Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Retter in der Not – Von den ›Ja-Also‹- und den ›Ja-Aber‹-Menschen – Ein Hungernder als himmlisches Manna für zwei Hungernde
Karla, die durch all die Ereignisse der letzten Zeit etwas schreckhaft geworden war, fragte aufgeregt: Was kann das bloß sein –?
Und rief, als ich eine Bewegung zum Fenster hin machte: Um Gottes willen, Maxe! Rufe doch erst den Nachtportier!
Ein Einbrecher würde nicht anklopfen, Karla, sagte ich beruhigend und schlug die Gardine zurück.
Ich hatte nicht daran gedacht, daß wir in Mückes Zimmer saßen, das auf den Hof hinausgeht. Ich hatte erwartet, unter mir die Straße zu sehen, und dies hatte das Klopfen besonders rätselhaft gemacht. Jetzt sah ich das Schuppendach vor dem Fenster, unter dem die Pferde des Hotelomnibus' ihre Wohnung hatten und bei geöffnetem Fenster gar nicht palasthotelwürdige Düfte in Mückes Zimmer entsandten.
Ferner sah ich die dunkle Gestalt eines Mannes auf diesem Dach ...
Es steht ein Mann vor dem Fenster, Karla! flüsterte ich.
Um Gottes willen! Wieso denn?! Soll ich klingeln?
Der Mann, die dunkle Gestalt, machte eine Bewegung zu mir hin mit der Hand, als fordere er mich auf, das Fenster zu öffnen. Dann legte er einen Finger, Schweigen gebietend, auf seinen nicht erkennbaren Mund.
Klingle noch nicht, Karla, rief ich über die Schulter zurück.
Der nächtliche Besucher trat dicht an das Fenster, er preßte sein Gesicht gegen die Scheiben. Er sah nicht schöner aus dadurch, mit breit gequetschter, weißer Nasenspitze, aber er weckte Vertrauen. Denn trotz des Quetschens war zu erkennen, daß er lächelte.
Plötzlich fuhr wie ein erhellender Blitz in mich die Entdeckung, wer dieser Mann war.
Karla! rief ich und riß das Fenster auf. Es ist ja der August Böök.
Da bin ich, Chef! sagte August und schwang sich mit einer wunderbaren, bestimmt im Zirkus erworbenen Leichtigkeit in das Zimmer. Guten Abend, Chefin! Ich hoffe, ich habe Sie beide nicht zu sehr erschreckt!
Aber, lieber Herr Böök, rief ich, leise protestierend. Was machen Sie denn für Geschichten! Die Mücke ist krank – Sie hätten sie zu Tode erschrecken können!
Tut mir leid, Chef! sagte August Böök. Aber mir fiel kein anderer Weg mehr ein. Seit sieben Stunden versuche ich, zu Ihnen zu kommen. Aber Sie sind bewacht wie der Domschatz zu Hildesheim! – Was hat denn die Mücke?
Die Mücke regte sich wieder bei ihrem Namen, sie drehte sich zu uns um, sah den August Böök mit großen Augen ohne alles Erschrecken an und sagte: Bist du das, Onkel Böök? Willst du mir mal schnell was zaubern?
Kein Kinderherz vergißt einen Onkel wie den August Böök, er komme noch so selten. Wir anderen Erwachsenen sind nur ein Notbehelf, solange kein August Böök zur Hand ist, wir ermüden viel zu schnell beim Spielen, und selten fällt uns etwas Neues ein.
Der August Böök war wie immer so auch jetzt sofort im Bilde. Zaubern? fragte er. Aber gewiß doch, kleine Mücke!
Mit einem Griff hatte er die kleine Nachttischlampe umgestellt, die Hände kunstvoll ineinander verschlungen, und schon hoppelte der Schattenriß eines Hasen über die Tapete.
Siehst du, jetzt macht er Männchen, Mücke! Jetzt wackelt er mit den Ohren. Und jetzt knabbert er ein Blatt Kohl – hörst du, wie es knackt?
Es klang wirklich so, als sei ein Hase im Zimmer und knuspere seinen Kohl. Die Mücke lachte ...
Eine Stimme von der Tür fragte grämlich: Geht es Eduarda schlechter? Soll ich Sie vielleicht ablösen, gnädige Frau?
