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Ich habe viele Verwandte – Der Stuhl im Schnee – Erster Besuch bei Tante Fränzchen – Arme Mutter!
Wenn ich an diese erste schreckliche Zeit zurückdenke, an die Eingewöhnung als reicher Mann, so darf ich nicht die Verwandtschaft vergessen. Die Freunde wurden wir schnell los, aber Verwandte hatten wir plötzlich so viele, und sie waren überhaupt nicht loszuwerden.
Mein Sekretär Matz, ein ungewöhnlich ernster, dunkler junger Mann hatte aus seiner früheren Tätigkeit als Reisebegleiter einer Sängerin alle Erfahrung, Menschen abzuwimmeln, aber meiner Verwandtschaft gegenüber versagte er doch dann und wann.
Ich muß übrigens zur Ehre der Schreyvogels sagen, daß es nicht nur meine Verwandtschaft war. Auch Karlas ›Sippen und Magen‹, auch die Hammers, erschienen auf dem Plan, forderten ihren Teil an der Erbschaft und lieferten uns manches Gefecht. Karla und ich waren die immer mehr sich erregenden Stimmen in Herrn Matzens Zimmer schon so gewöhnt, daß wir gar nicht mehr nach der Ursache des Lärms fragten. Es waren Verwandte, ihre Onkel, meine Tanten, ihre Vettern, meine Basen – sie wollten uns sehen. Ihr Herz floß über vor Mitleid wegen des Verlustes, der uns betroffen. Sie mußten uns unbedingt die Hand drücken und Auge in Auge erklären, daß keiner so würdig gewesen sei wie wir, Onkel Eduards Erbschaft anzutreten.
Beharrte dann aber Herr Matz auf unserer Unnahbarkeit, so änderten sie sich rasch. Manche wurden sofort hitzig und sprachen sehr laut und sehr erregt von Erbschleicherei, dem Recht in deutschen Landen und geheimen Ränken mit dem Justitiar Steppe ...
Andere wurden wortkarg, warfen böse Blicke und gingen mit dunklen, gemurmelten Drohungen. In der Folge traf dann meist ein anonymer Brief ein, der mich oder Karla schlimmer Dinge beschuldigte ...
Viele schließlich erbaten ein Darlehen, schwankend zwischen hunderttausend und zehn Mark ...
Einer, merkwürdigerweise ein pensionierter älterer Beamter und begeisterter Bienenzüchter, versuchte es mit einem Sitzstreik. Er setzte sich in eine Ecke des Büros und erklärte, er werde nicht eher aufstehen, bis er zweitausend Mark bekommen habe. Als alles Zureden, Bitten und Drohen nichts half, wurde der alte Herr nachts um halb elf von Hausdiener und Portier in seinem Sessel aus dem Hotel getragen und auf die Straße gesetzt ...
Es war Dezember und schneite. Wir sahen ihn dort sitzen von unserem Fenster aus –, der Schnee legte sich auf ihn, das Herz tat uns wieder einmal weh. Als wir halb und halb entschlossen waren, ihn heraufzuholen, war er verschwunden ...
Unser Vetter Friedrich Karl Schreyvogel, der uns am frühen Morgen des ersten Erbtages überfallen hatte, war der einzige, der etwas von uns herausgeschlagen hatte: vierhundert Mark. (Wegen einer Stellung hat sich der Weise nie gemeldet oder ist nicht durch unsere Bewachung gedrungen!) Die anderen trieben Steppe und Matz alle aus – bis auf Tante Fränzchen.
Frau Franziska Holtfreter, geborene Schreyvogel, war jetzt, nach Onkel Eduards Tode, die Seniorin unserer Familie. Sie war seine richtige Kusine gewesen, ein Bruderkind. Seit ich denken konnte, hatte sie eine große Rolle unter den Schreyvogels gespielt: ihr längst verstorbener Mann war Regierungsrat gewesen und hatte ihr eine Pension hinterlassen – und das gilt viel unter den Schreyvögeln, die meist ihr Auskommen haben, aber nur ein kärgliches.
Ich erinnere mich gut, wie meine liebe verstorbene Mutter mich einmal zu einem Besuch bei Tante Fränzchen mitnahm. Wir verkehrten sonst nicht bei der Tante, meine Mutter hatte es sehr wichtig mit diesem Besuch: ich wurde dafür von der Straße hereingeholt und von oben bis unten in einer Wanne abgeschrubbt. Dann bekam ich vollständig frisches Zeug an.
