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Gefangengesetzt in Hutaps Palast-Hotel – Exkurs über die Freiheit der kleinen und die Unfreiheit der großen Leute
Die nächsten Wochen, bis ziemlich nahe heran an das schöne Weihnachtsfest, sind auch noch in der Erinnerung wie ein Albdruck für uns. Ich glaube, hätte unsere kleine Mücke, die nun schon längst niemand mehr Mücke ruft, ein so weit zurückreichendes Gedächtnis, auch sie würde schaudern. Wir haben nie wieder ein so mißvergnügtes, ewig quengliges Kind gehabt wie während dieser im Radebuscher Palast-Hotel verbrachten Wochen.
Und dabei wurden wir doch so umsorgt und betreut! Vom backenbärtigen Hotelier Hutap an, über den Justitiar Steppe und seinen getreuen Fiete, bis zu ›meinem‹ Privatsekretär Matz und bis zum o-beinigen Ober Friedrich, den aber alle ›Fridolin‹ riefen – nur wir nicht, wir nannten ihn immer ›Herr Ober‹ –, alle überboten sich, es uns ›behaglich‹ zu machen. Jeder Schritt und jede Sorge wurde uns abgenommen, und Wünsche wurden uns erfüllt, an die wir noch gar nicht gedacht hatten!
Sogar die gestrengen Herren vom Steueramt und der Herr Bankdirektor Kunze redeten nicht streng, sondern teils freundschaftlich-väterlich, teils in vorzüglicher Hochachtung mit uns. Sie lauschten meinem bestimmt oft törichten, immer aber völlig ahnungslosen Gewäsch und Karlas überschnellen, spontanen Reden mit einer Aufmerksamkeit – nun, es war einfach ein Grausen, ich sagte schon: ein Albdruck!
Denn wir spürten ja sehr wohl, daß diese Hochachtung gar nicht uns galt, sondern der Erbmasse, dieser Lawine von drei oder vier Millionen – genau habe ich nie herausbekommen, wieviel es eigentlich war. Diese Lawine war auf uns zwei ahnungslose Hühner herabgerollt und drohte uns völlig zu ersticken! Diese Lawine hochachteten sie, nicht uns. Wir hatten uns – leider? – kaum verändert, wir waren noch immer – innerlich – die Kontoristen der Vira!
Und war es kränkend, daß man so wenig galt, die dumme Erbschaft aber so viel, so war es zur Verzweiflung treibend, wie eingeengt wir plötzlich waren, wie unfrei! Ach, meine liebe Nachkommenschaft, du wirst es mir nicht glauben, wie ich es auch nicht geglaubt hätte, hätte ich es nicht erlebt, aber wie unfrei ein großer Mann ist und wie frei ein kleiner, das ist gar nicht zu sagen!
Früher, da hatte ich wohl aufs Büro gemußt und für unseren ziemlich knappen Lebensunterhalt geschuftet, ich hatte Herrn Krachts Launen, der Kundschaft Hochnäsigkeit und Fräulein Wendels und Wenzels Schnippischkeiten ertragen müssen. Aber das waren sozusagen angeborene ›Muß‹ gewesen, jeder hatte sie zu tragen. Sie waren so selbstverständlich wie das Atmen, sie gehörten zum Leben, man machte kein Aufhebens von ihnen.
Wenn wir aber dann das Tagewerk hinter uns hatten, so waren wir frei, zu tun und zu lassen, was wir lustig waren. Wir konnten in unseren vier Wänden singen, tanzen, uns streiten, Nähmaschine nähen, mit der Mücke auf der Erde kriechen – kein Steppe, Fiete, Matz, Fridolin kam herein und rief bestürzt: Aber, gnädige Frau, das kann Ihnen doch jemand abnehmen! Ich schicke sofort nach einer Hausschneiderin.
Oder: Richtig, Herr Schreyvogel, eine geprüfte Kindergärtnerin, daß ich die vergessen habe! Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!
Wenn ich dann die Geduld verlor und hitzig versicherte, ich brauchte solch Frauenzimmer nicht, es liefen schon viel zuviel Menschen um uns herum, so hoben sie die Nasen und sagten befremdet: Ganz, wie Sie es wünschen, Herr Schreyvogel. Wir sind ja nur dazu hier, Ihre Wünsche zu erfüllen.
Aber dazu waren sie nicht hier. Sie waren hier, mir einzutrichtern, wie sich ein Millionär zu benehmen hat, daß Millionäre mit ihren Kindern nicht auf der Erde herumzukriechen haben! Es vergingen keine drei Tage, so sagte ein anderer aus der Verschwörung ganz beiläufig: Übrigens, gnädige Frau, habe ich da von einem ganz reizenden jungen Mädchen gehört, Tochter einer Majorswitwe (Tochter einer Majorswitwe!!!), die wäre gerade das Richtige für Ihr liebes Töchterchen!