Wir standen stockstill bei diesem Mahnruf der Bewacherin Kiesow wie die ertappten Verbrecher! Wie sollten wir die Anwesenheit eines fremden Mannes im Schlafzimmer unserer kranken Tochter erklären, eines Mannes, der auf illegale Weise, ohne den Portier zu passieren, ins Hotel eingedrungen war. Der ganz und gar nicht so aussah, wie ein Besucher von uns auszusehen hatte, mit einem ehemals weiß gewesenen wolligen Jumper, blauen Matrosenhosen, dem dunklen, scharfgeschnittenen, wettergegerbten Gesicht – und wahrhaftig, ich hatte ihn vorher nie mit Bewußtsein gesehen: einem goldenen Ring im linken Ohrläppchen.
August Böök war natürlich der Geistesgegenwärtige: mit einem langen Schritt war er an der Tür und setzte den Fuß fest gegen ihre Unterkante. Ihm als nächste in Geistesgegenwart folgte Karla: sie legte der Mücke sachte die Hand über den Mund und bedeutete ihr, stille zu sein. Die Mücke begriff sofort, daß der Onkel Böök ein Geheimnis zwischen uns war, von dem Fräulein Kiesow nichts wissen durfte ...
Schließlich raffte auch ich mich auf und sagte nach einigem Räuspern: Es ist alles in Ordnung, Fräulein Kiesow. Wollen Sie bitte schlafen gehen. Meine Frau braucht keine Ablösung.
Eine Weile war es vor der Tür still. Wir warteten bewegungslos. Endlich sagte die verdrossene Stimme: Dann also gute Nacht. Ich hoffe, es ist wirklich alles in Ordnung mit Eduarda.
Wir hörten sie wegschlurfen. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, ehe wir uns entschlossen, wieder miteinander zu reden, und auch dann nur flüsternd. August Böök drehte sachte den Schlüssel im Schloß um, so daß wir vor neuen Überfällen sicher waren. Strenge Bewachung, wie? lächelte er. Kann ich mir denken, jeder möchte die gute Milchkuh allein melken!
Sieben Stunden Stromern und Horchen um das Palasthotel hatten ihm ein recht genaues Bild von unserer bedrängten Lage gegeben.
Wie ist es denn mit dem Chauffeurposten, was? Schon besetzt, natürlich! Ich konnte aber nicht eher kommen, mußte erst den Kies zur Reise zusammenhökern. Er sah unsere verlegenen Gesichter. Zu spät, ja? Genieren Sie sich bloß nicht vor mir, so was macht mir gar nichts. Kein Mensch ist leichter abzuwimmeln als ich.
Gottlob enthob uns die Mücke einer sofortigen Antwort. Sie verlangte stürmisch nach der Fortsetzung ihrer Schattenspiele.
Tun Sie ihr den Gefallen, Herr Böök! bat Karla. Und sehen Sie, daß sie bald zum Einschlafen kommt. Über Ihre Stellung reden wir dann in aller Ruhe.
Gemacht, Chefin, sagte August Böök und klopfte ihr mit einem freundlichen Zwinkern seiner faltenumwobenen Augen auf die Schulter. Keine Sorgen meinetwegen. Ich habe Aussicht als erster Büchsenspanner in der Schießbude vom bayerischen Ranftl. – Jetzt geht's los, Mücke!
Und er ließ einen Storch über die Wand stelzen und hölzern klappern, daß die Mücke wieder jauchzte, aber nur leise. Denn sie hatte die Kiesow nicht vergessen und fürchtete für ihren Theaterdirektor.
Während der August Böök so mit der Mücke spielte, berieten Karla und ich uns, was mit ihm wohl anzufangen sei. Daß wir unser der Oma Böök gegebenes Wort halten mußten und daß wir das auch gerne wollten, war klar. Nur das ›Wie‹ machte Schwierigkeiten, wie immer jetzt. Ich war dafür, Böök mit einem Brief zum Administrator Kalübbe zu senden, der ihn schon beschäftigen würde, bis wir nach Gaugarten übergesiedelt waren.