Ich weiß noch, wie ich meiner guten Mutter diese Reinmacherei verleidete; ich war sehr ärgerlich, daß ich nicht weiter auf der Straße spielen konnte wegen so eines dummen Tantenbesuches – ich trotzte!
Aber das machte wenig Eindruck auf Mutter. Sie war viel zu bekümmert, um meinen Unmut wichtig zu nehmen. Damals verstand ich die Zusammenhänge noch nicht, heute weiß ich, daß wir in einer Geldklemme steckten, aus der uns Tante Fränzchen helfen sollte. Mein Vater hatte damals ein kleines Fuhrgeschäft, das nie recht ging: entweder, wenn es gerade etwas zu fahren gab, fiel ein Pferd, oder wir hatten keine Aufträge und mußten die Gäule als Tagediebe füttern.
Tante Fränzchen war in ganz Radebusch dafür bekannt, daß sie ›sehr genau‹ rechnete, was eine unnötig wohlwollende Umschreibung für ›stinkgeizig‹ war. Sie gab kaum ein Fünftel ihrer Pension für sich aus. Den Rest verlieh sie: auf Hypotheken, auf Schuldscheine, auf Wechsel. Jedoch meist nur in der Verwandtschaft, wo sie die Vertrauenswürdigkeit jedes einzelnen genau kannte, und immer gegen ungewöhnlich wucherische Zinsen. Sie spielte eigentlich mit ihren paar Kröten in der Familie eine viel wichtigere Rolle als der reiche Onkel Eduard: einmal als rettender Nothafen in finanziellen Stürmen, zum andern als mutmaßliche Erbtante. Denn sie wurde es nicht müde, geheimnisvolle, dunkle Andeutungen über ihr Testament mit einer Fülle von Legaten zu machen. Dadurch hielt sie mit der Hoffnung auch den Respekt in jenen Verwandten wach, die ihrer finanziellen Hilfe entraten konnten.
Als ich an jenem Tage genügend sauber schien, nahm meine Mutter mich bei der Hand, und wir machten uns auf den Weg zur Tante. Es hatte geregnet, und meine Mutter paßte sehr auf, daß mein Schuhwerk sauber blieb, aber die Aufmerksamkeit eines Kindes ist hartnäckiger als die von zehn Erwachsenen: kurz vor unserem Ziel gelang es mir, in eine große Pfütze zu treten und dort kräftig mit dem Fuße aufzustampfen.
Meine gute Mutter war ganz verzweifelt; von oben bis unten waren wir mit Hunderten von kleinen Spritzern besät.
O Gott, Max, was hast du getan –!
Mit der Grausamkeit der Kinder beobachtete ich die ratlose Verzweiflung meiner Mutter: würde ich meinen Willen durchsetzen und wieder zum Spiel zurück dürfen, oder würde ich diesen albernen Besuch doch machen müssen –?
Hätte Tante Fränzchen keinen Spion am Fenster gehabt, so würde ich sicher meinen Willen durchgesetzt haben. Aber so kam meine Mutter zu dem Entschluß, daß wir doch weiter zu gehen hätten.
Sie hat uns bestimmt schon gesehen. Sie sitzt immer an ihrem Spion. Komm, Max!
Wir gingen in einen Torweg, und dort versuchte Mutter, mit der Kante ihres Unterrocks die schlimmsten Spuren meiner Untat zu beseitigen. Sie schalt mich nie, sie machte mir nie einen Vorwurf. Damals habe ich mich oft darüber geärgert, in meinem Unverstand beneidete ich die Kinder, die von ihren Müttern ausgescholten wurden und Schläge bekamen. Ich empfand es gewissermaßen als eine Beleidigung, daß ich mit keiner meiner Unarten die Mutter aus ihrer stillen Fassung bringen konnte.
Nicht sehr viel später fing ich an zu begreifen, was für ein ergebener, demütiger, gütiger Mensch meine Mutter war. Sie hatte nie im Leben ein rechtes Glück gekannt, war nie aus der kleinen Not und Sorge um das tägliche Brot herausgekommen, und sie hatte im Zeitraum einer Woche meine drei Geschwister an Diphtherie sterben sehen – davon hatte sich ihr Mutterherz nie erholt. Immer zitterte sie um mich, den einzig ihr Verbliebenen, immer grübelte sie darüber, was sie wohl verfehlt haben könnte, um so harte Strafe verdient zu haben. (Daß sie sie verdient hatte, daran zweifelte sie nicht einen Augenblick.)
