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Schlimmes Alleinsein – Ein Bote aus dem Schloß – Die rätselhafte Versammlung mit Karla als Rednerin
Immerhin war trotz des morgendlichen Auftriebes meine Lage noch schwierig und ein Tag lang. Wie lang ein Tag werden konnte, das sollte ich erst kennenlernen. In Hutaps Radebuscher Palasthotel und noch mehr hier in Gaugarten glaubte ich die Langeweile im Extrakt kennengelernt zu haben; jene endlosen Stunden mit Karla in der Mottenpracht unseres Salons waren mir in allerdeutlichster Erinnerung. Und nicht minder jene, da ich, auf der Steinbank im Park, dem nicht aufhörenden Geschwätz Frau Kalübbes über Kalbs-Brisolettes und ähnliche Küchenfragen gelauscht hatte – und die Zeit rauschte dahin, rauschte dahin, dort hinten, hinter den Wipfeln der Parkbäume, hinter der welligen Horizontlinie, nur nicht hier, nur nicht bei mir, da stand sie still, die Zeit, festgemauert wie ein Turm! Wahrhaftig, hatte ich es nicht gelernt, mit dem besten Anstand Tag für Tag totzuschlagen –?!
Aber nun zeigte es sich, daß ich noch gar nichts gelernt hatte! Die Hanne brachte mein Frühstück, und ich fing eine Unterhaltung mit ihr an. Sie holte das abgegessene Geschirr, und ich suchte sie wiederum in ein Gespräch zu verwickeln. Aber Hanne hatte keine Zeit, der Verkehr durchs Parktor war heute ungewöhnlich rege, ewig mußte sie hinunter, öffnen, schließen, öffnen ... Hanne ließ mich auch allein ...
Ja, das war es, was ich in meinem Leben noch nicht kennengelernt hatte und was ich nun auch lernen sollte: allein zu sein mit mir, ganz allein! Immer in meinem Leben waren Menschen um mich gewesen, immer hatte ich mich aussprechen können – und nun, da sich so viel ereignete, war ich ganz allein!
Die Wände meines Zimmers sahen mich abweisend an, durch die offenen Fenster hinaus ging es in den Park und weiter hinein in die volkreiche Welt, die Ohren hatte, zu hören, und eine Zunge, zu sprechen, aber ich saß allein, ohne Gehör und Gespräch!
Es war jetzt neun Uhr morgens, und vor neun Uhr abends würde ich bestimmt nicht wieder schlafen können – du lieber Himmel, was sollte ich denn in diesen zwölf Stunden mit mir anfangen! Ausgehen konnte ich nicht, es vertrug sich nicht mit meiner Ehre, zum Gespött der Menge als entthronter Herrscher spazieren zu gehen. Zum Lesen hatte ich keine Ruhe, zum Spielen hatte ich keinen Partner, zum Reden hatte Hanne keine Zeit – ja, was dachte sich Karla denn eigentlich, was sollte ich in diesen zwölf Stunden mit mir anfangen?! Sie hatte natürlich ihren Haushalt und die Mücke, Isi, Kluge, Frau Kalübbe, den Strabow, Fitz, August Böök – sie hatte einen ganzen Hut voll Menschen. Sie hatte zwei Hüte voll Menschen – und ich –?!
Eine Weile lang will ich mir einreden, daß sie heute nachmittag, daß sie in ein paar Stunden, daß sie vielleicht gleich nach mir schicken wird: sie bereut ihr Vorgehen. Oder sie kommen nicht ohne mich zurecht? Sie brauchen mich unbedingt – welch stolze Rechtfertigung wäre das für mich! Eine ganze Weile versuche ich mir auszudenken, für was sie mich so unbedingt brauchen könnten. Aber mit all meiner Phantasie finde ich – nichts! Ich hatte mir nie so klar gemacht, wie gänzlich überflüssig ich in Gaugarten war! Eine niederschmetternde Entdeckung!
Vor meinen Fenstern höre ich reden. Dieser Wunderlaut, der mich lockt wie das Plätschern einer Quelle den Verdurstenden, zieht mich ans Fenster. Hinter der Gardine verborgen spähe ich nach Hanne, die mit einem dicken rotgesichtigen Mann spricht, der neben einem leise tuckernden Motorrad steht. Was sie sprechen, kann ich nicht verstehen, aber den dicken Mann kenne ich: es ist der Maurermeister Staffelt aus Radebusch. Auch ein Kunde der Vira, Abteilung Lebensversicherung. Was will denn der hier? Verstehen kann ich, wie gesagt, nichts, auch scheint er eher der Hanne, als sie ihm etwas zu erzählen, was beruhigend ist. Immerfort plagt mich der Gedanke, alle Leute sprächen über mich und den Schlag, der mich getroffen.