Und wenn wir uns dann dieses Fräulein von Sack oder Knack oder Track ansahen, so war es ein graues, großfüßiges, trübes Geschöpf. Von der konnte ich mir freilich nicht vorstellen, daß sie je mit der Mücke über einen Teppich kriechen würde! Sie war nur fähig, Eduarda zu ihr zu sagen, und: Tue dies, Eduarda! oder: Eduarda, das ist aber gar nicht fein!
Wir verwarfen Fräulein von Back, wir verwarfen auch noch die Pastorentochter Schnack, aber schließlich gaben wir klein bei, sie ermatteten uns, sie drehten uns Fräulein Kiesow an, die sich Bonne titulierte, die in Englisch und Französisch perfekt war und die uns die Mücke aus dem Schlafzimmer entführte in ihr eigenes ›Kabinett‹.
Komm auf mein Kabinett, Eduarda, sagte sie ernst, wenn sie merkte, die Herren Eltern ließen sich wieder einmal gehen und wurden so reizend, so himmlisch volkstümlich! (Umbringen könnte ich dich heute noch, Gwendolyn Kiesow!)
Zuerst hatten wir – gegen das Anraten von Steppe, Hutap & Cie. – versucht, unten im Speisesaal des Hotels zu essen. Aber das war einfach grauenvoll! Wenn wir da unseren Einzug hielten und alle Herrschaften an allen weiß gedeckten Tischen hörten zu essen auf, starrten uns an, und hörbar murmelte die atemlose Stille: Da kommen Millionärs!
Dann saßen wir also da und wagten unter all den Blicken kaum miteinander zu flüstern. Wenn Karla nur für mich nach dem Brotkorb zu langen wagte, so stürzten aus einem Hinterhalt der Pikkolo, aus dem andern der Saalkellner herbei. Sie rannten sachtfüßig, als gelte es die höchste Sportauszeichnung – und wer zuerst das Ziel erreichte, nahm Karla den Brotkorb fort und hielt ihn mir mit einer tiefen Verbeugung hin.
Eine von der Mücke zur Erde geworfene Gabel wurde würdevoll, das Gabelende mit einer Serviette umfaßt, durch den ganzen Saal hinausgetragen, und ebenso würdevoll wurde eine saubere wieder zurückgebracht. Und all das unter den beobachtenden und doch achtungsvollen Blicken des ganzen Saales, denn für einen Millionär gehört sich Aufstand und Getue. So viel Geld kann nicht auf normale Weise bedient werden.
Hinter einer Säule stand der backenbärtige Hotelier Hutap und bewachte uns, unsere Wünsche, unser Benehmen, das Gehaben seiner Angestellten und das Benehmen seiner anderen Gäste. Vor dieser Säule saß immer ein schrecklicher, pickliger Jüngling, der schwärmerische Blicke auf Karla warf und dazwischen in rasendem Tempo Notizen in ein schwarzes Büchlein schrieb. Damals war ich überzeugt, daß dieser Jüngling von der Presse sei und unsere Schwächen zur Preisgabe an die Öffentlichkeit ausforschte. Später habe ich erfahren, daß es der unselige Agent einer Versicherungsgesellschaft war, der sich in die unangebrachtesten Spesen gestürzt hatte, um uns eine Versicherung anzudrehen.
Er schaffte es freilich nicht, aber da war ein anderer, ein grauer Mann mit einem griesen Bart, der erspähte einen Moment, da unser vieläugiger Argus in seiner Bewachung nachließ, und schon stand er an unserem Tisch und dienerte und versicherte, er heiße Lassahn, und es tue ihm sehr leid, und er freue sich ungemein, und wenn er einmal der gnädigen Frau das Modernste in Damenwäsche vorführen dürfte ...
... Wenn ich es nur andeuten darf, gnädige Frau, Spitzen und Seide, ein Hauch, gnädige Frau! Auf Ihrem Zimmer, gnädige Frau, ganz diskret! Es ist doch auch eine Freude für den Herrn Gemahl ...
Herr Lassahn, sprach Herr Hutap streng, bleich vor Empörung. Das geht nicht, Herr Lassahn! Sie stören die Herrschaften. Die Herrschaften müssen ihre vollkommene Ruhe haben!
Gnädige Frau! flehte der griese Lassahn und hatte es irgendwie fertiggebracht, Karlas Hand zu erhaschen. Er hielt sie, als sei sie die Brücke zur Insel der Seligen. Gnädige Frau, ich bitte, lassen Sie meinen Koffer auf Ihr Zimmer setzen! Ich zeige Ihnen die duftigsten, die modernsten, die hinreißendsten Muster! Gnädige Frau! –
Es war Herrn Hutap im Verein mit dem Saalkellner gelungen, ihm Karlas Hand zu entreißen. Immer weiter entfernt klang die beschwörende Stimme: Seide ... Duft ... Charme ... Diskret ...
