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47. Kapitel

Wiedererkennen – Gefühle, Pferde und Automobile – Eine entschlossene Chauffeuse – Die Folgen nicht gemachter Besuche

 

Die Dame ließ die Peitsche sinken. Ganz plötzlich war der böse Ausdruck von ihrem Gesicht gewichen, es lächelte wieder freundlich.

Da geht er hin! sprach sie. Und meine Senta nimmt er mit! Wie komme ich nun nach Haus, Herr Schreyvogel?

Ich hatte sie noch nicht wiedererkannt, ich hatte sie ja nur einmal einen kurzen Augenblick vor gut einem halben Jahre gesehen, zu einer Zeit, da meinem Gedächtnis Dutzende von neuen Gesichtern begegneten. Ich wußte, ich hatte sie schon gesehen, vor allem aber lachen hören, und kam doch nicht darauf!

Freilich ließ sie mich nicht lange raten, gleich sagte sie, als sie mein unsicheres Gesicht sah: Sie erinnern sich nicht –? Wissen Sie denn nicht mehr? Der alte Rauschebart und Ihre halb gemausten Chrysanthemen? Habe ich mich damals amüsiert! Wissen Sie nun –?

Und sie streckte mir ihre Hand hin.

Gnädiges Fräulein! Fräulein von Kanten! rief ich.

Jawohl, ich erinnerte mich, ich erinnerte mich jetzt sehr gut an die etwas ungewöhnliche junge Dame, die sich in meinem Warmhaus so offensichtlich über den blamablen Reinfall ihres Vaters gefreut hatte. Und ich erinnerte mich noch sehr viel deutlicher der unverhüllten Antipathie, mit der Karla diesem jungen Mädchen begegnet war.

Ich hatte den nicht unbegründeten Verdacht, daß der Reitknecht nur so unbarmherzig geschlagen war, weil ich Zeuge des Überfalls gewesen war. Ich erinnerte mich deutlich an Karlas Abneigung – trotz dieser Warnungen hielt ich die mir gebotene Hand fest und lange und sah mit wahrem Vergnügen in das junge, rosige, helle Gesicht. Etwas von der sommerlichen Sinnlichkeit der eben erlebten Szene schien noch in der Luft zu schweben, die Wärme stand wie lockender Gesang auf der Lichtung ...

Sie, gnädiges Fräulein! rief ich erfreut. Es war mir doch immer so im Halbschlaf, als hätte ich Ihre Stimme schon gehört – und vor allem Ihr Lachen! Bitte, verzeihen Sie ...

Nun, einen sehr tiefen Eindruck habe ich damals jedenfalls nicht auf Sie gemacht, lachte sie, und ihre feste, fleischige Hand bewegte sich mit leichtem Druck in der meinen, wohlig, wie ein kleines zärtliches Tier. Aber es soll Ihnen gerne verziehen sein, Herr Schreyvogel, wenn Sie die Szene eben genausoschnell vergessen.

Der arme Kerl! sagte ich unwillkürlich und sah dorthin, wo sich der Weg im Walddunkel verlor.

Der arme Kerl! ahmte sie mir spöttisch nach und löste ihre Hand aus meiner. Sie sind also der Ansicht, er soll ruhig alles kriegen, worauf er Hunger hat, ganz gleich wie mir dabei zumute ist –?!

Nein, nein, natürlich nicht! beeilte ich mich. Ich meine nur ... Ich dachte ... wenn sich jemand so quält ... Es ist doch immer irgendwie traurig, nicht wahr?

Ich finde so etwas einfach komisch, sagte sie lachend. Mag er sich doch ein Mädchen aus seinen Kreisen suchen, es gibt ja genug –!

Er sah ernstlich verzweifelt aus, sagte ich und blickte immer noch nicht hoch, sondern auf jene Stelle, wo sich der sonnige Weg im Walde verlor. Was wird nun aus ihm?

Was soll denn aus ihm werden?! rief Fräulein Leonore von Kanten recht ungeduldig, denn sie vertrug es, wie ich bald lernen sollte, nicht lange, daß von anderen, aber nicht von ihr die Rede war. Entweder hat er sich schon selbst entlassen, wenn ich zurückkomme, oder ich entlasse ihn! Das ist doch ganz einfach! Viel schwieriger, fuhr sie lächelnd fort, denn nun sah ich sie wieder an, scheint mir die Frage, wie ich nach Hause komme. Es sind immerhin elf Kilometer bis Escheshof, und so hübsch diese Reitstiefelchen auch aussehen – sie klopfte dagegen, ich sah sie an, und auch ich fand sie sehr hübsch aussehend, sehr blank, sehr zierlich – für Fußmärsche aber ungeeignet.

Ich habe mein Auto hier! sagte ich mit einem gewissen Besitzerstolz, und wenn ich Sie nach Haus fahren dürfte, werden Sie noch eher als Franz, die Kanaille, dort sein.

Sie haben Ihr Auto hier! rief sie und lachte jetzt unverstellt vergnügt. Sie haben Ihren berühmten roten Teufel hier, mit dem Sie zweihundert Kilometer fahren sollen –!

