgelegen genug schienen. Schließlich entschlossen wir uns für ein Dorf mit Namen ›Langleide‹. Der Name klang vielleicht nicht sehr ermutigend, aber wir waren ja nicht abergläubisch. Jedenfalls lag Langleide acht Kilometer von der nächsten Bahnstation (Kleinbahn) entfernt, mitten im Walde.
Und wenn es dann noch geschneit hat, Kerlchen.
Herrlich, Maxe! Ich sehe uns schon durch den verschneiten Wald laufen! Die Mücke wird jubeln!
Wir werden uns abwechseln müssen. Jeder trägt einmal den Handkoffer, einmal die Mücke. Acht Kilometer durch Schnee sind für sie zu weit. Das macht mir keine Sorge. Nur, wenn wir dann am ersten Feiertage losgehen nach –
Jawohl, wir hatten Langleide noch aus einem zweiten Grunde gewählt, wir hatten noch einen anderen Grund, uns auf unsere Flucht zu freuen. Aber ich darf nicht alles vorher verraten ...
Als Justizrat Steppe mit der Nachricht zu uns kam, das Steueramt habe die Freigabe auch nur eines Bruchteils von unserem Bankguthaben abgelehnt, betrübte uns das gar nicht.
Der Justizrat war der juristisch fundierten Ansicht, die Herren wünschten uns auszuhungern. Sie hatten uns ein Ultimatum gestellt, das wir bis zum 31. Dezember annehmen sollten: zwei Drittel der Bankguthaben, also etwa vierhunderttausend Mark, als Anzahlung auf die Erbschaftssteuer, der Rest als Hypothek einzutragen, abzahlbar in fünfzehn Jahren ...
Ich fand diesen Vorschlag ganz annehmbar und sagte dies dem Justizrat auch. Aber der Justizrat lächelte Hohn.
Wir lassen uns nicht aushungern! Nur Geduld, meine jungen Freunde! Die Herren sollen sehen, daß wir nicht nachgeben. Herr Matz wird Ihren Angestellten sagen, daß die Weihnachtsgratifikationen erst nach der Erbregulierung gezahlt werden. Und was Ihre eigenen Weihnachtsgeschenke angeht ...
Er dachte nach, er kämpfte mit sich. Dann: Sagen Sie mir die Geschäfte, in denen Sie zu kaufen beabsichtigen. Fiete wird Ihnen Muster schicken lassen, wir werden Ihre Geschenke auf laufende Rechnung entnehmen.
Wir sagten dem Justizrat, daß wir uns wegen der eigenen Geschenke noch nicht entschlossen hätten. Wir logen ihn glatt an, mit eherner Stirne. Wir hatten, heimlich wie die Indianer auf dem Kriegspfade, einen Besuch bei jener kleinen Bank gemacht, auf der Mücke ein Sparbuch hatte. Wir hatten dreihundert Mark abgehoben, hundert für Geschenke, zweihundert für ›unser Fest‹.
Aber, wie immer, fingen mit dem Geld, das wir doch nie hatten, die Schwierigkeiten an. Wie sollten wir die Geschenke kaufen? Wie sie ins Hotel schmuggeln, dort verbergen, wieder herausbringen? Wie in aller Welt sollten wir überhaupt unsere Sachen herausbringen? Wir hatten keinen Menschen, dem wir uns anvertrauen konnten!
Es hatte so einfach geklungen: wir reißen aus! Wie aber dem Fräulein Kiesow die Mücke entführen? Wie mit ihr aus dem Hotel herauskommen?
Tausend Schwierigkeiten, und je genauer man es überlegte, um so unmöglicher erschien alles. Wir bekamen keinen rechten Schwung in die Vorbereitungen. Außerdem hatten wir je länger je mehr das Gefühl, daß Steppe und Matz uns beargwöhnten. Dies Gefühl war völlig unbegründet, wie sich nachher herausstellte. Aber, wenn auch unbegründet, lähmte es uns jetzt doch.
Dann aber trat ein Ereignis ein, das unseren Entschluß stahlhart machte.
Zu meinen wenigen Tagespflichten gehörte das Durchsehen der Matzschen Post. Diese Post nun war eigentlich, so imponierend sie auch ihrem Umfang nach aussah, völlig bedeutungslos. Das wirklich Wichtige wurde durch den Justizrat Steppe, das laufend Geschäftliche auf dem Gutsbüro in Gaugarten erledigt. Was mir Herr Matz zur Unterschrift vorlegte, waren fast nur Antworten auf Darlehensgesuche, Bewerbungen, Erfindervorschläge – kurz gesagt: auf Bitt- und Bettelbriefe.
Kein Mensch, der es nicht einmal selbst erlebt hat, kann sich eine Vorstellung davon machen, wieviel Tausende von Briefen dieser Art bei uns eingingen, wie jede Post eine neue Welle der verschiedenartigsten Vorschläge, der erschütterndsten Hilfeschreie zu uns heran trug. Wir merkten es immer am Anschwellen dieser Post, wenn wieder ein anderes Blatt unser Bild oder einen Bericht über die jungen Millionenerben gebracht hatte.
Der wollte Gummistiefel, Größe vierundvierzig, um eine Arbeit als Grabenräumer anzunehmen; dem fehlten sechzig Mark Miete, sonst würde er mit seiner Familie auf die Straße gesetzt; der hatte, wie mein Vetter Friedrich Karl, in die Kasse gegriffen und verlangte telegrafisch tausend Mark: bittend, überredend, drohend, frech, kriechend hielten alle Tage alle menschlichen Nöte ihren Einzug bei uns.