Wenn ich nachher einen Blick zum Tisch des Herrn Lassahn wagte, so sah ich ihn da sitzen, angespannt, und sofort fing sein Auge meinen Blick. Sein Gesicht kam in zuckende Bewegung, sein Mund hauchte mir tonlos zu: Charme! – Seide! – Hauch!
Also gaben wir den Vorstellungen von Herrn Hutap nach und aßen von nun an auf unseren Zimmern (Aufschlag für Service fünfzehn Prozent!). Langweiligere, tödlichere, unbefriedigendere Mahlzeiten haben wir nie gegessen, als die unter den Augen des Zimmerkellners Fridolin, während draußen auf dem Gang eine ganze Verschwörerbande zu wispern schien, damit Millionärs auch alles richtig bekamen.
Sicher waren wir ein großartiges Geschäft für das Palast-Hotel nicht nur durch das, was wir verzehrten. Nein, als wir erst durch alle Zeitungen und illustrierten Blätter gegangen waren, füllten wir das ganze Hotel wochenlang. Es kamen Leute rein unseretwegen angereist, manche wirklich nur aus purer Neugier, um den kleinen Mann mit hundertachtundsiebzig Mark Monatseinkommen (netto) zu besehen, der ein so Großer Mann geworden war! Die meisten aber, weil sie wirklich etwas von uns wollten, und sei es auch nur ein Autogramm von mir – freilich am liebsten auf einem Scheck!
Ach, was hatten wir doch als Angestellte der Vira für ein herrlich ungebundenes und freies Leben geführt! Wenn ich nachmittags aus dem Büro nach Haus gekommen war, so hatte ich schnell eine Tasse Kaffee getrunken, und dann waren Karla, ich und das Kind losgezogen. Wir waren einfach spazierengegangen, in die Anlagen oder auf den Schafberg oder auf den Alten Friedhof, wo unser beider Eltern lagen. Sie hatte ein paar Blumen, in Zeitung eingeschlagen, zum Bepflanzen der Gräber mitgenommen und ich eine Gießkanne – heute hätte sich Karla nur mal mit einem Paket in Zeitungspapier und ich mich mit einer Gießkanne durch das Hotel trauen sollen!
Ihr werdet sagen, das hatten wir wirklich nicht nötig, man muß nicht mit einer Gießkanne über die Straße gehen, um glücklich zu sein! Richtig, lieber Nachwuchs! Aber um glücklich zu sein, muß man das tun können, was zu tun man Lust hat, und das eben konnten wir nicht mehr! Wir konnten ja nicht einmal mehr spazierengehen in der Stadt, so wurden wir angegafft! – Und wir wurden nicht nur angegafft, wir wurden auch angesprochen. Die wildfremdesten Menschen überfielen uns mit ihren Anliegen, und sie waren stets schwer beleidigt, wenn wir nicht darauf hören wollten oder wenn ich versicherte, ich trüge die Tausendmark-Scheine nicht bündelweise in der Tasche herum.
Also mit dem Spazierengehen war es auch nichts, oder es war doch wenigstens nichts Rechtes, denn wir wurden jetzt alle Vormittage von einem feierlichen, geschlossenen Privatwagen abgeholt und irgendwohin in die schöne Umgebung von Radebusch gefahren.
Da stiegen wir denn aus und gingen gelangweilt und verdrossen eine halbe Stunde auf irgendwelchen Waldwegen hin und her, vor uns Fräulein Kiesow und Mücke, nein, Eduarda, und hinter uns der Chauffeur. Es war aber nicht der Gaugartener Chauffeur, es war ein Lohnchauffeur, der aufzupassen hatte, daß uns nicht irgendein ganz Gerissener noch hier draußen überfiel.
Vor uns gingen Eduarda und die Kiesow. Wir hörten uns stumm an, wie das kleine harmlose Uetz darüber belehrt wurde, daß Baum nicht Baum, sondern Trieh hieß, nämlich auf Englisch, und Weg nicht Weg, sondern Pahss: Aber lispeln, Eduarda, lispeln! Sonst kannst du doch so gut lispeln, aber natürlich, wenn du es sollst ...
Dabei wurde uns immer bänglicher zumute. Wir wagten uns gar nicht anzusehen, so schlecht kamen wir uns vor, daß wir der Mücke schon ihre frohen Kindertage mit solchem Zeug vergällten. Aber es würde ihr ja im Leben sooo nützlich sein, und sie mußte ja als Erbin von sooo viel Geld einmal viel sein und vorstellen.