Maurermeister Staffelt schwingt sich auf sein Motorrad und fährt töffelnd zum Schloß hinauf. Er hat dort also etwas zu tun. Karla fängt gut an, wenn sie ihm einen Auftrag gibt. Administrator Kalübbe hat immer gesagt: Bauen ist für den Landwirt der Anfang vom Ende. Nun gut, soll sie nur, ein Glück, daß ich mit dem allen nichts mehr zu tun habe!
Aber damit kriege ich meine zwölf Stunden nicht herum. Es fällt mir ein, daß ich mein Gedächtnis ein bißchen auf die Probe stellen kann. Herr Staffelt hat sein Leben bei der Vira mit dreißigtausend Mark versichert, so und so hoch ist die Monatsprämie, seit dann und dann versichert, macht unter Berücksichtigung von Zins und Zinseszins und Gewinnausschüttung wieviel? Ich ziehe meine Brieftasche und fange an, auf einem Blättchen Papier zu rechnen. Die Taschenuhr lege ich verkehrt herum neben mich.
Mein Gedächtnis ist noch in Ordnung, ich erinnere mich ausgezeichnet aller Einzelheiten und bringe die kleine Rechnung zu meiner Zufriedenheit fertig. Als ich aber wieder auf die Uhr sehe, sind damit nur sieben Minuten herumgebracht, also nur ein recht unwesentlicher Teil jener siebenhundertundzwanzig Minuten, aus denen ein zwölfstündiger Tag besteht.
Meine Brieftasche liegt gerade vor mir, jene Brieftasche, die dick geschwollen mit mir herumzutragen der Stolz meiner letzten Monate gewesen ist. Heute ist sie leider aus bekannten Gründen recht dünn. Da ich mich augenblicklich rechnerisch beschäftige, mache ich Kassensturz. Ich stelle fest, daß ich alles in allem noch einhundertsiebenundsechzig Mark besitze. Es ist verdammt wenig, es ist ein reines Garnichts für einen Millionär! Aber plötzlich fällt mir ein, daß ich, wenn Karla mir nun das großmütig bewilligte Taschengeld sendet, einhundertsiebenundsiebzig Mark besitzen werde, das ist bis auf eine Mark mein Gehalt bei der Vira, von dem Karla, ich und das Mückchen einen ganzen langen Monat recht vergnügt miteinander lebten!
Nachdenklich und beinahe ein bißchen andächtig ordne ich das Geld wieder in die Tasche ein. Von neuem schließe ich die Augen und sage: Ich will gar nicht daran denken, wieviel Geld ich in den letzten Wochen und Monaten sinnlos verjuxt habe! Es ist alles nicht wahr!
Aber allein in diesem Zimmer ist es nur zu wahr – daß ich allein in diesem Zimmer sitze, beweist mir gerade, daß es bitter wahr ist. Kein Augenschließen hilft. Und wenn ich auch hin und her laufe, es bleibt immer wahr. Verjuxt, vertan, verludert – und nicht nur das liebe Geld!
Ich halte es nicht mehr aus in diesem Zimmer, das mir immer wieder meine Sünden vorhält, die ich doch schon viel zu gut kenne. Ich laufe hinaus, finde Hanne in der Pförtnerstube und gebe ihr den Auftrag, im Schloß anzurufen: sie möchten mir doch Bücher schicken. Bücher zum Lesen, jawohl! Und Patiencekarten. Jawohl, Patiencekarten! Paß-jangs! Ja, richtig, und Schreibmaterial! Meinethalben für Briefe, auch gut. Und Zeitschriften. Spielen Sie was, Hanne? Nur Mühle – na gut, auch ein Mühlebrett.
Während Hanne telefoniert, mache ich mich an die Untersuchung des Torwärterhauses. Aber es ist da nicht viel zu untersuchen. Nach Kleibackes eiligem Auszug sind die Räume geblieben, wie sie waren: öde und leer. Papier, Gerümpel, Schachteln stehen noch in allen Ecken. Es sieht wirklich schlimm aus. Nur die Pförtnerstube im Erdgeschoß mit der kleinen Küche daneben hat sich Hanne eingerichtet, und oben im ersten Stock, das heißt, eigentlich ist es eine Dachstube, hause nun ich.
Viel zu schnell bin ich mit dieser Durchsuchung fertig, und nun sitze ich wieder da und warte auf den Boten aus dem Schloß. Er läßt sich viel Zeit, dieser Bote. Eine halbe Stunde ist vergangen, und er hat sich noch nicht sehen lassen! So etwas ist eine glatte Unverschämtheit, wenn ich zehnmal nur der abgesetzte Schloßherr bin! Jetzt denken sie natürlich, sie dürfen es mit mir machen!