Nicht sehr viel später tat ich alles, was ich nur konnte, um meiner Mutter Freude zu machen. Es ist heute noch mein Glück, daß ich ihr – als kleiner Kontorist bei der Vira – das Leben etwas sorgloser und fröhlicher habe machen können. Karla hat mir dabei redlich geholfen. Mutter ist sehr glücklich gestorben, in den größten Schmerzen verließ sie der Gedanke nicht, daß sie nun bald ihre drei Kinder, die sie so lange entbehrt hatte, wiedersehen würde ...
Aber damals war ich noch ein gedankenloses Kind. Es freute mich in aller Heimlichkeit, daß Mutter, die mich wohl einigermaßen sauber bekommen hatte, bei sich den Schmutz im Gesicht eher breit gerieben hatte. Voller Spannung ging ich an ihrer Hand weiter und sah auf die Vorübergehenden, ob sie denn gar nicht merkten, wie unglaublich komisch meine Mutter aussah. Aber entweder waren sie zu eilig, groß auf uns zu achten, oder zu unbeholfen, Mutter ohne Kränkung auf diese Unsauberkeit aufmerksam zu machen: unangesprochen erreichten wir Tante Franziskas Haus.
Es war nur ein ganz kleines Haus, eingekeilt zwischen seinen großen Nachbarn, besaß es nicht mehr als zwei Zimmer und eine Küche. Es war so eingebaut, daß man von der Straße aus klingeln mußte. Man hatte auch auf der Straße zu warten, bis einem geöffnet wurde. Auf der Straße, im Strome der Vorübergehenden, mußte man durch den Türspalt ansagen, warum man kam.
Nachdem meine Mutter geklingelt hatte, hatten wir lange zu warten. Sie warf ängstliche, verstohlene Blicke auf den ›Spion‹, der nur wenige Meter entfernt von uns hing. Sie wußte, jetzt beobachtete die Tante uns in diesem Spion. Leider aber hing er so, daß wir uns nicht selbst darin sehen konnten, sonst hätte Mutter vielleicht noch ihr verschmutztes Gesicht entdeckt. So begnügte sie sich damit, mir die Haare aus der Stirn zu streichen und den Schal gefälliger zu binden.
Habe nur noch einen Augenblick Geduld, Max, bat sie mich, als ich anfing, hin und her zu hopsen. Gleich macht die Tante auf. Sei recht nett zu ihr ...
Arme Mutter! Du warst so stolz auf mich, du hieltest mich für ein so ungewöhnlich schönes Kind, daß du hofftest, ich würde das vertrocknete Herz der Tante rühren. Du ahntest nicht, daß gerade ich deine geringen Aussichten zu Schanden gemacht hatte!
Nachdem wir eine lange, lange Zeit vergebens gewartet hatten, wagte Mutter es, den Klingelknopf zaghaft zum zweiten Male zu berühren. Die Klingel schlug nur einmal schwach und kurz an. Darauf hörten wir innen eine Tür gehen, ein Schlurfen auf dem Gang, Mutter faßte meine Hand fester ... aber es geschah nichts. Sie sieht durch das Guckloch! flüsterte Mutter mir erregt zu.
Ich war noch zu klein, das Guckloch zu sehen, aber ich war groß genug, die spiegelblank geputzte Klappe für den Briefeinwurf zu erreichen. Ich faßte sie und ließ sie heftig klappern.
Bitte nicht, Max! sagte meine Mutter flehentlich.
Die Tür ging einen Spalt auf, gerade so weit, wie es die vorgelegte Kette erlaubte, und eine böse Stimme sagte: Lassen Sie Ihr dreckiges Balg nicht meine saubere Klappe anfassen! Machen Sie, daß Sie wegkommen! Hier wird nichts gegeben!
Man muß bedenken, wir standen auf der Straße, und Tante Franziska sprach nicht leise. Vorübergehende drehten sich um.
Meine scheue Mutter stand Qualen aus.
Tante Fränzchen! bat sie flehentlich.
Mich interessierte jetzt sehr der Spalt, aus dem die Stimme kam. Ich zerrte an meiner Mutter Hand und erhaschte wirklich einen Blick. Ich sah nur eine große Nase mit einer Brille darauf. Aber ich hatte genug! Die Hexe! flüsterte ich angstvoll und verkroch mich in den Röcken meiner Mutter.