Dann rief der Chauffeur: Achtung, Herr Schreyvogel! Und wir sahen irgendeine verdächtige Gestalt im Walde auftauchen. So gingen wir gemessen, mit verschlossenen Gesichtern zum Wagen zurück.
Was war es früher für Karla und mich für ein Vergnügen gewesen, in die Läden zu gehen und ein wenig einzukaufen: ein Paar Strümpfe oder eine Handtasche oder auch nur im Grünkram einen Kopf Kohl! Wie glücklich waren wir gewesen, wenn wir ›gut‹ eingekauft hatten! Jetzt gab es so etwas gar nicht mehr. In die Läden durften wir uns nicht trauen, es wurde uns alles zur Auswahl ins Hotel geschickt, und ob wir ›gut‹ eingekauft hatten, erfuhren wir nie. Denn nie wurde uns gesagt, was die Sachen eigentlich kosteten. (Die Rechnungen gingen alle an Steppe!)
Oft hatte ich es früher bedauert, daß ich es nie zu einem ganz guten Anzug gebracht hatte. Jetzt hatte ich zwölf Anzüge im Schrank hängen, die ein erster Schneider mir angemessen hatte – unter den Kontrollaugen der Steppe-Matz-Co. Sie machten mir aber nicht den geringsten Spaß. Ich hatte drei Dutzend Oberhemden und ein Dutzend Paar Schuhe und wieder drei Dutzend Pyjamas. Ich fand sie schrecklich, statt der gewohnten Nachthemden, mit dem Strick um den Bauch und der ewig kalten Stelle auf dem Buckel, wo die Nachtjacke sich hochschiebt. Was sollte ich mit all dem Jux?!
Jeden Abend legte das Zimmermädchen der Karla ein frisches Nachthemd aufs Bett, und sicher waren es die bezauberndsten, charmantesten Nachthemden von der Welt. Aber sie traten zu dutzendweise auf, wir konnten sie gar nicht recht kennen und lieben und schön finden lernen. Am nächsten Morgen waren sie schon wieder in der schmutzigen Wäsche! Und eine neue Bezauberung erschien ...
Als ob ich in Leibwäsche lebte! stöhnte Karla.
Ja, abends, wenn das Zimmermädchen zum letzten Male gefragt hatte, ob wir noch einen Wunsch hätten, wenn dann der Herr Fridolin geklopft und sich erkundigt hatte, ob die gnädigen Herrschaften noch etwas wünschten, wenn wir wirklich die ganze Nacht für uns allein hatten, da stöhnten wir uns etwas vor!
Du, liebe Nachkommenschaft, findest natürlich, daß wir uns höchst schlapp benommen haben, daß wir uns mit Zähnen und Krallen gegen die Vergewaltigungen der Steppe und Matz hätten zur Wehr setzen müssen! Wir haben uns schon gewehrt – habt nur keine Angst, ich werde auch davon noch zu berichten haben. Aber wir waren ja wirklich menschenunkundige, geschäftsunerfahrene Hühner, wir brauchten Herrn Steppe und den ganzen Hofstaat für die Erledigung der Geschäfte, für die Steuern, für das Fernhalten all der Zudringlichen, die uns nie in Frieden gelassen hätten.
Und das sieht ja jeder ein, daß ein großer Mann nicht mehr so leben kann wie ein kleiner. Die neuen Anzüge und die Oberhemden mußten sein (wenn vielleicht auch nicht so viele und bestimmt keine Pyjamas!), und die Mansardenstube mit der Oma Böök konnte nicht mehr sein! Zudem waren wir auch noch blutjung und eifrig bestrebt, alles so zu machen, wie es sich schickte. Wir waren kein verkauzter und verkalkter Onkel Eduard, der als Original leben konnte, unempfindlich gegen den Spott der Welt. Wir waren sehr empfindlich, wir wollten um keinen Preis verspottet werden!
Aber gefallen tat uns unser Leben nicht, und wenn wir uns dann in unseren Betten ausgeklagt hatten, sagte ich schließlich tröstend: Es ist ja nur ein Übergang, Karla –!
Ja, sagte sie, und ihre Augen funkelten schon wieder. Wenn wir erst in Gaugarten sind –!
Ganz allein für uns! jubilierte ich.
Die ganze Bande wimmeln wir ab! prophezeite sie.
Dann richten wir uns unser Leben erst schön ein! frohlockte ich.
Aber klar, Mensch! stimmte Karla zu.
Aber – wirst du, liebe Nachkommenschaft, fragen – warum fuhrt ihr denn nicht einfach nach Gaugarten?
Ja, warum saßen wir noch immer in Plüsch und Samt des Radebuscher Palasthotels, warum fuhren wir nicht nach Gaugarten?
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