Nein, das ist doch übertrieben. Hundert, vielleicht hundertzwanzig ...

Ganz egal, hundertzwanzig ist auch sehr schön! Und Sie wollen mich wirklich darin nach Haus fahren, Herr Schreyvogel? Großartig! Sie ahnen ja nicht, wie ich und alle Töchter und Söhne der Gegend für Ihren roten Wagen schwärmen! Alle Tage betteln wir unsere Väter, uns auch einen Wagen zu kaufen! Aber nein, Autos sind unfein, nur Pferde sind vornehm. Die haben eine Ahnung, diese Alten, völlig verkalkt –!

Sie sehen aber großartig zu Pferde aus, gnädiges Fräulein!

Selbstverständlich! pflichtete sie mir völlig einverstanden bei. Pferde werden für alle wirklich vornehmen Menschen immer das Feinste sein. Aber darum braucht man die Autos doch nicht ganz und gar abzulehnen! – Kommen Sie und zeigen Sie mir Ihr rotes Scheusal – wo haben Sie es denn?

Sie legte ihre Hand in meinen Arm und ließ sich von mir über die Lichtung führen, als gingen wir durch einen Tanzsaal.

Ich fühlte mich geehrt; sie behandelte mich ganz wie ihresgleichen, trotzdem wir doch nicht einmal bei Kantens (wie bei keinem) Besuch gemacht hatten. Mit einigem Vorwurf gedachte ich Karlas, die sich diesen nachbarlichen Besuchen so energisch widersetzt hatte. Wir wären nicht trübsinnig geworden vor Langerweile, solchen netten Verkehr hätten wir alle Tage haben können!

Während wir so über die Lichtung, durch Blaubeerkraut und von Harz duftende, durchsonnte Luft gingen, fragte sie mich nach dem Wagen aus, nach den Pferdestärken, der Anzahl der Zylinder, wo ich meine Prüfung gemacht hatte? Wieviel Geld hatte der Wagen gekostet und wieviel die Prüfung?

Wenn ich ihr antwortete, sah ich rasch zur Seite nach ihr hin, der Anblick ihres selbstbewußten hellen Profils mit den leichten blonden Löckchen über der Stirn berührte mich angenehm. Sie sah so hell aus gegen die dunkle Karla (auf die ich einen Zorn hatte) – sie war in allem so ganz anders, in ihrer Art zu sprechen, zu gehen, zu denken!

Um die Verzauberung vollkommen zu machen, trug sie, die so ganz Weiblich-Weibchen schien, eng anliegende lacklederne Reitstiefelchen, eine Hose in einem schwarz-weiß gewürfelten Pepita-Muster, eng an den Knien und herausfordernd gebauscht an den Oberschenkeln wie bei einem Jockei, und unter einem ebenso gemusterten, losen Jäckchen eine weiße Sportbluse, die sich verlockend über der Brust wölbte. Die beiden oberen Knöpfe waren nicht geschlossen, sondern ließen eine milchweiße, matte Haut sehen –!

Ich war der törichteste und widerstandsloseste Bengel von der Welt – leichtes Opfer für jede Jägerin, die nach mir zu jagen geruhte! Daß ich bis dahin noch unbescholten durch diese Welt gegangen war, lag nicht an meiner strengen Rechtlichkeit, wie ich mir manchmal eingebildet hatte, sondern nur daran, daß noch nie der Blick einer Versucherin auf mir geruht hatte!

Fräulein Leonore von Kanten trug auf dieser nachlässig geschlossenen Bluse ein goldenes, mit kleinen Rubinen geziertes Hufeisen. In diesem Hufeisen sah man ein vierblättriges Kleeblatt in grüner Emaillearbeit, auf dem ein rotes Glückskäferchen saß – und das Ganze war gekreuzt von einer wiederum goldenen Reitpeitsche. Dieses schöne Schmuckstück schien mir der Gipfel alles Aristokratischen –!

Ich will nun nicht etwa behaupten, daß Leonore von Kanten bereits im ersten Augenblick, da sie mich sah, den Beschluß gefaßt hätte, mich zur Strecke zu bringen. Nein, wenn sie ausnehmend freundlich zu mir war, wenn sie mir sichtlich gefallen wollte, so lag das in der Hauptsache wohl daran, daß ich sie immerhin in einer verfänglichen Situation überrascht hatte. Ganz richtig nahm sie an, ein gut behandelter Lauscher werde nicht so leicht böse von ihr reden.

Und dann – wenn ich oft ganz trostlos vor Langerweile war – ihr ging es sicher nicht viel besser! Sie hat es mir später genauer erzählt, wie öde der heimische heruntergewirtschaftete Hof mit dem untüchtigen Vater war, wo alles Geld stets den Brüdern auf den Universitäten und in den Regimentern zufloß und wo den Schwestern nichts winkte als die trostlose Versorgung in einem adligen Stift! Da hat sie wohl nicht sehnlicher als ich nach ein bißchen Abwechslung und Lachen ausgeschaut!