Ich bin nicht Ihre Tante, ich kenne Sie gar nicht! hatte unterdes die böse Stimme gesagt.
Aber, Tante Fränzchen! Ich bin doch die Änne Schreyvogel, die Frau von Karl! Du kennst mich doch ...
Aber, Tante Fränzchen! Das ist doch unser Junge, der Max! Max, zeig dich mal der Tante!
Ich wurde gegen den Türritz geschoben, wehrte mich aber schreiend.
Solche ungezogenen Bälger gibt es in meiner Verwandtschaft nicht!
Wenn du uns nur hineinlassen würdest, Tante! Ich möchte dich nur einen Augenblick sprechen, nur einen ganz kleinen Augenblick, bitte, Tante!
Dich hereinlassen? In meine saubere Wohnung?! Und du in Dreck und Speck!
Aber ... meine Mutter sah ratlos an sich herunter. Sie hatte kein ganz reines Gewissen, vielleicht hatte sie doch einen Spritzer übersehen. Aber so sehr konnte doch sogar Tante Franziska nicht übertreiben, daß sie wegen eines Fleckchens von Dreck und Speck sprach!
Warten! sagte die Tante, und die Tür schloß sich wieder.
Habe ich was an mir? fragte meine Mutter. Max, sieh mich an! Bin ich irgendwo schmutzig –?
Aber ich hatte keine Zeit für Mutter. Jetzt, wo sich die Tür geschlossen hatte, revoltierte ich offen. Ich brüllte, ich wollte nach Haus. Ich wollte nicht zur Tante, dies war überhaupt keine Tante, dies war die Hexe von Hansel und Gretel –!
Ich schrie immer lauter. Die auf der Straße Vorübergehenden sahen sich amüsiert nach dem brüllenden Bengel um, und ihre Heiterkeit stieg noch, wenn sie die Frau mit dem verschmierten Gesicht sahen. Mutters Verlegenheit stieg unter diesen Blicken von Minute zu Minute. Sollte sie noch länger vor der Tür warten? Sollte sie es wagen, noch einmal auf die Klingel zu drücken? Vater hoffte so sehr auf das Geld!
Sie war noch unentschlossen, als die Tür sich wieder spaltbreit öffnete, und der Tante böse Stimme ›Hineinsehen!‹ befahl. Am Stiel wurde Mutter ein Toilettenspiegel hingehalten. Ehe sie noch hineingeschaut hatte, fing die böse Stimme an: So kommt ihr also zu mir! In Dreck und Speck! Und ihr denkt, ich gebe euch was? Wo ihr nicht mal Geld für Seife habt! Marsch weg! Sage dem Karl ...
Meine Mutter hatte nur schwach aufgeseufzt, als sie ihr verschmiertes Gesicht gesehen hatte. Sie protestierte nicht, sie nahm stets alle Lasten, die ihr das Leben auflud, widerspruchslos hin. Sie hatte auf der Stelle begriffen, daß die Tante uns kein Geld leihen würde.
Sie war sehr rot geworden, ich sah es unter allem Schmutz, dann hatte sie mich auf den Arm genommen. Und so lief sie, immer schneller, immer schneller, mich großen Bengel auf dem Arm, nach Hause. Sie machte nicht einmal halt, um mich abzusetzen oder sich zu säubern. Sie lief nur fort, in unser kleines, ärmliches Heim, das doch Sicherheit bot, Schutz vor Blicken und Worten der bösen Menschen!
Ich dummer Bengel fand diesen Lauf damals sehr amüsant. Wir liefen von der Hexe fort, meine Mutter trug mich, was sie schon lange nicht mehr getan, weil ich viel zu schwer für sie war; ich war hochzufrieden. Ich lachte und winkte, ich tat alles, um die Blicke der Vorübergehenden auf das Gesicht meiner Mutter zu lenken – oh, was für ein gräsiger Bengel bin ich damals doch gewesen!
Und doch ist vielleicht an jenem regnerischen Vormittag meine Mutter nicht ganz umsonst mit mir auf dem Arm durch die Stadt Radebusch gelaufen: als ich selbst Vater geworden war und mußte es am eigenen Leibe erfahren, wie lieblos einen manchmal die eigenen Kinder quälen und verletzen können, da habe ich an dich gedacht, Mutter, an deinen Lauf und an mich. Dann habe ich mich getröstet: es kommt noch anders. Kinderliebe braucht ihre Zeit, sie wächst erst viel später.
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