Ich renne wieder zu Hanne und erkundige mich, wer im Schloß am Apparat war. Aber Hanne weiß weder mit dem Telefon noch im Schloß recht Bescheid, sie meint, eine ›Dame‹ habe mit ihr gesprochen. Meine Frau? Nein, die gnädige Frau sei es bestimmt nicht gewesen. Wer denn? Fräulein Kluge? Nein, nach der habe es auch nicht geklungen. Ja, um des Himmels willen, wer denn? So viele Damen gibt es doch gar nicht im Schloß! Etwa Frau Kalübbe? Nein, Frau Kalübbe sei es auch nicht gewesen, bestimmt nicht! Ja, wer denn? Hanne, welche Dame kann denn sonst noch am Apparat gewesen sein?!
Wir starren uns beide ratlos an, dies Problem, mit wem Hanne da wohl telefoniert hat, beschäftigt uns ungemein. Schließlich fragt Hanne mich mit sanfter Stimme, ob ich nicht vielleicht ein bißchen in den Garten gehen wolle? Es sei so schönes Wetter, und ein Liegestuhl stehe auch noch da.
Ich lehne schroff ab.
Hanne erklärt ihren Vorschlag dahin, daß sie den Spezialgarten von Kleibacke meint. Er sei doch durch hohe Hecken geschützt – niemand werde mich – stören.
Wenn Hanne denkt, ich geniere mich vor den Menschen, so irrt sie sich gewaltig, das muß ihr sofort begreiflich gemacht werden. Ich erkläre ihr also, daß ich das Wetter schwül finde, außerdem Kopfschmerzen habe, und begebe mich wieder auf mein Zimmer.
Nachdem ich nochmals über eine halbe Stunde habe warten dürfen, erscheint endlich der ersehnte Bote aus dem Schloß. Es ist der Knabe Fitz mit einem Tragkorb, in dem all die schönen Dinge sind, durch die mir der – erhebliche – Rest von siebenhundertundzwanzig Minuten wie nichts verstreichen wird.
Ich beglückwünsche Fitz mit beißender Ironie zu der außerordentlichen Geschwindigkeit, mit der er meine Wünsche erfüllt hat. Hinter dieser Ironie läßt sich auch am besten die Verlegenheit verbergen, die ich darüber empfinde, daß ich ihn wie ein Gefangener im Zimmer des Torhauses begrüßen muß.
Aber Fitz ist weder für Ironie empfänglich, noch scheint er sich viel Gedanken über meine Lage zu machen. Er packt schnell seinen Korb aus und erzählt, er müsse wie ein Blitz wieder zurück. Sie hätten alle Hände voll mit den Vorbereitungen für die Versammlung heute abend zu tun.
Ich kann mir natürlich keine Blöße geben und sage nur: Ja so, die Versammlung heute abend im Schloß. Natürlich, da habt ihr viel zu tun. Kommen denn alle?
Worauf ich belehrt werde, daß die Versammlung nicht im Schloß, sondern im Tanzsaal des Gasthofs sein wird. Und daß natürlich alle kommen, nicht nur die Gaugartener, sondern auch die aus Trassenheide, Kleinschönchen, Schafstall.
Ja, es werde sicher sehr nett werden, gebe ich zu. Und möchte gar zu gerne fragen, um was es denn gehe? Und wage doch keine Frage.
Aber kaum ist Fitz fort mit seinem Korb, lasse ich all den schönen Zeitvertreib unangesehen liegen. Ich stürze hinunter zur Hanne und frage sie, was sie von der Versammlung weiß. Vor Hanne geniere ich mich nicht mehr, sie frage ich geradezu.
Doch kann Hanne auch nichts Rechtes erzählen. Sie weiß nur, es ist herumgeschickt worden gestern abend: alle auf Gaugarten und den Vorwerken Beschäftigten haben sich heute abend im Krug einzufinden, wo ihnen Frau Schreyvogel und Herr Kalübbe eine wichtige Mitteilung machen werden ...
Das Herz bleibt mir stehen. Bringt es Karla fertig, meine Schande öffentlich zu verkünden –?! Das ist doch unmöglich! So etwas tut Karla nicht!
... Und Hanne fährt fort, sie wisse auch nicht, um was es ginge, keiner wisse das. Aber sie habe von Meister Staffelt gehört, es werde wohl was mit Bauerei zu tun haben.
Ich atme wieder leichter.
Hanne sagt mir noch, sie werde natürlich auch zu dieser Versammlung gehen, aber ich solle mir darum keine Gedanken machen, ihre kleine Schwester werde sie so lange am Tor vertreten. Trotzdem das eigentlich unnötig sei, es werde bestimmt keiner kommen, alle würden auf dieser Versammlung sein, wo die gnädige Frau selbst sprechen wolle.
Ja, alle, denke ich. Hanne – alle, bloß ich nicht, ich, der Mann der gnädigen Frau. Der ungnädigen. Und ich schleiche auf mein Zimmer zurück.
*