Daß sie dabei ein richtiges Weibchen war, dem Männerfangen dasselbe ist wie eine Katze die Mäusejagd, das habe ich erst sehr, sehr viel später begriffen, nämlich als die Maus gefangen war! Karla war eine schlechte Lehrmeisterin für solche Dinge, sie war um so weniger Weibchen, je mehr Weib sie war!

Ein Vorspiel zu dem, wessen Leonore von Kanten fähig war, wenn auch erst ein ganz kleines, bekam ich zu spüren, als wir beim Satan angelangt waren. Denn da ließ sie sich wirklich noch einmal den ganzen Mechanismus erklären: Ganghebel und Schaltung, Kuppelung und Bremsen. Drei-, viermal mußte ich ihr alles wiederholen – solches Interesse tat mir richtig wohl. Karla hatte hundertmal im Auto gesessen und wußte heute noch nicht das geringste von Hebeln und Bremsen!

Als ich den Wagen anwarf, saß Fräulein von Kanten erregt auf dem Führersitz hinter dem Steuer, und als der Wagen zu vibrieren und pochen anfing, rief sie mir begeistert zu: Pyramidal! Ganz prima!

Ich trat um den Wagen herum neben sie und sagte lächelnd: Und nun müssen Sie mir Platz machen – falls Sie nämlich nicht selbst fahren wollen!

Ich hatte es im Scherz gesagt, aber schon hatte sie geschaltet, auf den Gashebel getreten, und der Wagen tat einen Sprung vorwärts. Ich ihm nach!

Gas weg! schrie ich. Bremsen! schrie ich.

Noch drei, vier Sätze machte der Wagen, streifte einen Holzstoß, ich hörte das jedem Fahrer so verhaßte Geräusch, wenn der Lack der Kotflügel knirschend gegen etwas schrammt – und der Wagen hielt!

Großartig! rief sie und wendete sich mit geröteten Backen nach mir um. Wenn man spürt, wie so was Totes lebendig wird! Ganz anders noch wie bei einem Pferd! – Sie folgte meinem nachdenklichen Blick und fragte, sich aus dem Wagen lehnend: Habe ich was angerichtet?

Aber ihre Begeisterung hatte mich schon wieder versöhnt.

Das macht nichts, sagte ich. Das ist bloß Blech – schnell ausgebeult und überlackiert. – Aber mit was für einer Courage Sie losgebraust sind – ich habe so was noch nie gesehen!

Ich habe nichts gemerkt! riet sie schuldbewußt. Ich war so hingerissen – ich dachte, ich könnte schon richtig fahren. Sind Sie sehr böse? Kostet solch Lackieren viel? Ich werde Ihnen mein Taschengeld –

Reden Sie keinen Unsinn! sagte ich. Es hat mir einen Riesenspaß gemacht, Ihnen zuzusehen.

Wir wechselten dabei die Plätze, und ich fuhr los. Aufmerksam verfolgte sie jeden Griff von mir, bat manchmal um eine Erklärung.

Dabei sagte sie mir, wie ich zu fahren hatte. Wenn der Weg nach Escheshof wirklich nur elf Kilometer lang war, so machte sie jedenfalls keinen Gebrauch davon. Auf Waldwegen und Nebenstraßen fuhren wir unsere dreißig Kilometer, bis sie, ein wenig zögernd, sagte: So, Herr Schreyvogel, hier müssen Sie mich absetzen. Ich würde ja gerne meinen ›Retter‹ – sie lachte dabei, und ich begriff erst langsam, was sie meinte – zu uns auf den Hof bitten. Aber es geht wirklich nicht, die ganze Gegend würde klatschen – wo Sie keinen Besuch gemacht haben. Leider!

Ich wurde sehr rot, ich schwatzte irgend etwas davon, daß meine Frau kränklich sei, es habe sich immer noch nicht so gemacht, es tue auch mir sehr leid ...

Sie sah mich während meines törichten Geredes aufmerksam, aber ohne ein helfendes Wort an. Ich hatte ein dumpfes Schuldgefühl, als verklage ich Karla immerfort und als bekomme Fräulein von Kanten den ganz falschen Eindruck, ich sei mit Karla nicht einverstanden.

Dann gab sie mir plötzlich die Hand. – Also schönen Dank, Herr Schreyvogel! sagte sie und ging.

Ich starrte ihr nach. Dieser Abschied war so plötzlich gekommen, daß ich ganz überwältigt war, ich hatte ihr die Hauptsache ja noch nicht gesagt:

Gnädiges Fräulein! rief ich. Bitte einen Augenblick noch!

Sie drehte sich um.

Wenn Sie fahren lernen möchten ... Ich meine, verstehen Sie mich recht ... Weil Sie doch den Wunsch zu chauffieren haben ... Ich habe so viel Zeit ...

Sie bewegte verneinend den Kopf. Das wird nun doch nicht gehen, sagte sie. Schon meiner Eltern wegen nicht. Und was würde Ihre Frau denken!

Sie nickte mir noch einmal zu, aber ernst, und ging.

Ich starrte ihr nach.

*

 


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