Karla aber hatte ganz andere Pläne. Ihr war der übers Dach angelangte Böök wie ein Retter aus schwerer Not, speziell vom Himmel gesandt, um uns aus allen Weihnachtsmiseren zu helfen. Die bekannte Gestalt, die wir so oft im Zimmer der Oma Böök gesehen hatten, erschien ihr wie ein Gruß aus unserer besten Zeit. Gleich hatte sie Vertrauen zu ihm, gleich gehörte er mehr zu uns als die Matz und Steppe. Vor ihm mußte man sich nicht genieren. Er war genau wie unsereiner.
Der August hatte über unserem Ratschlagen einen Sandmann für die Mücke auf der Tapete entstehen lassen, der ihre Augen mit Schlaf gefüllt hatte. Sie blinzelte ihm noch einmal selig zu, flüsterte: Aber morgen bist du wieder da! und meinte nicht den Sandmann damit.
Herr Chef, sagte August Böök, unser zukünftiger Chauffeur, und setzte sich zu uns. Wenn sich's machen ließe, und Sie hätten eine Kleinigkeit zu futtern für mich? Mein Geld hat nämlich nur für die Fahrkarte gereicht, und seit vierundzwanzig Stunden kullert mein Magen, daß es schon unanständig ist!
Wir kamen einträchtig zum Ergebnis, daß wir uns nicht auch noch in der Hotelküche durch ungewöhnlich späte Anforderungen verdächtig machen wollten. Aber Karla wagte auf Strümpfen eine Exkursion in unser Schlafzimmer und kam mit einer Pappschachtel Pralinen, einer Blechbüchse Teegebäck und einer Flasche Rum wieder, die noch von einer Grippeattacke bei uns verblieben war. Es war vielleicht kein normales Essen für einen Mann, der seit vierundzwanzig Stunden gehungert hatte, aber August Böök stellte nie bestimmte Ansprüche an das Leben. Er nahm alles, wie es kam. Er hatte einen Grundsatz: Schließlich ist alles egal. In hundert Jahren weiß kein Mensch mehr, wie wir es gemacht und gehabt haben. Warum sollen wir uns also heute darüber aufregen?
Und mit der gleichen freundlichen Gelassenheit nahm er auch unser etwas aufgeregtes Reden über unsere Weihnachtspläne hin. Na also, wir wollten hier unbemerkt fort. Schön, ließ sich machen! Wir wollten ›inkognito‹ in Langleide Weihnachten feiern. Warum nicht? Dagegen war nichts zu sagen.
August Böök war der völlige Gegensatz der Steppe und Matz, die immer Bedenken hatten. August Böök sagte stets: Ja – also! Die Steppe und Matz, und schließlich auch ich, wir sagten immer: Ja aber ... Darin war er Karla viel ähnlicher, und darum haben sich Karla und er auch immer ausgezeichnet verstanden, während für mich bald eine Zeit kommen sollte, in der ich ›all diese Vertraulichkeiten mit meinem Chauffeur Böök‹ bitter bereute ...
Aber in jener Nacht dachte ich über ›Vertraulichkeiten‹ vollkommen wohlwollend. Es wurde eine sehr angeregte Nacht, einen Haufen Aufträge bekam der August Böök. Es wurden ihm auch die Wunschzettel der Familie Schreyvogel ausgehändigt, und als er nach zwei Uhr morgens über das Schuppendach fort uns verließ (er hatte vor, im Wartesaal des Radebuscher Bahnhofs zu nächtigen), trug er nicht nur diese Wunschzettel, nicht nur den gesamten Barbestand der Familie Schreyvogel, sondern auch das Sparkassenbuch der Mücke bei sich.
Karla und ich, sie auf der Chaiselongue, ich auf einem Sessel nächtigend, waren so aufgekratzt wie schon lange nicht mehr: endlich hatten wir wieder einen Menschen, der zu uns paßte, dem wir vollkommen vertrauten, der nicht nach unserem Gelde gierig war!
August Böök, der Landstreicher in seinem schmierigen Sweater mit dem dicken Goldring im Ohr, war uns eine Oase in der Wüste, himmlisches Manna, unter Larven die einzig fühlende Brust.
Maxe, flüsterte Karla von ihrer Chaiselongue, nun wird bestimmt was aus unserem Weihnachtsfest!
Klar, Mensch! flüsterte ich zurück. August schmeißt den Laden schon! Da verlaß dich drauf!
Ich kam gar nicht auf den Gedanken, daß es viel hübscher gewesen wäre, wenn Karla sich auf mich hätte verlassen können.
*