Zuerst waren Karla wie ich völlig niedergedrückt: wir hatten nie geglaubt, daß es so viel menschliches Elend um uns gäbe. Jeden Tag gingen wir mit Seufzen an unsere Post, und jeden Tag waren wir aufs tiefste niedergedrückt, wenn wir sie erledigt hatten. Und doch widersetzten wir uns dem eigentlich sehr vernünftigen Steppischen Vorschlag, diese ganze Post unbeantwortet der Zentralheizung des Palasthotels zu überliefern. Wir hatten kein Geld, wir konnten all diesen Leuten im besten Falle nichts antworten, als daß ihre Gesuche geprüft würden – und wenn sie dann drängten, schrieben wir ihnen noch einmal, daß die Prüfung noch nicht abgeschlossen sei ...
Wir taten das nicht etwa, um die Leute hinzuhalten, wie Herr Matz wohl stillschweigend annahm, wir taten es völlig guten Glaubens. Wir hatten fest vor zu helfen, wenn wir erst Geld hätten! Wir hatten nicht vergessen, was Oma Böök uns gesagt: wieviel Gutes wir nun mit all dem vielen Geld würden tun können. Wer uns nicht überzeugte, wer uns nicht sauber schien – dem schrieben wir sofort ab.
Um nun aber zu unserem Ereignis zu kommen: unter diesen Briefen hatte sich auch der Brief eines Mannes aus Breslau befunden, der ein Geschenk von fünfhundert Mark erbat, um seine lungenkranke Frau ausheilen lassen zu können. Es war einer der ehrlichen Briefe gewesen. Der Mann hatte keine falschen Versprechungen gemacht, er hatte gesagt, daß er mittellos sei, er hatte um ein Geschenk gebeten.
Was uns veranlaßte, diesen Brief doch unter die ›Lieber-Nein-Fälle‹ einzuordnen, war irgend etwas Unwägbares im Ton. Vielleicht schien uns der Brief gar zu flüssig, gar zu routiniert geschrieben. Steppe hatte uns gesagt, daß es Menschen gäbe, die jeden Tag Dutzende von solchen Bettelbriefen schrieben, die aus ihnen ein recht gutes Einkommen bezögen.
Wir schrieben den, ich gebe es zu, unwahren, hinhaltenden Brief von der Prüfung des Anliegens.
Postwendend hörten wir, daß wir des Bittstellers Lage nicht noch durch Nachforschungen erschweren möchten. Seine Not habe er bisher noch vor den Nachbarn verbergen können. Wir sollten ihn nicht ›ins Licht der Gasse zerren‹. Gott habe uns so überreich beschenkt, wir wüßten auch nicht, ob wir es verdient hätten. Wir möchten ihm, verdient oder unverdient, aus unserer Fülle hundert Mark in einem geschlossenen Umschlag senden.
Wir reihten den Fall unter die ›Nein-Sachen‹ ein und antworteten nicht.
Eine Woche später sandte der Mann aus Breslau uns einen Freiumschlag: wir sollten ihm zwanzig Mark senden. Uns werde es nicht ärmer machen, aber tausendfältigen Segen würden wir dadurch ernten ...
Wir antworteten wiederum nicht. Freilich hatte der Mann beinahe richtig gerechnet: der Freiumschlag machte uns Gewissensbisse!
Den Brief, den wir nun von ihm bekamen, dieses Meisterstück eines Gewohnheitsbettlers aus Bosheit und Hinterlist, setze ich wortwörtlich hierher. Er schrieb uns:
Euer Hochwohlgeboren
können sich also wirklich nicht entschließen, mir Ärmstem der Armen zu helfen? Nicht einmal mit dem wirklich so bescheiden Erbetenen? Weit entfernt, Euer Hochwohlgeboren darob zu grollen, geschweige denn gar ein Mißgeschick, Krankheit oder Tod eines lieben Angehörigen oder dergleichen zu wünschen, kann ich nicht umhin, auf die immerhin merkwürdige Tatsache hinzuweisen, daß solch Mißgeschick schon so viele betroffen hat, die sich in den letzten vier Jahren meines Elends meinen ähnlichen Bitten gegenüber ablehnend verhalten haben.
Hochachtungsvoll
Ihr um eine Enttäuschung reicher gewordener ...
So ein Biest! sagte Karla tonlos. Sie war schneeweiß geworden, ihr geht es immer ans Herz, wenn sie erfährt, wie schlecht Menschen sein können.
Reg dich nicht so auf, Kerlchen! bat ich. Du siehst, unser Gefühl ist ganz richtig gewesen: ein gemeiner Gewohnheitsbettler.
Uns Unheil zu wünschen! klagte Karla. Wenn uns jetzt etwas Schlimmes passiert, werde ich immer glauben, dieser Kerl hat es gemacht.
Unsinn, Karla! Du wirst doch nicht abergläubisch werden! Was soll uns denn Schlimmes passieren –?!
Ich weiß doch auch nicht! Aber wenn –!
Es dauerte lange, bis ich sie beruhigen konnte.
Dann, am gleichen Abend, am Abend des 22. Dezember, kam Fräulein Kiesow noch spät in unser Zimmer: Wollen Sie nicht einmal nach Eduarda sehen, gnädige Frau? Ich glaube, sie hat Fieber ...
Karla warf mir einen erschrockenen, tränendunklen Blick zu. Der Brief, siehst du! sagte dieser Blick.
Dann liefen wir beide in der Mücke Zimmer. –
*